Beitrag

Vorsatz bei der Geschwindigkeitsüberschreitung; Fahrverbot; Regelgeldbuße

1. Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % kann in der Regel von vorsätzlicher Tatbegehung des Betroffenen ausgegangen werden, wenn dieser die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte.

2. Erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung ist allein wegen der Verfahrensdauer die Herabsetzung eines mehrmonatigen Regelfahrverbots in Betracht zu ziehen, wenn sich der Betroffene in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat.

3. Solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene, nicht mehr geringfügige Regelgeldbuße verhängt wird, sind Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nicht zwingend geboten, solange sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese außergewöhnlich schlecht sind. (Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 10.7.2023201 ObOWi 621/23

I. Sachverhalt

Verurteilung wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung

Der Betroffene ist wegen einer am 25.7.2021 vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung – Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 99 km/h – zu einer Geldbuße in Höhe von 1.200 EUR verurteilt worden; außerdem hat das AG ein Fahrverbot von zwei Monaten festgesetzt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg, die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hatte hingegen Erfolg.

II. Entscheidung

Vorsatz

Das BayObLG hatte gegen die Verurteilung wegen vorsätzlichen Verhaltens keine rechtlichen Bedenken. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung handele vorsätzlich, wer die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und bewusst dagegen verstoßen habe. Der Grad der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit könne ein starkes Indiz für vorsätzliches Handeln sein, wobei es auf das Verhältnis zwischen der gefahrenen und der vorgeschriebenen Geschwindigkeit ankomme. In der obergerichtlichen Rechtsprechung sei anerkannt, dass bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % in der Regel von vorsätzlicher Begehungsweise ausgegangen werden kann, weil anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, der Fahrer zuverlässig einschätzen könne und dadurch erkenne, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreite. Nur bei niedrigeren Überschreitungen müssten weitere Indizien herangezogen werden, wie etwa das Vorliegen von mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang (KG, Beschl. v. 27.2.2023 – 122 Ss 16/233; OLG Hamm, Beschl. v. 5.12.2019 – 2 Rbs 267/19; OLG Zweibrücken DAR 2022, 401; OLG Celle NStZ-RR 2017, 388, jew. m.w.N.).

Der Betroffene habe nach den Urteilsfeststellungen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h, die durch das entsprechende Verkehrszeichen angeordnet war, gekannt. Er habe sie um 99 km/h und damit um 165 % überschritten. Der Senat könne es dahinstehen lassen, ob das AG den Vorsatz tragfähig mit der bloßen Erwägung begründet habe, dass ein ordnungsgemäß angebrachtes Verkehrsschild von einem Betroffenen typischerweise wahrgenommen werde. Selbst wenn der Betroffene die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht wahrgenommen hätte, hätte er die außerhalb geschlossener Ortschaften allgemein geltende Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h immer noch um 59 % überschritten, womit mangels anderweitiger Anhaltspunkte in Anbetracht der genannten Rechtsprechung ohne weiteres von vorsätzlichem Verhalten auszugehen sei.

Geldbuße und Fahrverbot

Die Ahndung mit einer Geldbuße von 1.200 EUR und einem Fahrverbot von zwei Monaten, entspreche der zum Tatzeitpunkt im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regelahndung bzw. bleibe hinsichtlich der Dauer des Fahrverbots sogar hinter dieser zurück. Hiervon zugunsten des Betroffenen Abstand zu nehmen, bestehe mangels diesbezüglicher Anhaltspunkte kein Anlass.

Verkürzung des Fahrverbotes nicht zu rechtfertigen

Allerdings halte die von der Staatsanwaltschaft angegriffene Verkürzung des gesetzlichen Regelfahrverbots durch das AG der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ebenso wie von der Verhängung eines Regelfahrverbots nur dann gänzlich abgesehen werden kann, wenn wesentliche Besonderheiten in der Tat oder in der Persönlichkeit des Betroffenen anzunehmen seien und deshalb der vom Bußgeldkatalog erfasste Normalfall nicht vorliege, sei der Tatrichter vor einer Verkürzung der im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regeldauer des Fahrverbots gehalten zu prüfen, ob der jeweilige Einzelfall Besonderheiten aufweise, die ausnahmsweise die Verkürzung rechtfertigen können und daneben eine angemessene Erhöhung der Regelbuße als ausreichend erscheinen lassen. Hier wie dort können dabei sowohl außergewöhnliche Härten als auch eine Vielzahl minderer Erschwernisse bzw. entlastender Umstände genügen, um eine Ausnahme zu rechtfertigen (st. Rspr. vgl. nur OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.2.2020 – [1B] 53 Ss-OWi 708/19; OLG Bamberg, Beschl. v. 2.7.2018 – 3 Ss OWi 754/18, Beschl. v. 4.5.2017 – 3 Ss OWi 550/17 und v. 18.3.2014 – 3 Ss OWi 274/14).

