Zum Umfang der Mitteilungspflicht des Vorsitzenden zu im Verlauf der Hauptverhandlung geführten Erörterungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten, die eine Verständigung zum Gegenstand haben.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Inhalt des Verständigungsgesprächs im Protokoll?
Das AG hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei (§ 374 AO) in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte, verurteilt. Während der Hauptverhandlung regte der Verteidiger des Angeklagten ein Rechtsgespräch an, woraufhin die Sitzung für etwa 20 Minuten unterbrochen wurde. Im Sitzungsprotokoll ist (dann) vermerkt: „Eine Verständigung wurde insoweit herbeigeführt, als dass im Falle eines glaubhaften Geständnisses keine höhere Gesamtfreiheitsstrafe als ein Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung (…) in Betracht komme (…). Der Vertreter der Staatsanwaltschaft tritt neben dem Gericht dieser Verständigung bei.“ Der Verteidiger erklärte für den Angeklagten, dass er die Anklage bestätige.
Verfahrensgeschehen
Der Angeklagte hat gegen das amtsgerichtliche Urteil Sprungrevision eingelegt. Zu deren Begründung wurde u.a. vorgetragen, in der Hauptverhandlung beim AG sei auf Anregung seines Verteidigers eine Erörterung durchgeführt worden. Er und die Öffentlichkeit seien aufgefordert worden, den Sitzungssaal zu verlassen. Der Strafrichter habe in dem Gespräch gesagt, wenn es eine Vereinbarung geben solle, müsse sich diese auf die gesamten Anklagevorwürfe beziehen. Der Strafrichter, der Verteidiger und der Staatsanwalt hätten im weiteren Gesprächsverlauf u.a. ihre Standpunkte zu der Art und Höhe der Strafe im Falle eines Geständnisses ausgetauscht. Nach der Erörterung habe ihm sein Verteidiger erklärt, dass seine Sichtweise zum Eingreifen eines Beweisverwertungsverbots nicht geteilt werde, aber eine Bewährungsstrafe gegen Geständnis bei Einräumung aller Vorwürfe laut Anklage von ca. einem Jahr für realistisch gehalten werde, die ohne Auflage oder Weisung einer Geldzahlung in Betracht komme. Weitere Umstände der Erörterung seien ihm nicht mitgeteilt worden.
Das OLG hat die Revision als unbegründet verworfen. Die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hatte Erfolg. Das BVerfG hat das Verfahren an das OLG zurückverwiesen.
II. Entscheidung
Faires Verfahren
Das BVerfG führt aus: Das OLG habe Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Verständigung im Strafprozess nicht hinreichend berücksichtigt. Es habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 S. 2 StPO sowie an die Beurteilung, ob das amtsgerichtliche Urteil auf einer Verletzung dieser Mitteilungspflicht beruhe, verkannt.
Transparenz und Öffentlichkeit wichtig
Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess seien – so das BVerfG – getragen von der Absicht des Gesetzgebers, ein Strafverfahren sicherzustellen, das dem fundamentalen und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtet sei. Um diese Aufgabenstellung zu verwirklichen, habe der Gesetzgeber nicht nur den zulässigen Inhalt von Verständigungen und das Verständigungsverfahren umfassend normieren wollen, sondern einen Schwerpunkt seines Regelungskonzepts in der Herstellung von Transparenz, Öffentlichkeit und einer vollständigen Dokumentation des mit einer Verständigung verbundenen Geschehens gesehen, die wiederum die von ihm als erforderlich bewertete „vollumfängliche“ Rechtsmittelkontrolle ermöglichen und wirksam ausgestalten solle.
Vorgaben des § 243 Abs. 4 S. 2 StPO
Die laut Sitzungsprotokoll des AG erfolgte Mitteilung über die Verständigung durch den Strafrichter genüge nicht diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die in § 243 Abs. 4 S. 2 StPO ihren Niederschlag gefunden haben. Der Inhalt des während der Unterbrechung der Hauptverhandlung vor dem AG geführten Gesprächs zwischen dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, dem Strafrichter und dem Verteidiger des Angeklagten unterfiel jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO, als der Strafrichter durch die Aussage, wenn es eine Vereinbarung geben solle, müsse sich diese auf die gesamten Anklagevorwürfe beziehen, ausdrücklich die Möglichkeit einer Vereinbarung in Betracht gezogen hatte. Spätestens ab diesem Moment sei die Erörterung offensichtlich auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung gerichtet gewesen.
