Beitrag

Ablehnung einer Schöffin durch die Staatsanwaltschaft

1. Bei den gesetzlichen Vorschriften, nach denen ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann (§§ 24 Abs. 1 und 2, 31 StPO), handelt es sich nicht um Rechtsnormen, die i.S.d. § 339 StPO lediglich zugunsten des Angeklagten wirken.

2. Die Staatsanwaltschaft kann in Ausübung ihrer Rolle als „Wächterin des Gesetzes“ Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Entscheidung über von ihr gestellte Ablehnungsgesuche ungeachtet von deren Angriffsrichtung mit der Revision rügen.

3. Ein Ablehnungsgesuch der Staatsanwaltschaft ist gerechtfertigt, wenn sie bei verständiger Würdigung der ihr bekannten Umstände Grund zu der Besorgnis hat, dass der Richter gegenüber dem rechtlich zu würdigenden Sachverhalt oder den daran Beteiligten nicht unvoreingenommen und unparteilich ist.

(Leitsätze des Gerichts)

BGH, Urt. v. 25.10.20232 StR 195/23

I. Sachverhalt

Verurteilung wegen Beihilfe zu Einfuhr und Handel mit BtM

Das LG hat den Angeklagten wegen Beihilfe zu Einfuhr von und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Die dagegen zu Lasten des Angeklagten eingelegte Revision hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg.

Feststellungen

Nach den Feststellungen des LG war der Angeklagte von dem gesondert verfolgten B beauftragt worden, von diesem in den Niederlanden bestelltes, zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmtes Marihuana abzuholen. Zur Verbringung der Betäubungsmittel nach Deutschland hatte der Angeklagte den Opel Corsa seiner damaligen Lebensgefährtin organisiert. Der Angeklagte fuhr in dem Opel Corsa und B in seinem SUV Seat nach E. Dort tauschten sie die Fahrzeuge und B lud das Rauschgift in Abwesenheit des Angeklagten in den Opel Corsa, mit dem er das Marihuana über die Grenze nach Deutschland verbrachte. Der Angeklagte fuhr mit dem Seat voraus, um bei eventuellen Kontrollen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein bis zwei Tage nach ihrer Rückkehr tauschten sie die Fahrzeuge zurück und der Angeklagte erhielt eine Entlohnung von 500 EUR.

Verfahrensgeschehen zur Befangenheitsrüge

Die Staatsanwaltschaft hat ihre Verfahrensbeanstandung damit begründet, dass bei dem Urteil eine Schöffin mitgewirkt habe, nachdem sie wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden und das Ablehnungsgesuch zu Unrecht verworfen worden sei (§§ 338 Nr. 3, 24 Abs. 2, 28 Abs. 2 S. 2, 31 Abs. 1 StPO). Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die an dem angefochtenen Urteil mitwirkende Schöffin J teilte dem Vorsitzenden am ersten Hauptverhandlungstag nach Verlesung der Anklage mit, dass es sich bei dem Angeklagten um den ehemaligen Partner ihrer „angeheirateten Nichte“ handele, den sie auf Familienfeiern fünf- bis sechsmal getroffen und mit dem sie sich auch unterhalten habe. Die Beziehung zwischen der „Nichte“ und dem Angeklagten sei beendet, ihr letzter persönlicher Kontakt zum Angeklagten sei über drei Jahre her. Nach Bekanntgabe dieser Umstände durch den Vorsitzenden gegenüber den Verfahrensbeteiligten erklärte der Verteidiger des Angeklagten, dass das im Anklagesatz erwähnte Tatfahrzeug, der Opel Corsa, der „Nichte“ gehöre, diese aber nicht gewusst habe, wofür der Angeklagte sich das Fahrzeug geliehen habe.

Nach einer circa fünfundvierzigminütigen Sitzungsunterbrechung verlas die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ein gegen die Schöffin gerichtetes Ablehnungsgesuch und begründete dieses mit deren „Verwandtschaftsverhältnis“ zur Eigentümerin des mutmaßlichen Tatfahrzeugs. In ihrer sich anschließenden dienstlichen Äußerung bestätigte die abgelehnte Schöffin, dass die durch den Vorsitzenden vorgetragenen Tatsachen zu ihrer Bekanntschaft zum Angeklagten zutreffend seien. Die Strafkammer hat den Ablehnungsantrag zurückgewiesen und zugleich die Selbstanzeige der Schöffin als unbegründet erachtet. Sie hat ausgeführt, dass mangels enger persönlicher Beziehung der Schöffin zum Angeklagten eine Besorgnis der Befangenheit nicht bestehe.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des BGH beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht die Mitwirkung der Schöffin als erkennende Richterin.

