Die Rechtsprechung zu Verkehrsstraftaten spielt in der Praxis des Strafverteidigers eine erhebliche Rolle. Sie muss er kennen, wenn er dem Mandanten sachgerecht helfen will. Daher haben wir in der nachfolgenden Übersicht die Rechtsprechung der letzten Jahre aus dem Bereich zusammengestellt.
I.„Raser-Rechtsprechung“ des BGH
Der BGH hat in der letzten Zeit in einigen Entscheidungen zum (bedingten) Tötungsvorsatz und in dem Zusammenhang mit der Bedeutung der Eigengefährdung bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr Stellung genommen (grundlegend BGHSt 63, 88). Danach kann bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafürsprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut. Dementsprechend muss sich der Tatrichter beim Vorliegen einer solchen Konstellation einzelfallbezogen damit auseinandersetzen, ob und in welchem Umfang aus Sicht des Täters aufgrund seines Verhaltens eine Gefahr (auch) für seine eigene körperliche Integrität drohte (BGH, a.a.O.; vgl. a. noch NStZ 2018, 460 = VRR 5/2018, 14; DAR 2018, 380 = StV 2018, 426). Die Bewertung der Eigengefährdung durch den Täter kann abhängig von seinem Vorstellungsbild über mögliche Tathergänge abgestuft sein; so kann er bei Fassen des Tatentschlusses einen bestimmten gefahrbegründenden Sachverhalt hinnehmen, während er auf das Ausbleiben eines anderen, für ihn mit einem höheren Risiko verbundenen Geschehensablaufs vertraut (BGH StRR 8/2020, 21 = VRR 8/2020, 19). Für die Prüfung, ob ein Unfallgeschehen mit tödlichen Folgen vom bedingten Vorsatz des Täters umfasst war, kommt es daher darauf an, ob er den konkreten Geschehensablauf als möglich erkannt und die damit einhergehende Eigengefahr hingenommen hat. Ist dies der Fall und verwirklicht sich dieses Geschehen, ist es für die Prüfung der Vorsatzfrage unerheblich, ob er weitere Geschehensabläufe, die aus seiner Sicht mit einer höheren und deshalb von ihm nicht gebilligten Eigengefahr verbunden waren, ebenfalls für möglich erachtet hat (BGH, a.a.O.). Der BGH (BGHSt 63, 88) weist darauf hin, dass es einen Erfahrungssatz, nach dem sich ein bestimmter Typ Autofahrer in einer bestimmten Art von Kfz grds. sicher fühlt und jegliches Risiko für die eigene Unversehrtheit ausblendet, nicht gibt (zur Strafaussetzung zur Bewährung BGH NJW 2017, 3011 = StRR 8/2017, 18 = VRR 9/2017, 13).
II.Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB)
1. Tatbestand
Im Verkehrsstrafrecht spielt insbesondere auch beim unerlaubten Entfernen vom Unfallort die Frage eine Rolle, ob der Unfallort zum öffentlichen Verkehrsbereich zählt(e) und damit der Tatbestand des § 142 StGB überhaupt vorliegen konnte. Mit der Frage hat sich dann auch noch einmal das OLG Oldenburg befasst (OLG Oldenburg, Beschl. v. 4.6.2018 – 1 Ss 83/18, zfs 2018, 532 = VRR 10/2018, 12 = StRR 12/2018, 23). Gegenstand des Verfahrens war eine Kollision in einer Waschstraße. Das OLG Oldenburg (a.a.O.) hat „öffentlichen Straßenverkehr“ bejaht. Steht die Benutzung der mit einer Tankstelle verbundenen automatischen Autowaschanlage jedermann gegen Entgelt frei, gehöre der vom Kunden zu befahrende Bereich der Anlage zum Verkehrsgrund i.S.d. Straßenverkehrsrechts. Dies gelte nicht nur für die Zu- und Ausfahrt, sondern auch für den Bereich der eigentlichen Waschanlage. Maßgeblich sei insoweit nur, ob das Fahrzeug noch aus eigener Kraft und nicht lediglich mit den zur Anlage gehörenden Vorrichtungen bewegt wird. Für ein durch ein massives Eisengitter gesichertes Betriebsgelände einer Spedition ist die Eigenschaft: „öffentlicher Verkehrsraum“ hingegen verneint worden, auch wenn das Gelände tagsüber nicht durch Schranken oder Tore begrenzt ist (AG Nürtingen, Urt. v. 29.10.2018 – 11 Cs 71 Js 20096/18, VRR 12/2018, 2 [Ls.] = VA 2019, 48). Auch führt die gelegentliche Nutzung einer Parkfläche durch Unbefugte auch bei Duldung durch den Berechtigten nicht zu deren Öffentlichkeit. Auch das Fehlen von Absperrmaßnahmen rechtfertigt nicht eine solche Annahme, wenn die Fläche deutlich von öffentlichen Wegen abgegrenzt ist. So hat das OLG Zweibrücken in einem Beschl. v. 11.11.2019 (1 OLG 2 Ss 77/19, DAR 2020, 153 = VRR 5/2020, 6 = StRR 7/2020, 29) entschieden (vgl. auch noch zur privaten Stichstraße mit Garagenhof AG Dortmund, Urt. v. 2.4.2019 – 729 OWi – 254 Js 281/19 – 63/19, NZV 2019, 650).
