1. Hat das AG nach dem insoweit eindeutigen Hauptverhandlungsprotokoll keine Anordnung einer Maßregel nach §§ 69, 69a StGB verkündet, reicht weder die Aufnahme der entsprechenden Normen in die angewandten Strafvorschriften noch eine spätere schriftliche Urteilsbegründung, die für die Verfahrensbeteiligten erkennbar Ausführungen zu einer Sperre enthält, aus, um nachträglich die wahre Entscheidung des AG zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung aufzuzeigen.
2. In diesem Fall liegt kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor, das vom Rechtsmittelgericht nachträglich richtiggestellt werden könnte; vielmehr hat bereits das Berufungsgericht von Amts wegen das Verbot der Schlechterstellung und den Umfang der Teilrechtskraft zu beachten. Für die Bestimmung des Umfangs der Bestrafungsgrenze ist grundsätzlich die verkündete Urteilsformel maßgeblich.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Laut Protokoll vom AG keine Sperrfrist verkündet
Der Angeklagte ist durch Urteil des AG vom 1.3.2023 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren trotz Fahrverbots verurteilt worden. Nach der laut Hauptverhandlungsprotokoll in der Hauptverhandlung verkündeten und inhaltsgleich in der schriftlichen Urteilsurkunde wiedergegebenen Urteilsformel hat das AG den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und ein Fahrverbot von fünf Monaten, jedoch keine Sperrfrist ausgesprochen. In den schriftlichen Gründen der Urteilsurkunde hat es allerdings eine isolierte Sperre nach § 69a Abs. 1 S. 3 StGB von einem Jahr begründet. Eine Protokollberichtigung ist nicht erfolgt.
LG geht auf der Grundlage der Urteilsgründe von Sperrfrist aus
Der Angeklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das LG ist von einer wirksamen Anordnung einer Sperrfrist von einem Jahr ausgegangen und hat die Berufung des Angeklagten mit Urteil vom 9.5.2023 mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die verhängte Sperrfrist noch neun Monate beträgt. Das Fahrverbot von fünf Monaten hat es aufrechterhalten.
Revision erfolgreich
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten. Die war insofern begründet, als dass das BayObLG die Anordnung einer Sperrfrist für eine Erteilung der Fahrerlaubnis hat entfallen lassen.
II. Entscheidung
Allgemeines
Nach Auffassung des BayObLG hat das LG mit der – erstmaligen – Anordnung einer isolierten Sperrfrist gegen das in der Revision von Amts wegen zu prüfende (BGH, Beschl. v. 23.8.2000 – 2 StR 171/00; Franke, in: LR-StPO, 26. Aufl. 2012, § 358 Rn 23 m.w.N.) Verbot der Schlechterstellung (§ 331 Abs. 1 StPO) verstoßen und den Umfang der von Amts wegen zu beachtenden Teilrechtskraft (vgl. BGH, Beschl. v. 15.10.2020 – 1 StR 336/20 m.w.N.; Beschl. v. 23.8.2000 – 2 StR 171/00; Gericke, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 358 Rn 22) nicht berücksichtigt. Für die Bestimmung des Umfangs der Bestrafungsgrenze sei die verkündete Urteilsformel maßgeblich (BGH, Beschl. v. 15.10.2020 – 1 StR 336/20). Das AG habe bei der Verkündung des Urteils am 1.3.2023 wie auch im Tenor der schriftlichen Urteilsurkunde keine isolierte Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis ausgesprochen. Auf die Streitfrage, ob in der Revision das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 15.10.2020 – 1 StR 336/20), kommt es hier nicht an. Im Einzelnen gelte:
Verkündungsinhalt
Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, habe das Berufungsgericht den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen (BGH, Beschl. v. 15.10.2020 – 1 StR 336/20). Das Erfordernis einer Verfahrensrüge gebe es im Berufungsverfahren nicht.
Urteilsformel
Nach § 268 Abs. 2 S. 1 StPO werde das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet. Nach § 260 Abs. 2 und 4 StPO seien alle Rechtsfolgen in die Urteilsformel mit aufzunehmen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 260 Rn 38). Mit der Verkündung sei der Urteilsspruch grundsätzlich nicht mehr änderbar und nicht mehr ergänzbar. Die Urteilsformel als Grundlage für die Vollstreckung und die Eintragung der Verurteilung in die Register müsse aus sich selbst heraus verständlich sein (vgl. Stuckenberg, in: LR-StPO, 27. Aufl., § 260 Rn 30, 31). Rechtsfolgen, die notwendig in die Formel aufzunehmen seien, gelten als nicht verhängt oder als abgelehnt, wenn die verkündete Urteilsformel über sie schweige (LR/Stuckenberg, a.a.O. § 260 Rn 34). Eine nachträgliche Ergänzung der Formel im Wege der Berichtigung sei nur zur Korrektur offensichtlicher Verkündungsversehen in Ausnahmefällen möglich (LR/Stuckenberg, a.a.O.).
Protokollierung der Urteilsformel
Die verkündete Urteilsformel sei als wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung gemäß § 274 StPO zu protokollieren (vgl. KK/Bartel, a.a.O. § 268 Rn 3). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergebe sich demgemäß aus der Sitzungsniederschrift (BGH, Beschl. v. 13.9.1991 – 3 StR 315/91; v. 9.5.2001 – 2 StR 42/01, v. 6.2.2013 – 1 StR 529/12 m.w.N.; BGH, Urt. v. 10.10.2019 – 1 StR 632/18). Allein das Protokoll beweise nach § 274 S. 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet habe (BGH a.a.O.), während es auf den Wortlaut der niedergelegten Urteilsformel nicht ankommt (KK/Bartel, a.a.O., § 268 Rn 3; LR/Stuckenberg, a.a.O., § 268 Rn 29). Die bloße schriftliche Niederlegung der Anordnung einer Sperrfrist könne demnach eine unterbliebene Verkündung nicht ersetzen.
Anordnung der Maßregel fehlt im HV-Protokoll
Nach dem Hauptverhandlungsprotokoll habe das AG – so das BayObLG – hier keine Anordnung einer Maßregel nach § 69a StGB verkündet. Die Sitzungsniederschrift sei insoweit eindeutig, der Urteilstenor leide für sich betrachtet nicht an offensichtlichen Mängeln, sei weder unklar, erkennbar lückenhaft noch widersprüchlich. Die vom Tatgericht niedergeschriebene Urteilsformel hätten die beiden Urkundspersonen weder in das Protokoll eingefügt noch als Anlage zum Protokoll genommen (vgl. dazu OLG Köln, Urt. v. 7.11.2006 – 83 Ss 70/06; LR/Stuckenberg, a.a.O., § 268 Rn 28, 29), sodass insoweit keine Widersprüchlichkeit innerhalb des Protokolls, die die Beweiskraft des Protokolls erschüttern könnte, vorliege. Etwas anderes folge auch nicht aus der Aufnahme der §§ 69, 69a StGB in die angewandten Strafvorschriften. Denn die Liste der angewandten Vorschriften sei kein Bestandteil des Urteilstenors (BGH, Beschl. v. 18.7.2007 – 2 StR 280/07; KK/Tiemann, a.a.O., § 260 Rn 52). Sie sei weder zu verlesen noch sonst bekanntzugeben (BGH, Urt. v. 25.9.1996 – 3 StR 245/96; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 260 Rn 51; KK-Tiemann, a.a.O.).
Keine Protokollberichtigung
Eine förmliche Berichtigung des Protokolls (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298–317) sei nicht erfolgt. Keine der Urkundspersonen sei von der protokollierten Fassung abgerückt (vgl. dazu OLG Hamm, Urt. v. 14.8.1980 – 2 Ss 367/80).
