Beitrag

Invollzugsetzung eines Haftbefehls

Zu den Anforderungen an die „neu hervorgetretenen Umstände“ bei nunmehr erfolgter Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Hamm, Beschl. v. 30.1.20242 Ws 12/24

I. Sachverhalt

Haftbefehl wegen schweren Raubes …

Das AG hat am 6.1.2023 gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erlassen. Der Angeklagte wurde am 15.2.2023 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 16.2. eröffnet.

… wird außer Vollzug gesetzt

Auf den am 16.2.2023 durch den Angeklagten gestellten Haftprüfungsantrag und die Anträge auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung, hat das AG am 2.3.2023, nachdem der Verteidiger des Angeklagten Unterlagen übergeben hatte, die einen festen Wohnsitz des Angeklagten mit seiner schwangeren Verlobten und ein seit Sommer 2021 bestehendes Arbeitsverhältnis belegten, den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und dem Angeklagten aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden, allen Ladungen Folge zu leisten und sich straffrei zu führen.

Weiterer Verfahrensgang

Die Staatsanwaltschaft hat am 15.4.2023 Anklage erhoben, welche das LG zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Zugleich hat das LG den Haftbefehl aufrechterhalten und weiterhin außer Vollzug gelassen. Die Hauptverhandlung beim LG hat an elf Verhandlungstagen zwischen dem 30.8.2023 und dem 13.12.2023, zu denen der Angeklagte sämtlich erschien ist, stattgefunden. Im Termin am 13.12.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren zu verurteilen. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte Freispruch. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 12:15 und 14:31 Uhr verkündete das Gericht ein Urteil, mit dem der Angeklagte wegen versuchten besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das LG den Außervollzugsetzungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, es lägen neu hervorgetretene Umstände vor, die die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machten. Der Angeklagte sei von einem Freispruch ausgegangen, dann aber verurteilt worden.

Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und gegen die Invollzugsetzung Beschwerde. Diese hatte beim OLG Hamm Erfolg.

II. Entscheidung

Das OLG moniert insbesondere, dass die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO, unter denen ein bislang außer Vollzug gewesener Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden kann, nicht vorliegen.

Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO

Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehöre zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.6.2012 – 2 BvR 720/12 und BVerfG, Beschl. v. 11.7.2012 – 2 BvR 1092/12). Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so sei jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge habe, nur zulässig, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dagegen könne eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, jeweils a.a.O.). Das OLG referiert sodann die Rechtsprechung des BVerfG zum Begriff der „neuen Umstände“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2020 – 2 BvR 1787/20; Beschl. v. 11.6.2012 – 2 BvR 720/12; Beschl. v. 11.7.2012 – 2 BvR 1092/12; Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 116 Rn 28). Dabei seien die Grenzen eng gesteckt und die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen.

Nicht rechtskräftiges Urteil als „neuer Umstand“

Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können danach – so das OLG – zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setze jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweiche und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöhe (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.6.2016 – III-3 Ws 242/16). Wenn demgegenüber zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewesen sei und der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt habe, dürfe die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, könne einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen gehabt habe und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.7.2012 – 2 BvR 1092/12; OLG Hamm, Beschl. v. 7.8.2012 – 2 Ws 252/12).

Konkreter Fall

Hiervon ist das OLG ausgegangen. Die Strafkammer sei zwar zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine erhebliche Abweichung zwischen der durch den Haftrichter prognostizierten Straferwartung und der durch den Tatrichter verhängten Freiheitsstrafe nicht feststellbar sei, was eine Invollzugsetzung daher nicht begründen könne. Soweit die Strafkammer dann aber als die Invollzugsetzung rechtfertigenden Umstand auf die enttäuschte Erwartung des Angeklagten, freigesprochen zu werden, abstelle, könne dies eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht begründen. Das OLG geht insoweit davon aus, dass der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung sowohl mit Blick darauf, dass er wegen der verfahrensgegenständlichen Tat verurteilt werden könnte, als auch mit Blick auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafhöhe vor Augen gehabt haben müsse, wenngleich er die Hoffnung gehabt haben könne, mittels entlastender Beweismittel durchgreifende Zweifel an seiner Täterschaft zu wecken. Die Möglichkeit einer Verurteilung könne dem durch einen Verteidiger verteidigten Angeklagten bereits deshalb als naheliegende Möglichkeit des erstinstanzlichen Verfahrensabschlusses nicht verborgen geblieben sein, weil gegen ihn wegen der ihm zur Last gelegten Tat ein Haftbefehl ergangen sei, welcher nach seinem Erlass auch nicht wieder aufgehoben worden sei. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls lasse die Frage des dringenden Tatverdachts unberührt und habe ihren Grund einzig darin, dass weniger einschneidende Mittel zur Ausräumung der angenommenen Fluchtgefahr für ausreichend erachtet wurden. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls bis zur Urteilsverkündung durch die Strafkammer dokumentiert, dass diese von fortbestehendem dringendem Tatverdacht ausgegangen sei; bereits deshalb verbiete sich die durch das LG vorgenommene Argumentation, aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten, namentlich der Beteuerung seiner Unschuld und der Präsentation entlastender Beweismittel, folge, dass er bis zuletzt mit einem Freispruch gerechnet habe, mit der Folge einer so wesentlichen Erhöhung der Fluchtgefahr durch die gleichwohl erfolgte (erstinstanzliche) Verurteilung, dass sie eine Invollzugsetzung rechtfertige.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffende Entscheidung

1. Früher sind häufiger Entscheidungen bekannt geworden, in denen um die Invollzugsetzung gestritten worden ist. Nach den vom OLG Hamm zutreffend zitierten Entscheidungen des BVerfG ist es insoweit aber ruhiger geworden. Daher ist es zu begrüßen, wenn das OLG in seinem zutreffenden Beschluss die Grundsätze der Rechtsprechung – auch des BVerfG – noch einmal ins Gedächtnis ruft (vgl. dazu eingehend auch Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 832 ff. m.w.N.).

Vorführung erforderlich

Das OLG weist – vorsorglich für zukünftige Fälle – die Strafkammer darauf hin, dass der Angeklagte nach seiner (erneuten) Inhaftierung am 13.12.2023 nach Erlass des (Wieder-)Invollzugsetzungsbeschlusses vom gleichen Tag der Strafkammer gem. § 115 Abs. 1 StPO spätestens am 14.12.2023 vorzuführen gewesen wäre. Dass das offenbar nicht geschehen ist, ist ein Fehler, der häufiger anzutreffen ist. Denn auch dann, wenn ein Angeklagter zwar bereits – wie hier – im Rahmen der Hauptverhandlung (von der Kammer) vernommen worden ist und ihm alle Umstände bekannt waren, die der neuerlichen Haftanordnung zugrunde lagen, einschließlich der erfolgten Verurteilung durch das Gericht vom selben Tag, hat der Angeklagte dennoch einen erneuten Anspruch auf die Gewährung umfassenden rechtlichen Gehörs nach § 115 Abs. 3 StPO, zumal ihm solches insbesondere in Bezug auf die Umstände, aufgrund derer das Gericht das Vorliegen neuer Umstände und die Erforderlichkeit der Verhaftung des Angeklagten nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO als begründet angesehen hat, im Rahmen der Hauptverhandlung im Zweifel nicht gewährt worden sein dürfte. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt in jeder Verfahrenslage, selbst dann, wenn bereits ein Urteil gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten ergangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.6.2016 – III-3 Ws 242/16).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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