Hinweis:
Es ist dringend zu empfehlen, den subjektiven Tatbestand auch im Hinblick auf dieses Tatbestandsmerkmal näher/sorgfältig zu prüfen. Denn für die Annahme einer Unfallflucht reicht es nicht aus, wenn der der Angeklagte ggf. (lediglich) erkannt hat, dass die Parkfläche für jedermann faktisch zugänglich gewesen war. Vielmehr muss er auch Art und Umfang der tatsächlichen Nutzung des Parkplatzes durch unberechtigte Dritte in seinen Vorsatz aufgenommen haben.
Ist es für die Erfüllung des Tatbestands des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB von Bedeutung, in welcher Reihenfolge sich die Unfallbeteiligten und feststellungsberechtigten Personen vom Unfallort entfernen? Diese Frage hat der BGH in seinem Beschl. v. 11.4.2018 (4 StR 583/17, NJW 2018, 2341 = VRR 7/2018, 3 [Ls.]) verneint. Der Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB sei vielmehr auch dann erfüllt, wenn der Täter den Unfallort erst nach der letzten feststellungsberechtigten Person verlässt, sofern er zuvor seine Vorstellungspflicht verletzt hat. Das begründet der BGH (a.a.O.) insbesondere mit dem Wortlaut der Vorschrift (ebenso OLG Hamm NJW 1979, 438; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 142 Rn 31a m.w.N): Der Wortlaut des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB setze nicht voraus, dass der Feststellungsberechtigte noch am Unfallort anwesend ist, wenn sich der Täter von dort entfernt. Die Vorschrift setze eine Verletzung der Vorstellungsplicht voraus, zu der – faktisch – ein Sich-Entfernen hinzukommen müsse. Hierfür sei es jedoch ohne Bedeutung, in welcher Reihenfolge die Unfallbeteiligten den Unfallort verlassen und ob der Täter im Zeitpunkt seines Sich-Entfernens die Pflicht noch gegenüber einer anwesenden Person hätte erfüllen können. Zudem folgt diese Sicht der Vorschrift nach Auffassung des BGH aus ihrer Entstehungsgeschichte, aus systematischen Erwägungen sowie aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift.
Das AG Tiergarten hat sich mit der Frage befasst, inwieweit der Mieter eines Kraftfahrzeugs gegenüber dem Vermieter der sich aus § 142 StGB ergebenden Feststellungspflicht unterliegt (vgl. Beschl. v. 21.3.2018 – 297 Gs 47/18, zfs 2018, 587 = NStZ-RR 2018, 224). Besonderheit des Falles war, dass es sich um ein „Car-Sharing“-Fahrzeug gehandelt hat. Das AG Tiergarten (a.a.O.) hat die Feststellungspflicht bejaht. Das AG sieht einen Unterschied zu den Fällen der klassischen Autovermietung, in denen der Vermieter das Fahrzeug mangelfrei an den Mieter übergibt und bei jeder Rückgabe kontrolliert, ob das Fahrzeug mangelfrei zurückgegeben wird. Die Fälle des „Carsharing“ würden sich davon jedoch in dem entscheidendem Punkt unterscheiden, dass hier gerade keine Kontrolle des Zustandes des Fahrzeugs bei dessen Rückgabe stattfinde, denn das Fahrzeug werde nach Ende der Nutzung durch den Mieter irgendwo stehengelassen und dort irgendwann von einem späteren Mieter übernommen, ohne dass irgendwelche Zustandskontrollen durch den Vermieter stattfinden. In derartigen Fällen sei die Zuordnung eines (irgendwann) festgestellten Schadens zu einem bestimmten Mieter dem Vermieter nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten möglich. Aus diesem Grund erstreckt sich der Schutzbereich des § 142 StGB jedenfalls in Fällen des „Carsharing“ auch auf den Vermieter des Fahrzeugs.
