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Unverzügliche Bestellung eines Pflichtverteidigers

Der Begriff der Unverzüglichkeit in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ist nicht nach Maßgabe eines bestimmten Zeitablaufs zu bemessen. Ein Verstoß gegen die Unverzüglichkeit, ein schuldhaftes Zögern, ist nur dann gegeben, wenn die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insbesondere weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen.

(Leitsatz des Verfassers)

LG Leipzig, Beschl. v. 2.8.20235 Qs 41/23

I. Sachverhalt

Beiordnungsantrag an die StA

Der Beschuldigte wird des Diebstahls verdächtigt. Am 26.11.2022 legitimierte sich der Verteidiger unter Angabe der polizeilichen Tagebuchnummer gegenüber der bis dahin noch nicht mit der Sache befassten StA und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung verwies er darauf, dass sich der Beschuldigte seinerzeit in einem anderweitig geführten Verfahren in Untersuchungshaft befand.

Zunächst keine Reaktion

Eine Reaktion der StA erfolgte nicht. Im April 2023 legte die Polizei schließlich der StA die Akten vor, die „Zuordnung“ des Verteidigerschriftsatzes vom 26.11.2022 zur Verfahrensakte erfolgte Anfang Juni 2023. In der Folge übersandte der sachbearbeitende Staatsanwalt dem AG die Akten mit der Anregung, eine Pflichtverteidigerbestellung abzulehnen, da der Beschuldigte in der anderen Sache am 6.12.2022 aus der Haft entlassen worden war.

AG: Beiordnungsvoraussetzungen bei Antragstellung gegeben

Das AG Torgau gab dem Antrag des Beschuldigten jedoch statt und ordnete ihm einen Pflichtverteidiger bei. Zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten unstreitig die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgelegen. Auch hätte die Akte unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vorgelegt werden müssen.

Beschwerde der StA erfolgreich

Auf die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde der StA hat das LG die Beiordnung aufgehoben.

II. Entscheidung

Kein Beiordnungsgrund (mehr)

Das Rechtsmittel der StA sei, so die Strafkammer, begründet, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht (mehr) vorläge. Denn zum Zeitpunkt des Beschlusserlasses des AG war der Beschuldigte in anderer Sache bereits aus der Haft entlassen worden. Sonstige Beiordnungsgründe lägen nicht vor.

Kein Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot

Zudem sieht das LG auch keinen Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot. Ein schuldhaftes Zögern sei, so die Kammer unter Hinweis auf die Begründung des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks 19/13829, S. 38), nur dann gegeben, wenn die Ermittlungsbehörden einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insbesondere weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen. Zum Zeitpunkt der Antragstellung sei das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Leipzig jedoch noch gar nicht eingegangen gewesen.

Schließlich sehe § 143 Abs. 2 S. 1 StPO vor, dass eine erfolgte Beiordnung aufgehoben werden kann, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegt, was insbesondere bei einer Haftentlassung mindestens zwei Wochen vor der Hauptverhandlung der Fall sei. Es wäre widersinnig, wenn eine (rückwirkende) Beiordnung angeordnet werden würde, diese dann aber umgehend auf Antrag der StA aufgehoben werden müsste.

III. Bedeutung für die Praxis

Falsche Entscheidung

Der Beschluss des LG Leipzig zeigt einmal mehr, dass auch sog. übergeordnete Gerichte falsch entscheiden können. Denn die Behauptung, es sei nicht zu einer schuldhaften Verzögerung der Verbescheidung des Beiordnungsantrags gekommen, ist schlicht falsch, hat doch die StA nach Eingang des Beiordnungsantrags mehrere Monate verstreichen lassen, ohne irgendwie auf den Antrag zu reagieren. Eine derartige Verzögerung ist nicht hinnehmbar; die Staatsanwaltschaft hätte sich bei der Polizei nach dem Verfahrensstand erkundigen müssen. Stattdessen hat sie sich totgestellt. Dies läuft dem Willen des Gesetzgebers, wonach über Beiordnungsanträge auch im Ermittlungsverfahren zeitnah entschieden werden soll, ersichtlich zuwider.

Darüber hinaus ist auch der Hinweis auf die Begründung zur Reform des Beiordnungsrechts 2019 verfehlt, denn die zitierte Passage bezieht sich ausschließlich auf den Fall des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach eine an sich von Amts wegen gebotene Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Vorschrift betrifft jedoch nur Beiordnungen von Amts wegen, wohingegen Beiordnungsanträge des Beschuldigten gerade nicht erfasst sind (Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3677 m.w.N.).

Mögliche Aufhebung der Bestellung rechtfertigt Untätigkeit nicht

Schließlich kann die Untätigkeit der StA auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass § 143 Abs. 2 S. 1 StPO die Aufhebung einer Beiordnung unter anderem im Falle einer Entlassung aus der Haft grundsätzlich ermöglicht. Denn zum einen handelt es sich nicht um eine zwingende Rücknahme, da in solchen Fällen sorgfältig geprüft werden muss, ob der Rücknahme nicht Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen bzw. ob die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers wegen der früheren Inhaftierung des Beschuldigten weiterhin erforderlich ist (Burhoff/Hillenbrand, a.a.O., Rn 3511), und zum anderen entbindet die Möglichkeit einer späteren (!) Rücknahme die Ermittlungsbehörden nicht von ihrer Pflicht zur Befolgung des vom Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 S. 1 ausdrücklich normierten Unverzüglichkeitsgebots.

RiOLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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