1. Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die nach Ausspruch einer Kündigung des Arbeitnehmers ausgestellt worden sind, kann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach Ausspruch der Kündigung erkrankt und nach den Gesamtumständen des zu würdigenden Einzelfalls Indizien vorliegen, die Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen. Solche Zweifel können bestehen, wenn eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken.
2. Ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können auch dann bestehen, wenn bei einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers die Bescheinigung zeitlich erst nach Zugang der Kündigung – etwa am nächsten Arbeitstag – dem Arbeitgeber vorgelegt wird.
3. Der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegt nur dasjenige Parteivorbringen, das aus dem Berufungsurteil oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist. Tatsächliche Feststellungen, die in den Entscheidungsgründen wiedergegeben sind, werden dem Tatbestand zugerechnet. Widersprechen sich die tatbestandlichen Feststellungen und in Bezug genommene Schriftsätze, geht der Tatbestand vor.
4. Eine Unrichtigkeit tatsächlicher Feststellungen durch das LAG bindet das Revisionsgericht und kann nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht und behoben werden.
[Amtliche Leitsätze]
I. Der Fall
Streit um Entgeltfortzahlung
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlungsansprüche. Der Kläger war seit Januar 2020 als Dozent bei der Beklagten beschäftigt. An einem Freitag, dem 29.4.2022, übergab der Kläger nach Dienstschluss dem Geschäftsführer der Beklagten sein Kündigungsschreiben zum 31.5.2022. Am selben Tag suchte die direkte Vorgesetze des Klägers diesen zuhause auf und forderte ihn zur Rückgabe überlassener Gegenstände auf. Der Kläger kam der Aufforderung nach.
Krankmeldungen
Am kommenden Montag, dem 2.5.2022 nahm der Kläger seine Arbeitsleistung nicht auf, sondern ließ sich von seiner Hausärztin eine Arbeitsunfähigkeit vom 2.–13.5.2022 attestieren. Die Hausärztin des Klägers stellte im Anschluss hieran am 13.5.2022 eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 31.5.2022 aus (Folgebescheinigung). Am 1.6.2022 nahm der Kläger sodann eine neue Tätigkeit bei einem Konkurrenzunternehmen der Beklagten auf.
Einbehalt von Lohnzahlungen
Die Beklagte behielt den Lohn für den Monat Mai 2022 ein. Nachdem die Beklagte auch nach nochmaliger Aufforderung des Klägers den Lohn für Mai weitereinbehielt, erhob der Kläger Klage vor dem Arbeitsgericht Schwerin.
Vortrag während des Verfahrens
Im Laufe des Verfahrens trug der Kläger vor, dass die Aussage seiner Vorgesetzten am 29.4.2022 („Bereite dich am Montag schon auf einen Spießrutenlauf vor.“) bei ihm Ängste und Depressionen mit körperlichen Symptomen (Schlafstörungen, Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall, Kurzatmigkeit) ausgelöst habe, weshalb er am Montag, dem 31.5.2022, seine Hausärztin aufsuchte. Ein vorgelegtes Attest der Hausärztin des Klägers attestierte dem Kläger ein Erschöpfungssyndrom.
Verfahrensgang
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt und verurteilte die Beklagte somit zur Entgeltfortzahlung für den streitgegenständlichen Zeitraum (ArbG Schwerin, Urt. v. 14.12.2022 – 4 Ca 679/22). Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 15.8.2023 – 5 Sa 12/23).
II. Die Entscheidung
Erschüttern des Beweiswertes durch die Beklagte
Das BAG hielt die Revision hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten zur Entgeltfortzahlung für den streitgegenständlichen Zeitraum für begründet. Grund hierfür war, dass das BAG, die Annahme des LAG Mecklenburg-Vorpommern, der Beweiswert der vom Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 2.5.2022 und vom 13.5.2022 sei durch den Vortrag der Beklagten nicht erschüttert worden, für rechtsfehlerhaft hielt.
zeitliche Koinzidenz
Ein Grund, warum das BAG den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für erschüttert hielt, war die zeitliche Koinzidenz zwischen den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und der Kündigungsfrist. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Kündigungsfrist, welche den Beweiswert erschüttern könne, sei auch dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zeitgleich übergebe. Ausreichend sei vielmehr, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und die Kündigung in einem engen zeitlichen Zusammenhang einreiche. Unerheblich sei es insofern, dass zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wie hier, ein ohnehin arbeitsfreies Wochenende liege.
Verstöße gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie
Darüber hinaus habe das LAG nicht ausreichend berücksichtigt, dass bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 13.5.2022 ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vorläge. Entgegen § 5 Abs. 4 S. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 13.5.2022 eine Arbeitsunfähigkeit über die Zweiwochenfrist hinaus bescheinigt. Auch dies könne den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern.
Gesamtschau der Umstände
Im Rahmen einer gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände, sei auch ein Verhalten des Klägers nach Ausspruch der Kündigung zu berücksichtigen. Gegen eine Arbeitsunfähigkeit spräche unter Umständen, dass der Arbeitnehmer während der Arbeitsunfähigkeit Teiltätigkeiten der vertraglich geschuldeten Tätigkeit erbringe (hier führte der Kläger Telefongespräche, um Kunden abzuwerben).
III. Der Praxistipp
Fortführung der bisherigen Rechtsprechung
Das vorliegende Urteil des 5. Senates des BAG bestätigt seine Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die im Anschluss an eine Kündigung ausgestellt werden. Zum einen kann nach der Rechtsprechung des BAG der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein, wenn Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vorliegen (vgl. bereits BAG, Urt. v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23; BAG Urt. v. 28.6.2023 – 5 AZR 335/22). Zum anderen kann eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern (vgl. bereits BAG, Urt. v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21). In diesem Zusammenhang stellt das BAG „neu“ fest, dass eine zeitliche Koinzidenz nicht nur anzunehmen ist, wenn Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem Arbeitgeber zeitgleich, d.h. am selben Tag, zugehen, sondern eine zeitliche Koinzidenz auch vorläge, wenn zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein enger zeitlicher Zusammenhang läge.
Verweis auf Rechtsprechung: Einheit des Verhinderungsfalls
Für den engen zeitlichen Zusammenhang in Bezug auf die zeitliche Koinzidenz verweist das BAG auf seine Rechtsprechung zur Einheit des Verhinderungsfalls (vgl. BAG, Urt. v. 11.12.2019 – 5 AZR 505/18). Nach dieser besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang, wenn die bescheinigten Arbeitsverhinderungen unmittelbar aufeinanderfolgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt. Ob der Senat damit ausdrücken will, dass im Gegensatz hierzu jede Arbeitsleistung zwischen dem Tag des Zugangs der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeit die zeitliche Koinzidenz entfallen lässt, bleibt fraglich (vgl. zur Einheit des Verhinderungsfalls: BAG, Urt. v. 11.12.2019 – 5 AZR 505/18).
Vgl. zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch Infobrief Arbeitsrecht 06/2024.
Sophie Esser, Rechtsanwältin, Köln, esser@michelspmks.de