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Keine Ausnahme vom Verhüllungsverbot beim Tragen eines Niqab

1. Das in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungs- und -verdeckungsverbot soll die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Der Vorschrift kommt (auch) eine präventive Funktion zu. Mit dieser Zielrichtung dient die Vorschrift der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.

2. Durch die den Straßenverkehrsbehörden in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung soll besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten.

3. Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO von dem in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO geregelten Verbot ist nicht bereits deshalb auf Null reduziert, weil ein religiös begründetes Bedürfnis nach einer Verhüllung des Gesichts besteht (hier: Gesichtsschleier in Form eines Niqabs).

(Leitsätze des Gerichts)

OVG Münster, Beschl. v. 20.5.2021 – 8 B 1967/20

I. Sachverhalt

Die Antragstellerin beantragte, ihr eine Ausnahme gem. § 46 Abs. 2 StVO vom Verhüllungsverbot des § 23 Abs. 4 StVO zum Tragen des „Niqab“ (Nikab) beim Führen eines Kfz. Den zugleich mit der Klage gegen den ablehnenden Bescheid gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das VG Düsseldorf abgelehnt (VRR 4/2021, 21 [Deutscher]). Die Beschwerde blieb erfolglos.

II. Entscheidung

Das OVG hat sich der Beurteilung des VG a.a.O. angeschlossen. In der Rechtsprechung des BVerfG sei geklärt, dass sich Einschränkungen der Religionsfreiheit aus der Verfassung selbst ergeben müssen, weil Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählten die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (BVerfGE 153, 1 = NJW 2020, 1049). Die Sicherheit des Straßenverkehrs stelle einen solchen Gemeinschaftswert von Verfassungsrang dar (BVerfG zfs 2018, 230). Das umfasse auch das in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungs- und -verdeckungsverbot. Es komme nicht darauf an, ob § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO der allgemeinen Verkehrssicherheit auch deshalb dient, weil es die nonverbale Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern sichern soll (krit. Rebler/Huppertz, NZV 2021, 127 (130): wird ausgeführt. § 23 Abs. 4 StVO sei auch mit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vereinbar. Durch das in dieser Vorschrift angeordnete Verhüllungs- und Verdeckungsverbot werde niemand an der Praktizierung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihr verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften müsse die betroffene Person aber auf das Führen eines Kfz verzichten. Die Regelung könne sie daher mittelbar in ihrer Religionsausübung beeinträchtigen. Durch die den Straßenverkehrsbehörden in § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO eingeräumte Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung solle besonderen Ausnahmesituationen Rechnung getragen werden, die bei strikter Anwendung der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten und eine unbillige Härte für den Betroffenen zur Folge hätten. Eine das Ermessen eröffnende Ausnahmesituation liege insbesondere dann vor, wenn die Hinderung, das Verbot des § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO zu befolgen, auf religiösen Gründen beruht (BVerwGE 166, 125 = NJW 2019, 3466). Das Vorliegen eines Hinderungsgrundes für das Befolgen des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots ziehe keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach sich. Die Entscheidung hierüber stehe gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde.

Ausgehend von diesen Grundsätzen dringe die Antragstellerin nicht mit ihrem Vortrag durch, dass ihr ein Anspruch auf Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung zustehe, weil keine andere als die begehrte Entscheidung ermessensfehlerfrei ergehen könne. Die Religionsausübungsfreiheit habe nicht schlechthin höheres Gewicht als die mit dem Verdeckungs- und -verhüllungsverbot präventiv geschützten Rechtsgüter. Das Führen eines Kfz sei eine zwar weitverbreitete und übliche Art der Fortbewegung und wird deshalb von Vielen als selbstverständlich wahrgenommen. Daraus folge allerdings auch im Lichte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht, die mit dem Führen eines Kfz verbundenen Vorzüge durchweg zu den Bedingungen der individuell als verpflichtend empfundenen Glaubensgebote in Anspruch nehmen zu dürfen. Die betroffene Person stehe nicht vor einem unausweichbaren Konflikt zwischen der Befolgung eines als verpflichtend empfundenen Glaubensgebots einerseits und der Wahrnehmung anderer, ebenfalls grundrechtlich geschützter Interessen von erheblichem Gewicht andererseits. Das VG habe zutreffend einen generellen Vorrang der Religionsfreiheit bei der zu treffenden Ermessensentscheidung „schon wegen des geringen Gewichts der in Rede stehenden Beschränkung und ihrer in zeitlicher und örtlicher Hinsicht begrenzten Wirkung“ verneint. De Versagung der Ausnahmegenehmigung in Fällen der hier vorliegenden Art erweise sich auch nicht als unverhältnismäßig, weil der Zweck des § 23 Abs. 4 StVO durch die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage erreicht werden könnte. Das VG habe hierzu ausgeführt, dass es sich bei einer Fahrtenbuchauflage nicht um ein (annähernd) gleich geeignetes Mittel zur Gefahrenabwehr handele. Der Umstand, dass die für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörden im Rahmen der ihnen obliegenden Abwägungsentscheidung wegen der bereits seit mehr als einem Jahr bestehenden, nahezu sämtliche Lebensbereiche betreffenden und äußerst dynamischen Corona-Pandemie dem Gesundheitsschutz im Einzelfall Vorrang einräumen und unter Hinweis auf den Opportunitätsgrundsatz (§§ 47, 53 OWiG) von der Verfolgung eines etwaigen bußgeldbewehrten (vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 22 StVO i.V.m. Nr. 247a der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV) Verstoßes gegen § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO beim Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen absehen, lässt nicht bereits für sich genommen den Schluss zu, dass der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs bzw. dem Grundrechtsschutz anderer Verkehrsteilnehmer von vornherein kein gesteigertes Gewicht beigemessen wird. Einzelfallbezogene Gründe, die eine andere Entscheidung als die Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen und damit hier zu einer Ermessensreduzierung führen, habe die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin habe nicht hinreichend dargelegt, dass ihr die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Der pauschale Hinweis, die Antragstellerin sehe sich bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Anfeindungen, Diffamierungen und Beleidigungen ausgesetzt und könne daher hierauf nicht verwiesen werden, vermöge das vom VG angesprochene Darlegungs- bzw. Substantiierungsdefizit nicht zu beheben.

III. Bedeutung für die Praxis

Das OVG hat die Entscheidung des VG mit überzeugender Begründung gehalten und liegt auf einer Linie mit den Entscheidungen zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (BVerfG NJW 2017, 2333 und BVerfGE 153, 1 = NJW 2020, 1049) und zur Motoradhelmpflicht für Turbanträger (BVerwGE 166, 125 = NJW 2019, 3466 = zfs 2019, 693) an. Auf die Besprechung der Vorinstanz in VRR 4/2021, 23 wird Bezug genommen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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