Eine Strafbarkeit wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) scheidet nach Auffassung des LG Saarbrücken nicht allein deshalb aus, weil der Geschädigte aus plausiblen Gründen auf eine Unfallaufnahme durch die Polizei besteht und er seinerseits gegenüber dem warteunwilligen und sodann flüchtenden Fahrer keinen eigenen Versuch unternimmt, dessen Personalien zu erfragen (Beschl. v. 10.4.2018 – 8 Qs 5/18, VRR 9/2018, 13 = NZV 2018, 436 = VA 2018, 215).
Hinweis:
Das LG hat seine Entscheidung umfangreich begründet. Das führt zu dem Hinweis, dass man sich als Verteidiger gut überlegen und abwägen sollte, ob es Sinn macht, gegen einen § 111a StPO-Beschluss Rechtsmittel einzulegen. Denn nicht selten erhält man eine Entscheidung, die sowohl tatsächlich als auch rechtlich „Fakten“ für das amtsgerichtliche Verfahren und damit ein „Präjudiz“ schafft.
2. Rechtsfolgen
In subjektiver Hinsicht ist es für die Annahme eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ausreichend, wenn der Täter die objektiven Umstände erkennen konnte, die einen bedeutenden Sachschaden begründen. Seine auf dieser Grundlage vorgenommene Betragskalkulation ist demgegenüber, unabhängig von seinen persönlichen Kenntnissen, unmaßgeblich (LG Heilbronn DAR 2017, 648).
Die Frage, wann ein bedeutender Schaden i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist in der Rechtsprechung immer noch – zumindest teilweise – im Fluss. Teilweise wird die Grenze erst ab einem Betrag von 2.500,00 EUR (netto) gezogen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.11.18 – 5 Qs 73/18, StRR 1/2019, 4 [Ls.] = VRR 2/2019, 2 [Ls.] = VA aktuell 2019, 53). Dazu hat das BayObLG ausgeführt, dass bei einer Schadenssumme von 1.903,89 EUR netto jedenfalls von einem bedeutenden Schaden auszugehen ist, sodass ein Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis vorliege (BayObLG, Beschl. v. 17.12.2019 – 204 StRR 1940/19, DAR 2020, 268, VRR 4/2020, 1 = StRR 4/2020, 28). Das BayObLG (a.a.O.) hat aber leider nicht zu der in der Rechtsprechung umstrittenen Frage, wo denn nun die Grenze für einen bedeutenden Fremdschaden zu ziehen ist, Stellung genommen.
