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VRRKompakt 2023_12

Wiederaufnahme des Strafverfahrens: Neue Tatsachen und Beweise

Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22

Wiederbeschaffungswert: Großkundenrabatt

Bei der Ermittlung eines Wiederbeschaffungswertes eines Kraftfahrzeuges sind etwaige Großkundenrabatte beim Kauf von Neufahrzeugen nicht anspruchsmindernd zu berücksichtigen.

OLG Köln, Urt. v. 27.10.2023 – 6 U 31723

Haftungsverteilung: Kollision zwischen Pkw und 12-jährigem Rad fahrenden Kind auf einem Fußgängerüberweg

Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei gemäß § 10 S. 1 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt. Auch gegenüber Kindern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Fahrer eines Pkw muss besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise gemäß § 3 Abs. 2a StVO nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefährdung führen können, und das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war. Ein Fahrzeugführer muss auch bei Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absicht merklich anzuzeigen, auf dem Fahrrad fahrend den Fußgängerüberweg überquert. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 S. 1 StVO tritt die Betriebsgefahr des Kfz unter Berücksichtigung des Alters des geschädigten Kindes einerseits sowie der deutlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Unfallgeschehen andererseits, auch angesichts der weiteren Gesamtumstände des Unfallgeschehens, nicht zurück (hier: Betriebsgefahr mit 1/3 berücksichtigt).

OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023 – 14 U 157/22

Unfallschadenregulierung: Werkstattrisiko

Die einem Geschädigten in Rechnung gestellten Kosten für Probefahrten, Fahrzeugreinigung und Desinfektion unterfallen dem Werkstattrisiko und sind vom Schädiger im Rahmen des Schadensersatzes auszugleichen. Ob ein Fahrzeug als Selbstfahrermietfahrzeug zugelassen ist, ist schadensersatzrechtlich unbeachtlich, Mietwagenkosten sind nach dem Normaltarif auszugleichen.

AG Zeven, Urt. v. 26.10.2023 – 3 C 104/23

Beweissicherungsverfahren: Wegfall des Kostenbeschlusses

Ein Kostenbeschluss nach § 494a Abs. 2. ZPO fällt weg, wenn im späteren Hauptsacheverfahren eine davon abweichende Kostengrundentscheidung – auch die Kosten des selbstständigen Beweisverfahrens betreffend – getroffen wird. Die aufgrund des Beschlusses nach § 494a Abs. ZPO festgesetzten und gezahlten Kosten sind bei geänderter Kostengrundentscheidung zurückzuerstatten.

OLG Hamm, Beschl. v. 28.9.2023 – 25 W 234/23

Kraftfahrzeugrennen: Gefährdungsvorsatz

Die Voraussetzungen des (bedingten) Gefährdungsvorsatz i.S. des von § 315d Abs. 2 StGB sind gegeben, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage zumindest abfindet.

BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – 4 StR 132/23

Fluchtfahrt: Einheitliche Tat

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bilden alle Gesetzesverletzungen, die der Täter im Verlauf einer einzigen, ununterbrochenen Fluchtfahrt begeht, eine Tat im Sinne des § 52 StGB.

BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – 4 StR 98/23

Strafzumessungsgründe: Unbestraftheit

Die Unbestraftheit des Angeklagten ist ein gewichtiger Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), dessen Berücksichtigung es regelmäßig bedarf.

BGH, Beschl. v. 27.9.2023 – 4 StR 211/23

Rettungsgasse: Autobahnähnlich ausgebaute innerörtliche Straße

Es überschreitet die Grenzen zulässiger Auslegung, entgegen dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse auf einer autobahnähnlich ausgebauten innerörtlichen Straße anzunehmen.

