Nach § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG kann en Gericht zwar davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies – wie § 47 Abs. 2 OWiG – nach seinem Ermessen zulässt. Dabei darf auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt, aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden. Allerdings muss das (Amts)Gericht seine Auslagenentscheidung begründen. (Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG, Auslagen bei der Betroffenen
Der (ehemaligen) Betroffenen wurde mit Bescheid des Landratsamtes vom 4.10.2022 vorgeworfen, verkehrsordnungswidrig im eingeschränkten Halteverbot geparkt zu haben. Die Betroffene legte Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte die Einstellung des Bußgeldverfahrens. Ferner beantragte sie, ihre notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. In der Hauptverhandlung stellte das AG Kamenz das Verfahren mit Beschl. v. 3.4.2023 nach § 47 Abs. 2 OWiG ein. Die Kosten des Verfahrens legte es der Staatskasse auf. Das AG hat davon abgesehen, auch die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.
Anhörungsrüge erfolglos
Hiergegen hat die Betroffene Anhörungsrüge erhoben. Mit Beschl. v. 25.4.2023 hat das AG diese als unbegründet zurückgewiesen. Der Beschl. v. 3.4.2023 sei zwar ohne die Gewährung rechtlichen Gehörs ergangen. Dies sei durch die Anhörungsrüge aber nachgeholt worden. Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, sehe das Gericht nicht.
Verfassungsbeschwerde teilweise erfolgreich
Die Betroffene hat Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des AG Kamenz vom 3. und 25.4.2023. Die Verfassungsbeschwerde hatte teilweise Erfolg. Der VerfGH hat, soweit im Beschl. v. 3.4.2024 über die notwendigen Auslagen der Betroffenen entschieden worden ist, den Beschluss aufgehoben und die Sache an das AG Kamenz zurückverwiesen. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde verworfen
II. Entscheidung
Verfassungsbeschwerde gegen Zurückweisung der Anhörungsrüge
Soweit sich die Betroffene gegen den ihre Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts vom 25.4.2023 wende, fehle der Verfassungsbeschwerde allerdings das Rechtsschutzbedürfnis. Entscheidungen, mit denen Gerichte Anhörungsrügen zurückweisen, seien nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar, wenn sie keine eigenständige Beschwer schaffen, sondern allenfalls die bereits durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Grundrechtsverletzung durch unterbliebene fachgerichtliche „Selbstkorrektur“ fortbestehen lassen (SächsVerfGH, Beschl. v. 19.1.2023 – Vf. 138-IV-21; Beschl. v. 21.10.2022 – Vf. 46-IV-22; st. Rspr.; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 3.5.2021 – 2 BvR 1176/20; Beschl. v. 28.4.2021 – 2 BvR 1451/18). Vorliegend sei eine eigenständige Beschwer durch die Entscheidung des AG über die Anhörungsrüge weder dargetan noch ersichtlich.
Verfassungsbeschwerde gegen die Auslagenentscheidung
Im Übrigen sei die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Der angegriffene Beschluss des AG vom 3.4.2023 verletzt die Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Insbesondere habe die Betroffene den Rechtsweg im Sinne des § 27 Abs. 2 S. 1 SächsVerfGHG ordnungsgemäß erschöpft und die Einlegungsfrist (§ 29 Abs. 1 S. 1 SächsVerfGHG) gewahrt. Die von ihr erhobene Anhörungsrüge habe die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde offen halten können, weil sie nicht von vornherein aussichtslos gewesen sei (vgl. hierzu SächsVerfGH, Beschl. v. 30.8.2023 – Vf. 29-IV-23). Die Betroffene sei aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gehalten gewesen, gegen die nicht anfechtbare (§ 47 Abs. 2 S. 3 OWiG, § 464 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG) Entscheidung des AG vom 3.4.2023 Anhörungsrüge zu erheben. Das AG habe sie zu der auf § 47 Abs. 2 OWiG gestützten Einstellung des Verfahrens und insbesondere zu der beabsichtigten, sie belastenden Auslagenentscheidung nicht angehört. Das Gericht könne in einem solchen Fall im Verfahren nach § 33a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG seine an sich unanfechtbare Entscheidung über die Kosten und Auslagen prüfen und ändern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14; Beschl. v. 8.10.2001 – 2 BvR 1424/01; Bücherl in: BeckOK OWiG, Stand 1.4.2024, § 47 Rn 31).
Die Verfassungsbeschwerde sei auch nicht deshalb unzulässig, weil sie sich lediglich gegen eine Kostenentscheidung richte und nicht zugleich gegen die damit verbundene Entscheidung in der Hauptsache. Der geltend gemachte Verfassungsverstoß beziehe sich allein auf den Ausspruch über die Auslagen. In einem solchen Fall bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis für dessen verfassungsgerichtliche Überprüfung. Anderenfalls wäre der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz lückenhaft, denn der Betroffene hätte keine Möglichkeit, sich gegen eine selbstständig in einer Kostenentscheidung enthaltene Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte zur Wehr zu setzen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14; Beschl. v. 17.11.2009 – 1 BvR 1964/09; Beschl. v. 18.4.2006 – 1 BvR 2094/05).
Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde sei begründet. Das AG habe mit der angegriffenen Auslagenentscheidung gegen Art. 18 Abs. 1 SächsVerf in der Ausprägung als Verbot objektiver Willkür verstoßen, weil es ohne jede Begründung von dem durch das Gesetz bestimmten Regelfall abgewichen sei. Der aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf gewonnene materiell-verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab verlange mit Rücksicht auf die Bindung des Richters an Recht und Gesetz (Art. 36 SächsVerf) eine Begründung auch letztinstanzlicher Entscheidungen jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den Beteiligten bekannten und für sie ohne Weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt. In gleicher Weise sei eine Begründung erforderlich, wenn von einem in einer Norm bestimmten Regelfall abgewichen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14).