Anfechtungsmöglichkeit

Der Beschluss des LG sei der Anfechtung nicht entzogen. Zwar könne das Revisionsgericht in den Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige eines Richters oder Schöffen wegen eines Verhältnisses, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, für begründet oder für nicht begründet erklärt wird, für sich gesehen grundsätzlich nicht überprüfen. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO betreffe lediglich den Fall der Ablehnung nach § 24 StPO, nicht den der Selbstanzeige nach § 30 StPO (vgl. BGH NStZ 2017, 720; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 30 Rn 7). Anderes gelte aber dann, wenn sich – wie hier – ein Ablehnungsberechtigter das Vorbringen des Selbstanzeigenden zu eigen mache und ihn deswegen ablehne; dies eröffne das Verfahren der §§ 25 bis 28 StPO. Dementsprechend habe die Strafkammer mit der Entscheidung über den gegen die Schöffin gerichteten Befangenheitsantrag zugleich über die Selbstanzeige der Schöffin befunden (vgl. BGH NStZ 2023, 558, 559; vgl. auch KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 30 Rn 7).

Zulässigkeit der Rüge

Die Verfahrensrüge sei auch in zulässiger Weise erhoben. Ihr stehe insbesondere § 339 StPO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift könne die Staatsanwaltschaft zwar die Verletzung von Rechtsnormen, die lediglich zugunsten des Angeklagten gegeben sind, nicht zu dessen Nachteil geltend machen; doch treffe das für die hier in Rede stehende Rechtsnorm (§ 24 StPO) nicht zu. Die höchstrichterliche Rechtsprechung habe sich bislang allein mit der Frage befasst, ob die Gesetzesbestimmungen, nach denen ein Richter von Gesetzes wegen an der Mitwirkung an der Entscheidung ausgeschlossen ist (§§ 22, 23, 338 Nr. 2 StPO), lediglich zugunsten des Angeklagten i.S.d. § 339 StPO gegeben sind, und dies für § 22 StPO verneint (vgl. RGSt 59, 267, 267 f.; vgl. auch LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 339 Rn 5; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 339 Rn 3; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, § 339 Rn 4; SK-StPO/Frisch, 5. Aufl., § 339 Rn 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 339 Rn 5). Für die gesetzlichen Vorschriften, nach denen ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann (§§ 24 Abs. 1 und 2, 31 StPO), gelte nichts anderes. Diese Rechtsnormen dienen nicht allein den Verteidigungsbelangen des Angeklagten und damit nicht allein seinem Schutz, sondern bezwecken, das Gebot eines unabhängigen und unparteilichen Richters zu garantieren. In Ausübung ihrer Rolle als „Wächterin des Gesetzes“ (vgl. BVerfGE 133, 168, 219; vgl. auch BGH NStZ 2023, 306, 308) habe auch die Staatsanwaltschaft die Aufgabe, für die Unabhängigkeit und Neutralität der Gerichte Sorge zu tragen. Die ihr zugewiesene Rolle zur Kontrolle dieser Garantien kommt einfachgesetzlich bereits im Kreis der Ablehnungsberechtigten (§ 24 Abs. 3 S. 1 StPO) zum Ausdruck. Hiernach kann die Staatsanwaltschaft einen Richter generell zur Sicherung der Neutralität des Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen. Um ihrer „Wächterfunktion“ im Normengefüge der §§ 22 ff. StPO gerecht werden zu können, bedarf es daher grundsätzlich und ungeachtet der Angriffsrichtung eines in der Tatsacheninstanz angebrachten Ablehnungsgesuchs seitens der Staatsanwaltschaft ihrer Befugnis, Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Entscheidung über Ablehnungsgesuche in der Revision zu rügen.

Zurückweisung des Ablehnungsantrags fehlerhaft

Nach Auffassung des BGH war der Zurückweisungsbeschluss des LG fehlerhaft. Die Ablehnung eines (Berufs-)Richters sei nach § 24 Abs. 2 StPO, der nach § 31 Abs. 1 StPO für einen Schöffen entsprechend gilt, gerechtfertigt, wenn die ablehnende Staatsanwaltschaft bei verständiger Würdigung der ihr bekannten Umstände Grund zu der Besorgnis hat, dass der Richter gegenüber dem rechtlich zu würdigenden Sachverhalt oder den daran Beteiligten nicht unvoreingenommen und unparteilich ist (vgl. allgemein zu § 24 StPO BGHSt 44, 4, 7). Nicht erheblich sei, ob der abgelehnte Richter tatsächlich befangen ist oder nicht (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 208, 209).

