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Verwertbarkeit des verlesenen Messprotokolls

1. Unabhängig von einem in § 77a Abs. 1, 2 und 4 OWiG geregelten Zustimmungserfordernis kann das Messprotokoll auf Anordnung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesen werden.

2. Denn das Messprotokoll ist eine Urkunde i.S.v. § 256 Abs. 1 StPO, weil sie eine Erklärung über eine amtlich festgestellte Tatsache einer Ermittlungsmaßnahme ist und keine Vernehmung zum Gegenstand hat.

3. Das Messprotokoll gibt im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch Auskunft über repressives Handeln der Polizei. Denn die Geschwindigkeitsüberwachung dient auch der Verfolgung und Ahndung von Geschwindigkeitsverstößen. (Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschl. v. 15.3.20233 ORbs 20/23

I. Sachverhalt

Messprotokoll verlesen

Das AG hat gegen den Betroffenen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. In der Hauptverhandlung wurde das Messprotokoll verlesen. Ein Beweisantrag auf Vernehmung des Messbeamten wurde nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt. Die Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.

II. Entscheidung

Messprotokoll als verlesbare Urkunde

Das Tatgericht habe rechtsfehlerfrei den Schuldspruch auf den Inhalt des verlesenen Messprotokolls gestützt. Die Verteidigung dringe mit der Verfahrensrüge nicht durch, die Verlesung des Messprotokolls verstieße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach § 250 StPO, weil die Verlesung nach §§ 77a Abs. 1 OWiG als die Vernehmung des Messbeamten ersetzende Beweiserhebung zustimmungspflichtig gewesen sei und er als anwesender Verteidiger habe dem nicht zugestimmt. Denn es handele sich um eine zustimmungsunabhängige Beweiserhebung nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Danach können in einer Urkunde enthaltene Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungsmaßnahmen, soweit es keine Vernehmung zum Gegenstand haben, verlesen werden. Das Messprotokoll sei eine Erklärung über eine amtlich festgestellte Tatsache einer Ermittlungsmaßnahme und sie habe keine Vernehmung zum Gegenstand, mithin sei es eine Urkunde i.S.v. § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO. (OLG Koblenz NZV 2021, 201 m. Anm. Krenberger; OLG Frankfurt/M NStZ-RR 2020, 44 zu § 348 StGB; OLG Celle NZV 2017, 491 = VRR 9/2017, 16 [Deutscher]; OLG Hamm zfs 2014, 651 m. Anm. Krenberger = VRR 2014, 477 [Deutscher]). Es gebe Auskunft über die Verkehrssituation an dem konkreten Messstandort, den ordnungsgemäßen Aufbau des Messgerätes und den ordnungsgemäßen Betrieb des Messgerätes, dessen Verwendung entsprechend seiner PTB-Zulassung während der Messung (OLG Frankfurt/M. a.a.O.) und den eingestellten Grenzwert. Die Verlesung habe nicht auf § 77a Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 OWiG gestützt werden müssen und sei daher auch zustimmungspflichtig gewesen, denn das Zustimmungserfordernis gelte nur, wenn es um Erklärungen geht, die nicht schon unter § 256 StPO fallen,

Messprotokoll dient auch repressiven Zwecken

Der Einwand der Verteidigung, dass Messprotokoll sei als eine präventive und nicht wie es aber § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfordere als eine repressive Ermittlungsmaßnahme ausweisende Urkunde zu qualifizieren, weil es nur Auskunft über „eine ordnungsgemäße Messvorbereitung“ durch das ordnungsgemäße Aufstellen, das Durchführung des notwendigen Gerätetests und der Einhaltung der Bedienungsanleitung gäbe, gehe fehl. Nach der Zuständigkeitsregelung in § 26 Abs. 1 StVG werde die Polizei als selbstständige Verwaltungsbehörde i.S.v. § 35 OWiG bei der Verfolgung und Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten nach § 24 Abs. 1 StVG tätig. Ihre Beamten hätten im Bußgeldverfahren, soweit das OWiG nichts anderes bestimmt, dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten (§ 46 Abs. 2 OWiG) und seien damit Ermittlungsorgane. Im Rahmen der hoheitlichen Verkehrsüberwachung zähle zu ihren Aufgaben u.a. die Durchführung von Messungen zur Verkehrskontrolle. Dabei habe sich die Geschwindigkeitsüberwachung als eine effektive und notwendige Maßnahme erwiesen, um Fehlverhalten im Verkehr aufzudecken. Zwar diene sie präventiv auch der Verhinderung von Verkehrsunfällen, aber sie habe zugleich die Aufgabe, „Temposünder“ beweissicher festzustellen sowie den Verstoß gegen die Bußgeldbestimmung zu verfolgen und zu ahnden. Dazu sei das Messgerät im Vorfeld so einzustellen, dass derjenige, der mit höherer Geschwindigkeit als den programmierten Grenzwert fährt, von dem Messgerät erfasst wird. Mit dieser Programmierung habe die Polizei eine konkret-individuelle Ermittlungsentscheidung getroffen mit der Folge, dass gegen jeden, der den programmierten Messwert des eingesetzten Geschwindigkeitsmessgerätes überschreitet, ein „Anfangsverdacht“ i.S.v. § 152 StPO wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit besteht. Mit der Annahme des Anfangsverdachts Ordnungswidrigkeit finde als Verfahrensrecht die StPO im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung. Gemessen an diesem Maßstab handele der mit der verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung befasste Messbeamte bei der Verfolgung der durch die Betroffene begangene Ordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit repressiv. Das Messprotokoll habe u.a. den Zweck, eine ordnungsgemäße Messvorbereitung im Einzelfall beweissicher zu dokumentieren. Demnach habe es der gerichtlichen Überprüfung der Ordnungsgemäßheit des repressiven Handelns der Polizei gedient.

III. Bedeutung für die Praxis

Durchgängige Ansicht

Das KG bekräftigt die durchgängige Ansicht, dass Messprotokolle gem. §§ 71 Abs. 1 Satz 1 OWiG, 256 Abs. Nr. 5 StPO über § 77a OWiG hinaus und damit zustimmungsfrei verlesen werden können (neben der zitierten Rechtsprechung Göhler/SeitzBauer, OWiG 18. Aufl. 2021, § 77a Rn 3). Daran ändert auch die Gemengelage aus repressiven und präventiven Zwecken von Geschwindigkeitsmessungen nichts. Wenn sich allerdings im Einzelfall entscheidungserhebliche Unklarheiten aus dem Messprotokoll ergeben, kann die gerichtliche Aufklärungspflicht die Vernehmung des Messbeamten erforderlich machen (OLG Hamm NZV 1993, 492).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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