Für die Regelentziehung nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB dürfte es allerdings h.M. sein, dass von einer Wertgrenze von (nur) 1.500 EUR auszugehen ist (vgl. dazu u.a. LG Dortmund, Beschl. v. 29.3.2019 – 32 Qs 35/19, VA 2019, 144; LG Dresden, Beschl. v. 7.5.2019 – 3 Qs 29/19, StRR 7/2019, 3 [Ls.] = VRR 7/2019, 2 [Ls.]; LG Offenburg, Beschl. v. 19.6.2017 – 3 Qs 31/17; LG Wuppertal VA 2017, 28; vgl. aber LG Berlin VRS 135, 266 [immer noch 1.300 EUR]). Die Frage hat auch im o.a. Beschluss des OLG Oldenburg (1 Ss 83/18, zfs 2018, 532 = VRR 10/2018, 12 = StRR 12/2018, 23) eine Rolle gespielt. Dort hatte der Angeklagte eingewandt, das AG habe zu Unrecht das Vorliegen eines bedeutenden Schadens i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB bejaht. Das OLG ist darauf nicht im Einzelnen eingegangen. Es hat lediglich ausgeführt, dass „ein bedeutender Schaden i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB entstanden ist.“, ohne sich konkret mit der Schadenshöhe – nach den Feststellungen „etwa 1.600 EUR“ – auseinanderzusetzen. Auch das AG Stuttgart war in Anlehnung an eine Entscheidung des LG Braunschweig vom 3.6.2016 (VRR 7/2016, 2 [Ls.] = StRR 7/2016, 3 [Ls.]) für den Zeitraum ab Mai 2017 von einer Wertgrenze von 1.600 EUR ausgegangen (VA 2018, 85). Das hat das OLG Stuttgart (Urt. v. 27.4.2018 – 2 Rv 33 Ss 959/17, VRR 8/2018, 11 = StRR 7/2018, 3) nicht mitgetragen. Soweit sich das AG zur Bestimmung des bedeutenden Schadens an dem jährlich vom Statistischen Bundesamt berechneten und veröffentlichten Verbraucherindex orientiere, könne dies ein Anhaltspunkt sein, um die Bestimmung vorzunehmen. Dies könne jedoch nicht allein ausschlaggebend sein, da ansonsten die Wertgrenze des bedeutenden Schadens jährlich oder in sogar noch kürzeren Zeiträumen jeweils neu festgesetzt werden müsste. Es verbiete sich daher eine schematische Anwendung. Zur konkreten Höhe der Wertgrenze hat das OLG dann allerdings nicht Stellung bezogen.
Für die Berechnung kommt es nicht auf den Brutto-, sondern auf den Netto-Reparaturkostenbetrag an (LG Aachen VA 2018, 85; vgl. auch noch AG Linz DAR 2018, 41).
III.Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB)
Täter i.S.v. § 315b Abs. 1 StGB kann jeder – auch der Beifahrer – sein, der das tatbestandsmäßige Geschehen i.S.d. § 315b Abs. 1 Nr. 1–3 StGB beherrscht. Dies gilt auch im Fall des sog. verkehrsfremden Inneneingriffs (OLG Hamm DAR 2017, 391 = VRR 4/2017, 14).
Die für einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr i.S.v. § 315b Abs. 1 StGB erforderliche Tathandlung muss über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation geführt haben, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (OLG Hamm DAR 2017, 391 = VRR 4/2017, 14; vgl. a. OLG Koblenz, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 OLG 6 Ss 138/17, VRR 6/2018, 2 [Ls.] = StRR 6/2018, 3 [Ls.]). Wegen ungenügender Aussagekraft reichen zur Feststellung wertende Begriffe wie z.B. „Notbremsung“, „Vollbremsung“ oder „scharfes Abbremsen“ nicht aus (OLG Koblenz a.a.O.). Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz eines Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde. Gibt der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz aus seinem fahrenden Fahrzeug einen Schuss mit einer halbautomatischen Selbstladepistole auf den Fahrer eines im Tatzeitpunkt neben ihm befindlichen Fahrzeugs ab, liegt kein gefährlicher Eingriff i.S.d. § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB vor, da der Schaden ausschließlich auf der durch den Pistolenschuss freigesetzten Dynamik der auftreffenden Projektile beruht (BGH StraFo 2017, 474 = NZV 2018, 42).
IV.Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB)
Rücksichtslos i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB handelt, wer sich zwar seiner Pflichten als Verkehrsteilnehmer bewusst ist, sich aber aus eigensüchtigen Gründen darüber hinwegsetzt, oder wer sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten besinnt, Hemmungen gegen seine Fahrweise gar nicht erst aufkommen lässt und unbekümmert um die Folgen seiner Fahrweise drauflosfährt. In subjektiver Hinsicht darf die Rücksichtslosigkeit des Täters nicht allein aus dem äußeren Tatgeschehen geschlossen werden. Bedeutung gewinnen können der Grad der objektiven Verkehrswidrigkeit, vorangehendes oder nachfolgendes Verhalten des Täters und der Ausschluss entlastender subjektiver Faktoren, wie ein mögliches Augenblicksversagen, Schreck, Eile aus nachvollziehbaren Gründen (OLG Koblenz, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 OLG 6 Ss 138/17, VRR 6/2018, 2 [Ls.] = StRR 6/2018, 3 [Ls.]).