Persönliche Beziehungen können ausreichen

Dabei gelte im Hinblick auf die gesetzlich normierten Ausschlussgründe in den §§ 22, 23 StPO, dass, soweit nicht die im Gesetz aufgeführten persönlichen Verhältnisse oder Beziehungen vorliegen, von der Fähigkeit des Richters auszugehen sei, sich von Befangenheit freizuhalten. Gleichwohl könnten persönliche Beziehungen des Richters zu Angeklagten, Verletzten oder Zeugen je nach Intensität und konkreter Sachlage die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 24 Rn 12). Sie ließen eine Ablehnung aber nur dann als begründet erscheinen, wenn eine besonders enge Beziehung oder ein besonderer Zusammenhang mit der Strafsache bestehe, der besorgen lasse, dass der Richter der Sache nicht mit der gebotenen Unvoreingenommenheit gegenüberstehe.

Allein Bekanntschaft reicht aber nicht

Hiervon ausgehend sei es – so der BGH – zunächst nicht zu beanstanden, dass das LG allein in der persönlichen Bekanntschaft der Schöffin zum Angeklagten keinen Befangenheitsgrund gesehen habe. Es fehlt an einer persönlichen Beziehung mit der für die Begründung einer Besorgnis der Befangenheit erforderlichen Intensität zwischen den beiden Personen. So kam es bis zur Hauptverhandlung zu lediglich fünf oder sechs Begegnungen mit nur kurzen Unterhaltungen. Hinzu trete, dass seit dem letzten persönlichen Kontakt mehr als drei Jahre vergangen seien und auch eine indirekte persönliche Beziehung zum Angeklagten aufgrund der – zwischenzeitlich beendeten – Partnerschaft zu der „Nichte“ der Schöffin nicht (mehr) existiere.

Gesamtschau führt aber zur Besorgnis der Befangenheit

Allerdings habe es das LG versäumt, die persönlichen Beziehungen der Schöffin in eine Gesamtschau einzuordnen, was hier zur Annahme der Besorgnis der Befangenheit führe. Besondere Umstände ergeben sich nach Auffassung des BGH hier daraus, dass die fortbestehende persönliche Beziehung der Schöffin zu ihrer „Nichte“, der ehemaligen Lebensgefährtin des Angeklagten, einen Zusammenhang zu der Strafsache aufweise. Diese sei die Eigentümerin des für die Einfuhrtaten (§ 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG) genutzten Tatfahrzeugs gewesen. Zwar würde eine etwaige Verfahrensbeteiligung der „Nichte“ als Zeugin eine Besorgnis der Befangenheit noch nicht ohne Weiteres begründen. Dem stehe bei der anzunehmenden Schwägerschaft dritten Grades (§ 1590 BGB) die gesetzgeberische Wertung des § 22 Nr. 3 StPO entgegen. Der durch den Pkw als Tatmittel begründete enge Sachbezug zu der Strafsache berühre aber das Verhältnis der Schöffin zum Angeklagten dergestalt, dass diese ein Interesse daran haben könnte, dass zwischen der Betäubungsmitteleinfuhr und ihrer „Nichte“ keine Verbindung hergestellt und diese nicht zu einer potenziell Tatbeteiligten werde und so, je nach Einlassung des Angeklagten, diesem wohlwollend oder ablehnend gegenüberstehe.

III. Bedeutung für die Praxis

Gilt auch für den Berufsrichter

Der zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmte Beschluss hat wegen der vom BGH zu Leitsatz 1 und 2 entschiedenen Fragen für den Verteidiger weniger praktische Bedeutung. Die Ausführungen des BGH zu den Auswirkungen der persönlichen Verhältnisse können aber über die Frage der Besorgnis der Befangenheit eines Schöffen hinaus Bedeutung erlangen. Denn sie gelten auch für den Berufsrichter. Auch bei dem sind also (in Zukunft) ggf. vorliegende persönliche Beziehungen in einer Gesamtschau einzuordnen und zu prüfen, wie nahe der Berufsrichter an dem Angeklagten und der Sache dran ist.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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