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Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen

Ebenso wenig wie ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG bei entschuldigtem Ausbleiben ergehen darf, darf in Abwesenheit des Betroffenen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn er teilnehmen will und ihm ein Erscheinen unmöglich oder unzumutbar ist und er deshalb Terminsverlegung beantragt hat.

(Leitsatz des Verfassers)

KG, Beschl. v. 17.3.20223 Ws (B) 37/22

I. Sachverhalt

Entbindung von der Anwesenheitspflicht…

Nach Einspruch des Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid hat das AG für den 21.9.2022 Hauptverhandlungstermin anberaumt, zu dem der Betroffene und sein Verteidiger erschienen waren. Während der Hauptverhandlung ist der Betroffene durch Beschluss des AG auf seinen Antrag von der (weiteren) Anwesenheit in der Hauptverhandlung entbunden worden. In deren weiteren Verlauf wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und für den 30.9.2021 Termin zur Fortsetzung anberaumt.

… will dann aber doch teilnehmen

Bei Wiederaufruf der Sache erklärte der Verteidiger dem AG, der Betroffene wolle nun doch zur Hauptverhandlung erscheinen und sich zum Sachverhalt persönlich äußern, sei daran jedoch wegen einer akuten Erkrankung gehindert.

… ist aber erkrankt

Nach einer kurzen Unterbrechung der Hauptverhandlung hat der Verteidiger dem Gericht ein am 30.9.2021 von einer Fachärztin für Allgemeinmedizin erstelltes Attest überreicht. Zugleich hat der Verteidiger den Antrag gestellt, die Hauptverhandlung auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, da der erkrankte Betroffene an der Hauptverhandlung teilnehmen wolle. Daraufhin hat das AG unter Verweis auf § 74 Abs. 1 OWiG, das Verfahren in Abwesenheit des Betroffenen fortgesetzt und den Betroffenen zu einer Geldbuße verurteilt. Der dagegen gerichtete Zulassungsantrag und die Rechtsbeschwerde hatten Erfolg.

II. Entscheidung

Versagung des rechtlichen Gehörs

Das KG hat die Rechtsbeschwerde gem. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zugelassen, weil es geboten sei, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben. Die Rüge sei begründet. Zwar sei der Vortrag des Betroffenen, er sei akut erkrankt gewesen, für sich genommen ohne Aussagekraft. Hinzu trete jedoch, dass die von der Ärztin mitgeteilte Diagnose akute spastische Bronchitis einen durch die internationale Krankheitsklassifizierung unter ICD-10 J.20 erfassten Krankheitszustand beschreibe, der regelmäßig mit erschwerter Atmung, Kurzatmigkeit, krampfartigem Husten und in der Folge schneller Erschöpfung einhergeht. Bei etwa 90 % der Fälle ist die Bronchitis viralen Ursprungs, weswegen erhöhte Ansteckungsgefahr bestehe (vgl. Helmholtz Munich in https://www.lundeninformationsdienstde/krankheiten/virale-infekte/akute-und-chronische-bronchitishrundlauen/indeatml). Hinzu trete, dass der Betroffene nach der – auch zur Zeit des Fortsetzungstermins gültigen – Verfügung des Präsidenten des AG i.V.m. mit § 12 Abs. 2 der vierten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Landes Berlin – vorbehaltlich abweichender sitzungspolizeilicher Anordnungen nach § 176 GVG oder sonstiger verfahrensleitender Maßnahmen des Vorsitzenden – verpflichtet gewesen sei, im Gerichtsgebäude eine geeignete medizinische Schutzmaske zu tragen, was ihm das Atmen zusätzlich erschwert hätte. Bei einer derartigen Erkrankung sei es dem Betroffenen deshalb nicht zuzumuten gewesen, zum Fortsetzungstermin zu erscheinen. Das AG hätte folglich ohne ihn nicht weiterverhandeln dürfen, sondern wäre stattdessen verpflichtet gewesen, die Hauptverhandlung zumindest (erneut) zu unterbrechen, Dass es dies nicht getan, sondern gleichwohl in Abwesenheit des Betroffenen in der Sache weiterverhandelt hat, erweise sich als Verletzung des dem Betroffenen zustehenden Anwesenheitsrechts und seines damit verknüpften Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

Die Entscheidung ist zutreffend.

Konkludenter Verzicht auf Entbindung würde nichts ändern

1. Das KG weist noch auf Folgendes hin: Man wäre zu keinem anderen Ergebnis gekommen, wenn man in dem Vortrag des Verteidigers, der Betroffene wolle nun doch an der Hauptverhandlung teilnehmen, den Erklärungswert eines konkludenten Verzichts auf die Entbindung vom persönlichen Erscheinen beimesse (so Göhler/Seitz/Bauer a.a.O.; § 74 Rn 19). Denn auch dann wäre dem Gericht die Befugnis zur Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG genommen. Das Tatgericht muss nämlich in Fällen der Rücknahme des Entbindungsantrags den Entbindungsbeschluss aufheben und ohne (weitere) Verhandlung zur Sache ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs, 2 OWG erlassen (zur Anwendbarkeit von § 74 Abs. 2 OWiG auf Fortsetzungstermine vgl. u.a. KG DAR 2017, 714 = VA 2021, 123; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.8.2020 – 6 Kart 10/19 (OWi)).

Anforderungen an den Vortrag zur Zulässigkeit der Rüge

2. Das KG hat zudem umfassend zur Zulässigkeit der Rüge, die sich nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO beurteilt, Stellung genommen. In vergleichbaren Fällen muss die Begründung der Rüge Angaben dazu enthalten, dass der Betroffene in einer anberaumten Hauptverhandlung nicht anwesend war, das Gericht aber gleichwohl zur Sache verhandelt hat, obwohl der vorn Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundene Betroffene dem Gericht seinen Willen, an dieser teilzunehmen, mitgeteilt hat. Daneben muss der Betroffene mitteilen, aufgrund welcher konkreten Tatsachen, die dem Gericht bekannt waren oder zumindest hätten bekannt sein müssen, es für ihn unzumutbar oder unmöglich war, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sowie ob und gegebenenfalls wie er sich in der versäumten Hauptverhandlung verteidigt hätte. Macht der vom persönlichen Erscheinen entbundene Betroffene geltend, er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sind vorn Betroffenen die jedenfalls nach allgemeinem Sprachgebrauch zu benennende Art der Erkrankung, die konkrete Symptomatik und die daraus zur Terminszeit resultierenden. konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen vorzutragen. Des Weiteren muss der Betroffene bei dieser Rüge vortragen, ob das Tatgericht vom Entschuldigungsgrund Kenntnis hatte oder hätte haben müssen oder das Vorbringen rechtsfehlerhaft bewertet hat. Nur wenn die eine dieser Möglichkeiten belegenden tatsächlichen Umstände dargelegt sind, kann nämlich das Rechtsbeschwerdegericht beurteilen, ob das Fernbleiben des Betroffenen unverschuldet war.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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