Die Problematik des „falschen Überholens“ i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB hat in einem vom OLG Oldenburg entschiedenen Fall eine Rolle gespielt (vgl. Beschl. v. 29.10.2018 – 1 Ss 173/18, zfs 2019, 113 = VRR 3/2019, 16 = StRR 6/2019, 20). Das OLG weist darauf hin, dass die Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB nicht auf Überholvorgänge i.S.d. StVO – den tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten – beschränkt. Ein Überholen sei auch gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen, über Ein- oder Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm VRS 32, 449). Dagegen fehle es an einem Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf der Bundesautobahn (vgl. zu allem BGHSt 61, 249 m.w.N.). Verneint hat das OLG Oldenburg (a.a.O.) allerdings die vom BGH (a.a.O.) bislang offen gelassene Frage, ob ein Überholen nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB auch dann vorliegt, wenn das Vorbeifahren nicht auf der von dem anderen Fahrzeug benutzten Fahrbahn seinen Ausgang nimmt (so auch Kubiciel in seiner Anmerkung zur Entscheidung des BGH in jurisPR-StrafR 23/2016 Anm. 1).
Rücksichtslosigkeit bei einem Überholvorgang (§ 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB) liegt nicht vor, wenn der Angeklagte aufgrund eines Augenblickversagens fälschlich von einem Streckenverlauf ausgegangen ist, der ein gefahrloses Überholen ermöglicht hätte, so das OLG Stuttgart (Beschl. v. 8.8.2017 –3 Rv 25 Ss 606/17, NZV 2017, 494 = StRR 12/2017, 16 = VRR 12/2017, 11). Das begründet das OLG u.a. damit, dass der Gesetzgeber die Strafbarkeit in § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB auf solche Verkehrsverstöße eingegrenzt habe, die sowohl objektiv als auch subjektiv aus der Masse der im Straßenverkehr begangenen Zuwiderhandlungen herausragen. Das Merkmal der Rücksichtslosigkeit verlange daher eine üble Verkehrsgesinnung, eine geradezu unverständliche Nachlässigkeit (OLG Braunschweig VRS 30, 286). Eine lediglich auf menschlichem Versagen beruhende falsche Beurteilung der Verkehrslage genüge hingegen nicht. Eine Vorfahrtsverletzung i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB begeht allerdings auch, wer bei Rotlicht in eine Kreuzung einfährt und dadurch den bevorrechtigten Querverkehr beeinträchtigt (BGH, Beschl. v. 15.3.2018 – 4 StR 469/17, StV 2018, 431 = VRR 6/2018, 11).
Hinweis:
Dass der Gefahrenerfolg nur gelegentlich der Tathandlung des § 315c Abs. 1 StGB eintritt, reicht für die Annahme einer Straßenverkehrsgefährdung nicht aus (BGH a.a.O.).
In seinem Beschl. v. 10.4.2019 (4 StR 86/19) hat der 4. Strafsenat des BGH noch einmal zu der Frage Stellung genommen, wie im Urteil bei einer Straßenverkehrsgefährdung die Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert festgestellt werden kann/muss. Es seien stets zwei Prüfschritte erforderlich, zu denen im Strafurteil entsprechende Feststellungen zu treffen sind: Zunächst sei zu fragen, ob es sich bei der gefährdeten Sache um eine solche von bedeutendem Wert gehandelt hat, was etwa bei älteren oder bereits vorgeschädigten Fahrzeugen fraglich sein könne. Handele es sich um eine Sache von bedeutendem Wert, so sei in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob ihr auch ein bedeutender Schaden gedroht habe, wobei ein tatsächlich entstandener Schaden geringer sein könne als der allein maßgebliche Gefährdungsschaden. Der Wert der Sache sei hierbei nach dem Verkehrswert und die Höhe des (drohenden) Schadens nach der am Marktwert zu messenden Wertminderung zu berechnen (vgl. Ernemann in SSW-StGB, 4. Aufl., § 315c Rn 25 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BGH, wie z.B. BGH NStZ 2011, 215 = VRR 2011, 70 = StRR 2011, 112 = VA 2011, 47). [Fortsetzung in Heft 6/2021].
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg