Akteneinsicht: Nebenkläger
Allein die (theoretische) Möglichkeit einer „Präparierung“ oder ggf. auch unbewussten Beeinflussung des Verletzten und seiner Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht, auf die der Nebenkläger gemäß § 406e Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Anspruch hat, nicht aus.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.3.2024 – 2 Ws 56/24
ANOM-Chat: Verwertbarkeit
Da die Verwertbarkeit der Anorn-Chats nach derzeitigem Verfahrensstand fraglich ist, kann hierauf kein dringender Tatverdacht gestützt werden.
LG Fulda, Beschl. v. 18.4.2024 – 1 KLs – 131 Js 194123
Urteilsgründe: geständige Einlassung des Angeklagten
Die sachlich-rechtliche Begründungspflicht betreffend die tatgerichtliche Überzeugungsbildung umfasst die Verpflichtung, auch die geständige Einlassung des Angeklagten jedenfalls in ihrem wesentlichen Inhalt wiederzugeben. Hierbei hängt das Maß der gebotenen Darlegung von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab.
BGH, Beschl. v. 15.12.2023 – 4 StR 421/23
Besetzungseinwand: Vorabentscheidungsverfahren
Die Statthaftigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens nach § 222b Abs. 3 StPO setzt voraus, dass eine gebotene Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO bis spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgt ist.
OLG Köln, Beschl. v. 16.2.2024 – 2 Ws 58-61/24
Pflichtverteidiger: rückwirkende Bestellung
Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde. Unverzüglich i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat; vielmehr ist der Staatsanwaltschaft eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen. Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung. § 141 Abs. 2 S. 3 StPO bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift.
LG Dresden, Beschl. v. 28.2.2024 – 3 Qs 2/24
Nutzungspflicht elektronischer Übermittlung: Wiedereinsetzung
War es bereits im Zeitpunkt der Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes möglich, die vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung darzulegen und glaubhaft zu machen, hat dies mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen; in diesem Fall genügt es nicht, wenn die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung nachträglich darlegt und glaubhaft gemacht werden (Anschluss an BGH, Beschl. v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22, NJW 2023, 456 f.). Die an die Nutzungspflicht und die an eine Ersatzeinreichung eines elektronischen Dokuments zu stellenden Voraussetzungen ergeben sich aus dem Gesetz. Dass die Rechtsmittelbelehrung darauf nicht gesondert hinweist, ist unschädlich und führt nicht zur Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
BGH, Beschl. v. 10.1.2024 – AnwZ (Brfg) 15/23
Verschlechterungsverbot: Einziehung
Eine in erster Instanz unterbliebene Einziehungsanordnung kann wegen des Verschlechterungsverbots in der Berufungsinstanz nicht nachgeholt werden.
BayObLG, Beschl. v. 24.1.2024 – 204 StRR 23/24
beA-Störung: Glaubhaftmachung
Im Falle einer im Verantwortungsbereich der Justiz zu verortenden Störung, die den beA-Empfang bei allen Gerichten im Land über einen längeren Zeitraum und über den Ablauf der Einlegungsfrist hinaus unmöglich macht, bedarf es einer sonst erforderlichen anwaltlichen Versicherung – insbesondere von Umständen zu Ursachen und Ausmaß der Störung, die sich der genaueren Kenntnis des Versichernden entziehen – dann ausnahmsweise nicht, um den Anforderungen des § 32d S. 3 und S. 4 StPO zu genügen.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.2.2024 – 1 ORs 340 SRs 86/24
Urteil: fehlende Unterschriften
Anders als beim Fehlen einzelner Unterschriften, bei denen dem Urteilstext nicht aus sich heraus jegliche Legitimation abgesprochen werden kann und sich ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Verfahrenstatsachen nicht beurteilen lässt, ob es sich tatsächlich nur um einen Entwurf handelt, liegt bei einem vollständigen Fehlen der Unterschriften nur ein Begründungsentwurf vor, dessen Unvollständigkeit sich wie beim völligen Fehlen von Urteilsgründen allein aus der Urteilsurkunde ergibt. In dem Fall ist in der Revision die Sachrüge ausreichend.
BGH, Beschl. v. 14.2.2024 – 4 StR 232/23
Annahmeberufung: Absehen von Strafe
Hat das AG von Strafe abgesehen, gilt § 313 Abs. 1 S. 1 StPO nicht. Auch eine analoge Anwendung ist nicht möglich.