Lange Dauer

Neben – hier vom Amtsgericht nicht festgestellten (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 2.7.2018 – 3 Ss OWi 754/18, NStZ-RR 2018, 325) Fällen besonderer Härte wie zum Beispiel einem nicht oder nicht durch zumutbare Vorkehrungen abwendbaren Arbeitsplatz- oder Existenzverlust – komme ein Absehen vom Regelfahrverbot (und damit auch eine Abkürzung desselben) allerdings auch dann in Betracht, wenn die Tat lange zurückliegt, die für eine lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegen und der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat. Die obergerichtliche Rechtsprechung stelle den Sinn des Fahrverbotes nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung in Frage, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt (BayObLG DAR 2023, 223; OLG Hamm, Beschl. v. 17.1.2023 – 5 RBs 331/22; OLG Brandenburg, Beschl. v. 8.7.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 241/22; OLG Zweibrücken zfs 2019, 173; OLG Bamberg DAR 2008, 651, 652). Sei – wie hier – ein mehrmonatiges Fahrverbot verhängt, werde einer langen Verfahrensdauer im Regelfall nicht durch einen gänzlichen Wegfall des Fahrverbots, sondern nur durch eine angemessene Herabsetzung seiner Dauer Rechnung zu tragen sein (OLG Zweibrücken, a.a.O.; BayObLG, Beschl. v. 19.2.2004 – 1 ObOWi 40/04). Maßgeblich sei insoweit der Zeitraum zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung, da der Tatrichter den sich anschließenden Zeitraum bis zur Rechtskraft der Entscheidung nicht berücksichtigen könne und das Rechtsbeschwerdegericht lediglich zur Prüfung berufen sei, ob das Urteil des Tatrichters Rechtsfehler aufweise. Auch könne das Rechtsbeschwerdegericht auf der Grundlage der bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil nur für den Zeitraum bis zur letzten tatrichterlichen Verhandlung prüfen, ob der Betroffene vor oder nach der abgeurteilten Tat noch in anderer Weise straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten sei (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 24.9.2012 – 2 Ss OWi 1086/12; OLG Hamm DAR 2012, 340 f.; DAR 2011, 409).

AG-Erwägungen nicht rechtsbedenkenfrei

Auf der Grundlage hat das BayObLG die Erwägungen des AG beanstandet. Zum einen habe zwischen der Tatzeit und der Aburteilung durch das AG ein Zeitraum von weniger als 1 Jahr 6 Monaten und damit deutlich weniger als der Zeitraum, ab welchem ein Absehen von der Verhängung bzw. eine Verkürzung des Fahrverbots in Betracht zu ziehen sei. Das AG übersehe, dass auch eine Verkürzung der Fahrverbotsdauer in Anbetracht der Vorwertung des Verordnungsgebers überhaupt erst dann in Betracht komme, wenn wegen des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil der Sinn des Fahrverbots infrage gestellt sei. Zum anderen hat das Amtsgericht verkannt, dass der Betroffene ausweislich seiner eigenen Feststellungen einerseits wegen eines am 3.10.2021 begangenen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne ausreichende Profil- und Einschnittstiefe (Datum der Rechtskraft: 30.11.2021) und andererseits wegen eines am 17.12.2021 begangenen Rotlichtverstoßes (Datum der Rechtskraft: 28.1.2022) ins Fahreignungsregister eingetragen worden sei. Die Wertung des AG, der Betroffene sei nicht einschlägig wegen Geschwindigkeitsverstößen vorgeahndet, zu kurz. Bei der Frage, ob die Länge des Fahrverbots ihren Sinn verloren hat, hätte der Rotlichtverstoß 5 Monate nach dem verfahrensgegenständlichen Vorfall berücksichtigt werden müssen.

III. Bedeutung für die Praxis

Entspricht der herrschenden Meinung

1. Die Entscheidung entspricht der h.M. der OLG zu den vom BayObLG angesprochen Fragen.

Eigene Entscheidung des Senats…

2. Das BayObLG hat in der selbst abschließend entschieden auf eine Geldbuße in Höhe von 1.200 EUR und ein (Regel)Fahrverbot von 3 Monaten erkannt. Besondere Härten hinsichtlich der Anordnung und der Dauer des Fahrverbots seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

… trotz fehlender Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen

Der Umstand, dass das AG keine Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen getroffen hatte, stand nach Auffassung des Senats der eigenen Entscheidung nicht entgegen. Solche seien entbehrlich, solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene Regelgeldbuße verhängt werde und sich, wie hier, keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen außergewöhnlich gut oder schlecht seien (KG, Beschl. v. 26.1.2022 – 3 Ws [B] 1/22; OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.10.2015 – 1 Ss [OWi] 156/17; OLG Celle DAR 2015, 101 m.w.N.; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.5.2023 – 1 Ss [OWi] 8/23; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.5.2022 – 1 OWi 2 Ss Bs 89/21; vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 17.10.2019 – 202 ObOWi 948/19). Dies gelte auch dann, wenn, wie hier, auf den für eine vorsätzliche Begehungsweise nach § 3 Abs. 4a BKatV vorgesehenen Regelsatz erkannt werde (OLG Hamm, Beschl. v. 12.8.2021 – 4 RBs 217/21; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.11.2017 – 1 OWi 2 Ss Bs 87/17). Auch in dieser Frage hält sich das BayObLG im Rahmen der insoweit strengen Rechtsprechung der OLG. Alles andere hätte beim BayObLG auch erstaunt.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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