BayObLG, Beschl. v. 26.9.2023 – 201 ObOWi 971/23

Fahrverbot: Absehen von Fahrverbot bei Trunkenheitsfahrt

Ein Absehen vom gesetzlichen Regelfahrverbot nach den §§ 24a Abs. 1 (i.V.m. Abs. 3), 25 Abs. 1 Satz 2 StVG i.V.m. § 4 Abs. 3 BKatV kann nur in einem Härtefall ganz außergewöhnlicher Art in Betracht kommen, oder dann, wenn wegen besonderer Umstände äußerer oder innerer Art das Tatgeschehen ausnahmsweise derart aus dem Rahmen einer typischen Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG herausfällt, dass die Anordnung des Regelfahrverbots als offensichtlich unpassend anzusehen wäre. Die Indizwirkung des Regelbeispiels nach den §§ 25 Abs. 1 Satz 2, 24a StVG wird nicht allein dadurch entkräftet, dass bei einer nur wenige Minuten andauernden Alkoholfahrt eine Wegstrecke von lediglich 200 m zurückgelegt wurde. Dies gilt erst recht, wenn der Atemluftgrenzwert nach § 24a Abs. 1 StVG von 0,25 mg/l nicht nur geringfügig überschritten, sondern die Alkoholkonzentration nahe zum Grenzwert der (absoluten) Fahruntüchtigkeit i.S.v. § 316 Abs. 1 StGB lag.

BayObLG, Beschl. v. 28.9.2023 – 202 ObOWi 780/23

Entbindungsantrag: Ermessen

Die Entbindung des Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG ist nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt, sondern dieses ist verpflichtet, dem Entbindungsantrag zu entsprechen, wenn feststeht, dass von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ein Beitrag zur Sachaufklärung nicht erwartet werden kann.

OLG Hamm, Beschl. v. 8.3.2023 – 2 Orbs 22/23 u. v. 31.8.2023 – 2 ORbs 79/23

Kostenträchtiger Beweiserhebungen: Rechtliches Gehör

Dem Betroffenen ist im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren. Die Nichtgewährung ist daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge hat.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.10.2023 – 4 Ws 368/23

Kosten der Verurteilung: Anwendung der Differenzmethode

Hat der Verurteilte aufgrund der Kostengrundentscheidung aus dem ihm verurteilenden Urteil die Kosten des Verfahrens nur insoweit zu tragen, soweit er verurteilt wurde, sind die im Zusammenhang mit dieser Verurteilung entstandenen Kosten hat nach der sog. Differenzmethode zu ermitteln.

LG Halle, Beschl. v. 10.8.2023 – 16 KLs 540 Js 17049/21 (16/21)

Besorgnis der Befangenheit: Augenscheinseinnahme ohne Verteidiger

Nimmt der Richter, ohne den Betroffenen und seinen Verteidiger zu informieren, im Bußgeldverfahren unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verteidigers die Messörtlichkeit in Augenschein und führt dort die Vernehmung/Befragung von Zeugen des Verfahrens durch, kann das beim Betroffenen zur Besorgnis der Befangenheit führen.

AG Schwerin, Beschl. v. 25.10.2023 – 35 OWi 295/23

Akteneinsicht: Bedienungsanleitung

Die Verwaltungsbehörde ist verpflichtet, dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen eine Kopie der Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgerätes durch Übersendung in Papierform oder in elektronischer Form in die Kanzleiräume des Verfahrensbevollmächtigten zur Verfügung zu stellen.

AG Andernach, Beschl. v. 31.10.2023 – 2i OWi 198/22

Adhäsionsverfahren: Gegenstandswert im Rechtsmittelverfahren

Der Gegenstandswert von Adhäsionsanträgen bestimmt sich nach dem wirtschaftlichen Interesse der Antragsteller, insbesondere nach den in den Anträgen genannten Beträgen Im Rechtsmittelverfahren ist gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 RVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG der Antrag des Rechtsmittelführers maßgeblich, wobei der Wert durch denjenigen des Streitgegenstands im ersten Rechtszug beschränkt ist. Es mindert den Gebührenwert im Übrigen nicht, wenn nur über den Grund des Anspruchs entschieden worden ist.

BGH, Beschl. v. 16.10.2023 – 6 StR 198/22

Beschränkte Bestellung: Rückwirkung

Die in der Ausnahmevorschrift des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG fingierte vergütungsrechtliche Rückwirkung der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Strafverfahren greift dann nicht, wenn in dem gerichtlichen Beiordnungsbeschluss ausdrücklich eine abweichende Bestimmung der zeitlichen Geltung der Beiordnung getroffen worden ist.

AG Rheine, Beschl. v. 26.10.2023 – 11 Ls 73 Js 603/23 (47/23)

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