KG, Beschl. v. 29.2.2024 – 4 Ws 7/24
Einziehung: Kontokorrentgutschrift
Die Gutschrift auf einem im Kontokorrent geführten Girokonto stellt einen Gegenstand dar, der Grundlage für die erweiterte Einziehung des Wertes von Taterträgen sein kann.
BGH, Beschl. v. 24.1.2024 – 3 StR 354/23
Bewährungswiderruf: Verstoß gegen Therapieweisung
Ein Bewährungswiderruf wegen Verstoßes gegen eine Therapieweisung setzt voraus, dass diese im Bewährungsbeschluss hinreichend bestimmt erteilt worden ist.
Holt das Gericht nach der Anhörung zu einem Bewährungswiderruf telefonisch weitere Informationen ein, muss es den Verurteilten zu diesen neuen Erkenntnissen erneut anhören.
OLG Celle, Beschl. v. 26.2.2024 – 2 Ws 69/24
Unfallflucht: (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis
Lässt sich aus der Verfahrensakte nicht ermitteln, wie die Höhe eines bei einem Verkehrsunfall verursachten Schadens ermittelt wurde, lässt sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, dass der Schaden über der Erheblichkeitsgrenze liegt. Hat sich der Beschuldigte zwar zunächst – ggf. aus Panik – vom Unfallort entfernt, wurde dann aber die Leitstelle der Polizei sehr zeitnah über den Unfall informiert und hat sich der Beschuldigte zum Unfallort zurückbegeben und hat dort gegenüber der Polizei den Unfall und seine Beteiligung eingeräumt, liegt eine charakterliche Ungeeignetheit, die die Entziehung der Fahrerlaubnis notwendig macht, nicht vor.
AG Itzehoe, Beschl. v. 27.2.2024 – 40 Gs 579/24
Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer: Urteilsgründe
Bei einer Verurteilung wegen eines räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a StGB) muss sich aus den Feststellungen nicht nur ein Angriff auf die Entschlussfreiheit des Kraftfahrzeugführers ergeben, wenn er z.B. durch die Blockade seines Fahrwegs zum Anhalten gezwungen wurde, sondern auch, dass die Beteiligten hierbei in der Absicht handelten, einen Raub (§ 249 Abs. 1 StGB), einen räuberischen Diebstahl (§ 252 StGB) oder eine räuberische Erpressung (§ 255 StGB) zu begehen.
BGH, Beschl. v. 5.12.2023 – 4 StR 435/23
Zustellungsmangel: Heilung
Der Betroffene verhält sich nicht widersprüchlich, wenn er auf ein Anhörungsschreiben antwortet, das an eine Adresse versendet wurde, die nicht Lebensmittelpunkt, aber Meldeadresse ist (Soldatin auf Heimatbesuch). Ein Zustellungsmangel wird nicht dadurch geheilt, dass dem Betroffenen von einem Familienangehörigen lediglich die erste Seite des Bußgeldbescheides per WhatsApp übersandt wird.
AG Ulm, Beschl. v. 5.3.2024 – 5 OWi 2260/23
Revisionshauptverhandlung: Anreise zum Hauptverhandlungstermin
Ist in der Revisionshauptverhandlung beim BGH u.a. eine die Nebenklägerin betreffende Verfahrensrüge zu erörtern, ist zur Wahrnehmung der Interessen der Nebenklägerin und ihrer Rechte (§ 397 Abs. 1 StPO) die Teilnahme der beigeordneten Nebenklägervertreterin an der Revisionshauptverhandlung geboten.
BGH, Beschl. v. 27.2.2024 – 2 StR 382/23
Pflichtverteidiger: Terminsvertreter
Der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin als Verteidiger des Angeklagten bestellt worden ist, richtet sich nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG. Er umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG. Neben der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG entsteht aber ggf. nicht auch eine Verfahrensgebühr.
OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.2.2024 – 1 Ws 13/24 (S)
Haftzuschlag: Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm
Die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm ist nicht vergleichbar mit einer Inhaftierung oder Unterbringung i.S.d. Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG und führt daher nicht zu einem (Haft-)Zuschlag.
LG Limburg a. d. Lahn, Beschl. v. 29.2.2024 – 5 KLs – 5 Js 10388/21