Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO („rechts vor links“) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt. (Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Verkehrsunfall auf Baumarktparkplatz
Auf einem Baumarktplatz kam es zu einem Verkehrsunfall. Dort sind im Kreuzungsbereich von zwei Fahrgassen zwei Kraftfahrzeuge kollidiert. Die Fahrer hatten sich wegen eines parkenden Sattelzuges nicht rechtzeitig sehen können. Der Kläger kam von rechts und war der Auffassung, dass er deshalb nicht für den Schaden hafte.
AG und LG: § 8 StVO gilt nicht
AG und LG sind unter Anwendung von § 17 Abs. 1 und 2 von einer Haftungsquote von 70 zu 30 zugunsten des Klägers ausgegangen Fahrers ausgegangen. Dabei haben sie aber keinen Verstoß gegen § 8 StVO angenommen, sondern haben dem Beklagten eine zu hohe Geschwindigkeit in der einer unübersichtlichen Situation zur Last gelegt.
II. Entscheidung
BGH sieht das auch so
Der BGH bestätigt das und meint ebenfalls, dass es auf die Vorfahrtsregelung des § 8 StVO nicht ankommt. Er stellt die beiden unterschiedlichen Auffassungen in dieser (Streit)Frage vor:
Herrschende Meinung
Nach überwiegender Meinung gelte die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf einem öffentlichen Parkplatzgelände – unmittelbar oder in entsprechender Anwendung – nur dann, wenn die dort aufeinanderstoßenden Fahrspuren einen eindeutigen Straßencharakter aufweisen. Ansonsten müssen sich die Kraftfahrer über die Vorfahrt verständigen (vgl. etwa OLG Frankfurt am Main NJW-RR 2022, 1194; OLG Hamm r+s 1994, 52; OLG Oldenburg VersR 1983, 1043; OLG Düsseldorf DAR 2000, 175; OLG München r+s 2020, 476; KG MDR 2018, 1435; OLG Köln VRS 48, 453, 454; OLG Koblenz VRS 48, 133, 134; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 8 StVO Rn 31a m.w.N.). Ob einer Fahrspur Straßencharakter zukomme, werde dabei danach beurteilt, ob die baulichen Verhältnisse für den Verkehrsteilnehmer vertraute typische Straßenmerkmale erkennen lassen, wobei Unterschiede in der Gewichtung einzelner baulicher Merkmale, wie etwa Fahrbahnmarkierungen, Fahrspurbreite oder Asphaltierung bestehen (vgl. dazu näher Siegel, NJW 2019, 2502, 2503). In der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung rückt dabei die Bedeutung der für den Verkehrsteilnehmer erkennbaren Funktion der Fahrspuren in den Vordergrund, wobei der Straßencharakter verneint wird, wenn die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zumindest auch zweckbestimmend ist (vgl. OLG Frankfurt, NJW-RR 2022, 1194 Rn 22; OLG München, r+s 2020, 476 Rn 6; entsprechender Schwerpunkt in der Literatur bei Siegel, NJW 2019, 2502, 2504; Freymann, DAR 2018, 242, 245).
Abweichende Ansichten
Nach anderer Ansicht sei die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ auf öffentlichen Parkplätzen weitgehend unabhängig vom Straßencharakter der aufeinander zulaufenden Fahrspuren direkt oder entsprechend anwendbar (vgl. OLG Nürnberg NJW-RR 2014, 1308, 1309; OLG Celle, Urt. v. 8.8.2006 – 14 U 36/06; OLG Hamm, VRS 47, 455, 456; ebenso OLG Nürnberg, Urt. v. 29.4.1977 – 1 U 175/76). Schließlich werde vertreten, die Wertung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO sei auf öffentlichen Parkplätzen stets im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen (vgl. OLG Düsseldorf VersR 2017, 1100, 1101; OLG Saarbrücken NJW 1974, 1099, 1100; für Tankstellengelände OLG Köln NZV 1994, 438, 439).
Ansicht des BGH
Der BGH ist der Auffassung, dass § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung finde, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt. Dies ergibt sich für ihn aus dem Regelungsgegenstand und dem Zweck der Vorschrift. Zwar sei die StVO grundsätzlich auch auf privaten Parkplätzen anwendbar, wenn diese, was hier der Fall war, für die Allgemeinheit zugänglich gemacht worden seien. Eine Anwendung der „Rechts-vor-links“-Regelung des § 8 StVO – ob unmittelbar oder mittelbar über die allgemeine Rücksichtnahmepflicht des § 1 Abs. 2 StVO – komme aber nicht in Betracht, da es sich bei den Fahrgassen auf dem Baumarktparkplatz nicht um eine „Kreuzung“ handele. Eine Kreuzung liege nur vor, wenn „zwei Straßen“ sich schnitten. Eine Straße wiederum sei eine Fahrbahn, die dem fließenden Verkehr diene – also einem Verkehr, bei dem es den Teilnehmern auf ein möglichst ungehindertes Vorwärtskommen, auf ein zügiges Zurücklegen einer Strecke ankomme. Und dieser erforderliche eindeutige Straßencharakter fehle hier, so die Karlsruher Richter. Typischerweise seien die Parkplatzflächen – wie hier vor dem Baumarkt – vor allem zum Rangieren und zum Be- und Entladen da. Auch seien Leute zu Fuß unterwegs, was einer zügigen Fahrweise entgegenstehe. Strenge Vorfahrtsregeln seien hier nicht erforderlich.
III. Bedeutung für die Praxis
Streit entschieden
1. Mit dieser Entscheidung ist der o.a. Streit im Sinn der herrschenden Meinung entschieden. danach kommt es darauf an. Nach den vom BGH aufgestellten Grundsätzen ist bei der erforderlichen Haftungsabwägung im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG für die Haftungsverteilung i.d.R. wohl ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO zu verneinen, wenn vom der vom „Vorfahrtsberechtigten“ genutzten Fahrspur kein Straßencharakter zukam. Dazu sind entsprechende Feststellungen zu treffen. Hier war es so, dass Berufungsgerichts festgestellt hatte, dass der Kläger im Kollisionszeitpunkt „nur“ eine sich lediglich durch die Markierungen der Parkflächen ergebende Gasse befuhr, die ausschließlich der Parkplatzsuche und dem Rangieren diente.
Vorfahrtsregel gilt nicht
2. Der BGH weist ausdrücklich darauf hin, dass im Zweifel viele Autofahrer trotz der Entscheidung auch in Zukunft davon ausgehen würden, dass auch auf Parkplätzen „rechts vor links“ als eingeschliffene Regel gelte. Als Kraftfahrer müsse man daher immer damit rechnen, dass sich der von rechts kommende Kraftfahrer – irrig – für vorfahrtberechtigt hält. Das ist/war aber für den BGH kein Grund, den von rechts Kommenden zu privilegieren. Der müsse vielmehr seinerseits darauf achten, dass auf Parkplätzen die Vorfahrtsregel grundsätzlich eben nicht gilt.