Beitrag

Zeugenvernehmung des Vorsitzenden

Sachgleichheit i.S.d. § 22 Nr. 5 StPO setzt keine Verfahrensidentität voraus.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 12.9.20235 StR 251/23

I. Sachverhalt

Rüge der Verletzung des § 22 Nr. 5 StPO

Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Er beanstandet nach Auffassung des BGH zu Recht, dass an der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung seines Richteramts gemäß § 22 Nr. 5 StPO kraft Gesetzes ausgeschlossen war.

Verfahrensgeschehen

Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Angeklagte war wegen der Raubtat zunächst mit zwei Tatbeteiligten vor einer allgemeinen Strafkammer angeklagt. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass er zur Tatzeit womöglich noch Heranwachsender war, trennte die Strafkammer das Verfahren gegen ihn ab und legte es der Jugendkammer vor, die es übernahm. Die Hauptverhandlungen beider Spruchkörper fanden zeitgleich statt; in beiden wurde der Geschädigte als Zeuge vernommen. In der Hauptverhandlung vor der allgemeinen Strafkammer beantragten die Verteidiger der gesondert Verfolgten, den Jugendkammervorsitzenden zu den Angaben des Geschädigten in der gegen den Angeklagten geführten Hauptverhandlung zeugenschaftlich zu vernehmen, um vermeintliche Widersprüche in den Aussagen nachzuweisen. Nach einer kurzen Unterbrechung wurde der sogleich herbeigerufene Jugendkammervorsitzende zu dem beantragten Beweisthema förmlich vernommen. Die Jugendkammer setzte ihre Hauptverhandlung in unveränderter Besetzung bis zur Urteilsverkündung fort, nachdem der Angeklagte nunmehr einem bereits zuvor gemachten Verständigungsvorschlag zugestimmt hatte.

Revision erfolgreich

Die zulässig erhobene Verfahrensrüge war nach Auffassung des BGH begründet. Sie führte zur Aufhebung des Urteils mitsamt den Feststellungen.

II. Entscheidung

Zeugenvernehmung führt zum Ausschluss

Der Jugendkammervorsitzende sei nach seiner Vernehmung kraft Gesetzes von der weiteren Ausübung seines Amtes in dem Verfahren ausgeschlossen gewesen. Denn er habe „in der Sache“ i.S.v. § 22 Nr. 5 StPO als Zeuge ausgesagt. Sachgleichheit setze keine Verfahrensidentität voraus. Sie sei auch dann gegeben, wenn ein Richter in einem anderen Verfahren zu demselben Tatgeschehen förmlich vernommen worden ist, das er jetzt abzuurteilen hätte. Die Vernehmung müsse sich nicht auf eigene Wahrnehmungen zum Tatgeschehen beziehen. Es genüge, wenn sie Umstände thematisiere, die der Richter auch in dem ihm vorliegenden Verfahren im Hinblick auf Schuld- und Straffrage in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bewerten müsse (BGH, Beschl. v. 22.1.2008 – 4 StR 507/07, StV 2008, 283; v. 22.5.2007 – 5 StR 530/06, NStZ 2007, 711; v. 27.9.2005 – 4 StR 413/05, NStZ 2006, 113, 114). So liege es hier. Die Vernehmung des Jugendkammervorsitzenden als Zeuge zu den Angaben des Geschädigten habe das auch in der von ihm geleiteten Hauptverhandlung zu beurteilende Raubgeschehen betroffen. Die Aussage des Geschädigten habe der Vorsitzende auch in seinem Verfahren bewerten müssen.

Mitwirkung des ausgeschlossenen Richters führt zur Aufhebung

Das Urteil unterliege nach § 338 Nr. 2 StPO der Aufhebung, weil ein kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter daran mitgewirkt habe. Denn die Hauptverhandlung sei auch nach der Zeugenvernehmung des Vorsitzenden unter seiner Leitung fortgesetzt und das Urteil mit ihm verkündet worden. Der Senat brauche deshalb nicht zu entscheiden, ob er der Ansicht folgen könnte, wonach allein das Unterzeichnen der Urteilsurkunde durch einen gemäß § 22 Nr. 5 StPO ausgeschlossenen Richter einen Revisionsgrund nach § 338 Nr. 7 StPO begründen soll (so aber BGH, Beschl. v. 11.11.2020 – 2 StR 241/20, NStZ 2021, 751, 752; v. 13.10.2021 – 2 StR 418/19, StV 2022, 794).

III. Bedeutung für die Praxis

Sachgleichheit/Verfahrensidentität

1. Die Ausführungen des BGH zur Sachgleichheit/Verfahrensidentität entsprechen der ständigen Rechtsprechung des BGH in der Frage (vgl. dazu Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 822 ff. und Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 557 ff.).

Umfang des Ausschlusses

2. Zum Umfang des Ausschlusses und der damit zusammenhängenden Frage, ob allein das Unterzeichnen der Urteilsurkunde durch einen gemäß § 22 Nr. 5 StPO ausgeschlossenen Richter einen Revisionsgrund nach § 338 Nr. 7 StPO darstellt, scheint der 5. Strafsenat anderer Auffassung als der 2. Strafsenat zu sein, der darin einen absoluten Revisionsgrund gesehen hat. Da scheint sich dann ggf. eine Divergenz abzuzeichnen.

Befremdliche Formulierung

3. Der BGH hatte wörtlich ausgeführt: „Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Sie nötigt zur Aufhebung des Urteils mitsamt den Feststellungen.“ Die Formulierung befremdet. Warum „nötigt“ die erfolgreiche Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils? Man hat den Eindruck, dass der 5. Strafsenat an sich nicht aufheben möchte. Das ist aber doch nicht „genötigt“, sondern gesetzliche Folge des § 338 Nr. 3 StPO. Ich frage mich immer, was solche Formulierungen sollen. Warum formuliert man nicht: „Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils mitsamt den Feststellungen.“ Kleine Änderung, große Wirkung.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…