III. Bedeutung für die Praxis
Sperrfrist nicht in der Welt
1. Auf der Grundlage hatte das BayObLG die Beweiskraft des Protokolls zu beachten. Danach war also die Urteilsformel wie protokolliert verkündet worden. Das AG hatte in der Urteilsformel keine Anordnung einer Sperrfrist ausgesprochen. Diese war also nicht in der Welt.
Offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen?
2. Das BayObLG hat im Übrigen auch ein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen verneint. Die Frage ist insofern von Bedeutung, weil das Rechtsmittelgericht offensichtliche Versehen im Ausspruch des angefochtenen Urteils berichtige kann. Nach der gefestigten Rechtsprechung sind „offensichtlich“ jedoch lediglich solche Fehler, die sich ohne Weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss – auch ohne Berichtigung – eindeutig erkennbar sein, was das Gericht – zum Zeitpunkt der Verkündung – tatsächlich gewollt und entschieden hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 354 Rn 33). Bei dieser Prüfung wird ein strenger Maßstab angelegt, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige nachträgliche Abänderung des Urteils einhergeht (vgl. BGH, Beschl. v. 11.4.2017 – 2 StR 345/16 und v. 20.6.2017 – 1 StR 113/17; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 268 Rn 10). Hinsichtlich der Frage einer möglichen Berichtigung der mündlich verkündeten Urteilsformel kann zwar auch die mündliche Urteilsbegründung Berücksichtigung finden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn 10 m.w.N.). Grundsätzlich ist jedoch in Ansehung der überragenden Bedeutung der Urteilsformel, die – anders als die schriftlichen Urteilsgründe – bei Verkündung schriftlich vorliegen muss, bei einer Berichtigung der Urteilsformel Zurückhaltung geboten (BGHSt 3, 245, 247; BGH, Urt. v. 8.11.2017 – 2 StR 542/16).
Hier kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das BayObLG hier aber – zutreffend – verneint. Die verkündete Urteilsformel selbst war in sich widerspruchsfrei und eindeutig. Für weitere sich aus dem Ablauf der Urteilsverkündung ergebende und für die Verfahrensbeteiligten klar zutage liegende Tatsachen, die ein reines Versehen bei der Fassung des Tenors offenkundig machen könnten, war nichts ersichtlich, insbesondere fehlen Anhaltspunkte, dass die mündliche Mitteilung der Entscheidungsgründe, die gemäß § 268 Abs. 2 StPO mit der Verlesung der Urteilsformel eine Einheit bildet, den Verfahrensbeteiligten ohne Weiteres die Gewissheit über die Anordnung einer Sperre – etwa im Wege der mündlichen Erörterung der Sperrfrist – vermittelt hätte. Die spätere schriftliche Urteilsbegründung mit den Ausführungen zu einer Sperre reicht für sich allein nicht aus, um nachträglich die wahre Entscheidung des AG zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung aufzuzeigen (vgl. LR/Stuckenberg, a.a.O., § 268 Rn 54; LR/Franke, a.a.O., § 354 Rn 49). Wird eine bestimmte Rechtsfolge als Teil des Urteilsspruchs nicht verkündet, liegt kein offensichtliches Verkündungs- oder Fassungsversehen vor, das vom Revisionsgericht nachträglich richtiggestellt werden könnte (so auch BGH, Beschl. v. 10.5.1988 – 5 StR 47/88, ebenfalls zu einer versehentlich unterbliebenen Verkündung der Anordnung einer Sperre; vgl. auch BGHSt 25, 333). Der Umstand, dass die nach der Urteilsverkündung gefertigten schriftlichen Urteilsgründe des AG für sich genommen offenbar rechtlich einwandfreie Erwägungen enthielten, die die Festsetzung der nicht verkündeten Anordnung einer Sperrfrist gerechtfertigt hätten, konnte an dem Ergebnis wegen des Widerspruchs von Tenor und Gründen nichts mehr ändern.