Grund für Abweichen nicht erkennbar
Nach diesen Maßstäben verletze die Auslagenentscheidung des AG die Betroffene in ihrem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf, denn es sei nicht erkennbar, weshalb das AG von einer Auslagenerstattung abgesehen habe, obwohl die Erstattung den gesetzlichen Regelfall darstelle. Gemäß § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG habe die nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens zu treffende Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen grundsätzlich dahingehend auszufallen, dass diese zu Lasten der Staatskasse gehen. Zwar könne oder müsse hiervon in einigen gesetzlich geregelten Fällen abgesehen werden (§ 109a Abs. 2 OWiG, § 467 Abs. 2 bis 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Entscheidung des AG über die notwendigen Auslagen lasse sich jedoch nicht einmal im Ansatz entnehmen, aus welchem Grunde diese der Betroffene auferlegt wurden. Weder gebe es Anhaltspunkte für eine Ermessensentscheidung nach § 109a Abs. 2 OWiG noch für eine schuldhafte Säumnis der Betroffenen (§ 467 Abs. 2 Satz 2 StPO) oder eine unwahre Selbstanzeige (§ 467 Abs. 3 Satz 1 StPO) bzw. wahrheitswidrige Selbstbelastung (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StPO). Da das AG das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG und nicht wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt habe, habe die Auslagenentscheidung auch nicht auf § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gestützt werden.
Ermessensentscheidung
Nach § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG könne ein Gericht zwar davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstelle, die dies – wie § 47 Abs. 2 OWiG – nach seinem Ermessen zulasse. Dabei dürfe auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt, aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.5.1990, BVerfGE 82, 106, 117). Allerdings habe das AG seine Auslagenentscheidung weder im Beschl. v. 3.4.2023 begründet noch die fehlende Begründung in seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge vom 25.4.2023 nachgeholt. Ungeachtet des von der Betroffene bestrittenen Vorwurfs und der durchgeführten Hauptverhandlung enthalte die angegriffene Entscheidung keine Hinweise auf die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO. Anders als in Fällen, in denen eine Begründung vorhanden sei und auf ihre Vertretbarkeit geprüft werden könne, könne Willkür im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung – hier gerichtet auf die Erstattung notwendiger Auslagen als dem gesetzlichen Regelfall – nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehle (vgl. BerlVerfGH, Beschl. v. 27.4.2022 – 130/20). Das Fehlen der Begründung einer gerichtlichen Entscheidung führe vorliegend dazu, dass ein Verfassungsverstoß nicht auszuschließen und die Entscheidung deshalb aufzuheben sei, weil erhebliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.10.2015 – 2 BvR 2436/14; Beschl. v. 12.3.2008 – 2 BvR 378/05; Beschl. v. 25.2.1993 – 2 BvR 251/93).
III. Bedeutung für die Praxis
Unverständnis über das Vorgehen des AG
Man reibt sich ein wenig verwundert die Augen und schüttelt den Kopf, wenn man es gelesen hat und fragt sich: Warum muss für eine solche Frage eigentlich ein Verfassungsgericht bemüht werden, das dann die richtige Entscheidung trifft und das AG „zwingt“, sich noch einmal mit den Fragen zu befassen. Das ist in meinen Augen Ressourcenverschleuderung auf hohem Niveau. Denn: Warum legt das AG nicht von vornherein nach Einstellung des Verfahrens die Auslagen der Staatskasse auf bzw. warum wird die getroffene andere Entscheidung nicht begründet? Wenn einem als Amtsrichter schon Ermessen eingeräumt wird und man dieses ausübt und vom Regelfall abweicht, dann muss man das begründen. Das ist ja nun auch nichts Neues, sondern sollte ein Amtsrichter wissen; die vom VerfGH zitierte Rechtsprechung zeigt anschaulich wie „alt“ die angesprochenen Fragen sind. Und weiter fragt man sich: Wenn man nun in der Hauptverhandlung die Begründung für die abweichende Entscheidung vergessen hat, was ja passieren kann, aber an sich nicht sollte, dass ist nicht nachzuvollziehen, warum man dann nicht auf die Anhörungsrüge hin den einfachen Weg zur Reparatur der lückenhaften Ausgangsentscheidung geht und die Begründung nachholt? Nein. man geht über diese „goldene Brücke“ nicht, sondern ist vielmehr noch so frech, dass man die Betroffene bescheidet, dass man Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, nicht sehe. Man ist ja Amtsrichter und über mir ist der „blaue Himmel“. Nein, gefehlt, das stimmt so, wie diese Entscheidung zeigt, nicht. Man muss sich in solchen Fällen dann nicht wundern, wenn man vom Verfassungsgericht mit wohlgesetzten Worten die Rechtslage – noch einmal (?) – erklärt bekommt. Man kann nur hoffen, dass es hilft und der Amtsrichter sich in zukünftigen Fällen an die mehr als deutlichen Vorgaben des VerfGH hält.
Auslagen
Verteidigern/Rechtsanwälten kann man nur raten, den Weg zum Verfassungsgericht nicht zu scheuen und in vergleichbaren Fällen Verfassungsbeschwerde zu erheben. Man wird ja auch nicht „umsonst“ tätig. Denn die notwendigen Auslagen werden im Zweifel der Staatskasse auferlegt (so auch hier nach § 16 Abs. 3 SächsVerfGHG). Abgerechnet wird nach § 37 RVG. Den dafür erforderlichen Gegenstandswert setzt das Verfassungsgereicht nach § 37 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 RVG fest. Hier ist der Gegenstandswert auf 8.000 EUR festgesetzt werden. Billig wird es für die Staatskasse also nicht.