Mitteilungspflicht nicht erfüllt
Die Mitteilung des Strafrichters in der Hauptverhandlung gebe den wesentlichen Inhalt des Verständigungsgesprächs nicht vollständig wieder. Der Strafrichter beschränke sich darauf, kundzutun, dass eine Verständigung herbeigeführt worden sei und welche Strafe der Angeklagte im Falle eines Geständnisses zu erwarten habe. Nach § 243 Abs. 4 StPO habe es dem Strafrichter jedoch oblegen, darüber hinaus mitzuteilen, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertraten, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei den anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung stieß.
Beruhensprüfung durch das OLG
Das BVerfG geht davon aus, dass das OLG das Beruhen des Urteils des AG auf der Verletzung der Mitteilungspflicht mit verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Argumentation ausgeschlossen habe. Es habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen des § 243 Abs. 4 StPO bereits aus dem Grund verfehlt, weil die Frage des Beruhens offensichtlich allein unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten geprüft und die Bedeutung der von dem Verstoß in erster Linie betroffenen, auch dem Schutz des Angeklagten dienenden Kontrollmöglichkeit der Öffentlichkeit außer Acht gelassen worden ist. Auch bei einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten Gesamtbetrachtung dränge sich kein anderes Ergebnis auf. Die Schwere des Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht und die Art der in der Hauptverhandlung nicht mitgeteilten Gesprächsinhalte ließen nicht von vornherein ausschließen, dass das Urteil auf dem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht beruht. Es sei bereits nicht ersichtlich, dass das OLG sich mit dem Gesichtspunkt auseinandergesetzt hätte, dass richterliche und nichtrichterliche Mitteilungen nicht von identischer Qualität sein können, sodass auch bei erfolgter Unterrichtung durch den Verteidiger das richterliche Mitteilungsdefizit Auswirkungen auf das Aussageverhalten des Angeklagten gehabt haben könnte. Es sei zudem zweifelhaft, ob der Angeklagte vor seiner geständigen Einlassung tatsächlich vollumfänglich über den Inhalt des Verständigungsgesprächs unterrichtet worden ist. Das Protokoll zur Hauptverhandlung enthalte keine entsprechende Feststellung. Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Angeklagten dürfte dieser nicht darüber informiert gewesen sein, von wem die Frage einer Verständigung aufgeworfen worden war, wer den Verständigungsvorschlag unterbreitet hatte und welche konkreten Standpunkte von welchem Gesprächsteilnehmer vertreten worden waren. Diese Informationen geben aber Aufschluss über die innere Haltung und Einstellung der Vertreter der Strafrechtspflege und können es dem Angeklagten ermöglichen, seine persönliche Situation im Verfahren besser einzuschätzen, verteidigungsrelevante Schlüsse zu ziehen und eine informierte Entscheidung zu treffen.
III. Bedeutung für die Praxis
Erstaunliche Instanzentscheidungen
1. Auch hier ist man – wie beim BVerfG, Beschl. v. 20.12.2023 – 2 BvR 2103/20 zur Verurteilung nach einem verständigungsbasierten Geständnis – erstaunt, mit welcher Nonchalance AG, OLG und auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zu den maßgeblichen Fragen schlicht übersehen. Ob bewusst oder unbewusst, ist letztlich ohne Belang, denn beides ist gleich unverständlich.
Rechtsprechung der Obergerichte nicht beachtet
2. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die maßgebliche obergerichtliche Rechtsprechung im Einzelnen darzustellen. Insoweit wird verwiesen auf Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 228 ff. mit weiteren Nachweisen). Festzuhalten ist, dass für das BVerfG und ihm letztlich folgend auch für den BGH die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 S. 2 StPO einer der Grundpfeiler der Verständigungsregelung ist (vgl. BVerfG NJW 2013, 1058, 1065 f.; NJW 2014, 3504; NStZ 2014, 592, jew. m. Anm. Deutscher, StRR 2014, 411, 412; NJW 2015, 1235; NStZ 2015, 172; dazu Deutscher, StRR 2015, 88 und dann noch NJW 2020, 2461). Es wird immer wieder – so auch in dem vorliegenden Beschluss – die Bedeutung dieser Mitteilungspflicht im Hinblick auf die Rechte des Angeklagten, aber auch der Öffentlichkeit betont. Ergebnis dieser Rechtsprechung ist, dass die Mitteilungspflicht vom inhaltlichen Umfang her sehr weit geht und das auch Auswirkungen auf die Beruhensprüfung des Revisionsgerichts hat (dazu Burhoff, HV, Rn 2254 m.w.N.). Darauf weist das BVerfG noch einmal hin. Man kann nur hoffen, dass diese Hinweise auch gelesen werden.