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StRR-Kompakt 2024_02

Durchsuchung: Verhältnismäßigkeit

Sollen Einkommensverhältnisse ermittelt werden, ist eine Durchsuchung nicht allein deshalb unverhältnismäßig, aber dann, wenn es mildere, grundrechtsschonende Mittel gibt, wie z.B. die Befragung des Beschuldigten (hier: verbeamteter Lehrer) zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen oder auch eine Erkundigung bei der Besoldungsstelle sowie ggf. bei der BaFin. Durchsuchungen zur Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Beschuldigten sind grundsätzlich nur dann verhältnismäßig, wenn anhand der übrigen zur Verfügung stehenden Beweismittel keine Schätzung möglich ist.

BVerfG, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 BvR 52/23

Pflichtverteidigerbestellung: Dauer

Das Strafverfahren umfasst nach § 143 Abs. 1 StPO auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen, wie z.B. Nachtragsverfahren wie das über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionseinlegungs- oder Revisionsbegründungsfrist sowie das Anhörungsrügeverfahren nach § 356a StPO.

BGH, Beschl. v. 27.11.2023 – 3 StR 80/23

Pflichtverteidiger: Erstreckung auf das Adhäsionsverfahren

Die Beiordnung des Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 1 StPO erstreckt sich auch auf die Vertretung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren. An seiner früheren entgegenstehenden Rechtsauffassung (OLG Dresden, Beschl. v. 10.12.2013 – 2 Ws 569/13) hält der Senat hält nicht fest.

OLG Dresden, Beschl. v. 21.12.2023 – 2 Ws 298/23

Pflichtverteidiger: nachträgliche Bestellung

Besonderheiten des Falles können es gebieten, ausnahmsweise die nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers anzuordnen. Dies gilt insbesondere im Fall der besonderen Schutzbedürftigkeit eines inhaftierten Beschuldigten, der an einer eigenen Verteidigung in besonderer Weise gehindert ist.

LG Braunschweig, Beschl. v. 17.10.2023 – 9 Qs 267/23

Pflichtverteidiger: Entziehung der Fahrerlaubnis

Droht dem Beschuldigten im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis der Verlust des Arbeitsplatzes und wäre er daran gehindert, den ausgewählten Beruf bis zu einem etwaigen Wiedererwerb der Fahrerlaubnis auszuüben, wiegt die zu erwartende Rechtsfolge schwer, sodass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.

LG Itzehoe, Beschl. v. 2.11.2023 – 14 Qs 160/23

Pflichtverteidiger: Betreuer

Die Tatsache, dass dem Angeklagten ein Betreuer bestellt ist, ändert nichts an der Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO, da sich die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden.

LG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 Qs 364/23

Durchsuchung: Auffindeverdacht

Der auf § 102 StPO gestützte Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Beschuldigten rechtfertigt regelmäßig auch die Durchsuchung eines vom erwachsenen Kind des Beschuldigten bewohnten Zimmers, das Teil der Wohnung ist.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 6.12.2023 – 12 Qs 77/23

Besetzungseinwand: Begründungsanforderungen; Revision

Die zulässige Begründung der Besetzungsrüge erfordert gemäß § 222b Abs. 1 S. 2 StPO eine geschlossene und vollständige Darstellung der Verfahrenstatsachen, die den behaupteten Besetzungsfehler begründen. Wird der Besetzungseinwand auf den Umfang der Akten gestützt, dürften konkrete Angaben zu dem tatsächlich zu bewältigenden Aktenbestand erforderlich sein. Die in § 222b Abs. 2 S. 1 StPO vorgesehene Entscheidung des Tatgerichts über seine ordnungsgemäße Besetzung ist durch mit Gründen versehenen Beschluss zu treffen. Sie dient insbesondere im Falle der Zurückweisung des Besetzungseinwands der Selbstüberprüfung und soll die ihr zugrunde liegenden Erwägungen für die Verfahrensbeteiligten sowie das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar und überprüfbar machen. Verkündet das Tatgericht vor der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts nach § 222b Abs. 3 StPO über die vorschriftsmäßige Besetzung ein Urteil, so ist das Vorabentscheidungsverfahren erledigt. Der Einwand vorschriftswidriger Besetzung kann sodann im Rahmen der Revision geltend gemacht werden.

KG, Beschl. v. 20.10.2023 – 3 Ws 50/23 – 161 AR 180/23

Terminsverlegung: Verhinderung des Verteidigers

Hat der Versuch einer Terminsabsprache nicht stattgefunden, muss sich der Richter bei einem substantiierten Verlegungsantrag des Verteidigers ernsthaft bemühen, dessen nachvollziehbarem Begehren im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten des Spruchkörpers Rechnung zu tragen.

LG Wuppertal, Beschl. v. 24.11.2023 – 23 Qs 130/23

BeA: Screenshot als Mittel zur Glaubhaftmachung bei der Ersatzeinreichung

Ein Screenshot vom PC-Bildschirm kann als Augenscheinsobjekt i.S.v. § 371 Abs. 1 ZPO ein taugliches Mittel zur Glaubhaftmachung der vorübergehenden technischen Unmöglichkeit gemäß § 130d S. 3 ZPO darstellen.

BGH, Beschl. v. 10.10.2023 – XI ZB 1/23

Berufungsbeschränkung: Wirksamkeit

Fehlende Feststellungen zum Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel stehen bei einer Verurteilung wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln nach § 29a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auch dann nicht entgegen, wenn die Bruttomenge der Betäubungsmittel die Grenze zur nicht geringen Menge i.S.d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG übersteigt.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 22.11.2023 – 1 Ss 23/23

U-Haft: Beschleunigungsgrundsatz

Im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand. Dies gilt auch dann, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber nicht erweitert worden ist. Mit einer im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ kann ein Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichtspunkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Die Umstände des Falles können es nahegelegen, für eine zügige Terminierung direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten.

KG, Beschl. v. 20.10.2023 – 3 Ws 51/23 – 121 HES 30/23

Einflussnahme auf einen Strafunmündigen: Anstiftung

Die Einflussnahme auf einen Strafunmündigen mit dem Ziel, ihn zur Begehung einer Straftat zu bewegen, ist als Anstiftung i.S.d. § 26 StGB anzusehen.

BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – 5 StR 200/23

Verwenden verfassungswidriger Kennzeichen: Hakenkreuz in Karikatur auf Twitter

Das Teilen einer Abbildung mit einem Hakenkreuz, das dem Angeklagten von einem Dritten auf seinem Twitter-Account eingestellt wurde, mit seinen ca. 13.000 Followern stellt ein öffentliches Verwenden des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation dar.

BayObLG, Beschl. v. 29.11.2023 – 202 StRR 88/23

Betäubungsmittel: Schnelltest

Die allein auf das positive Ergebnis eines Schnelltests gestützte Annahme, bei dem sichergestellten Stoff handele es sich um Betäubungsmittel, ist rechtsfehlerhaft, wenn nicht in den Urteilsgründen dargelegt wird, dass es sich bei beim angewendeten Schnelltest um ein wissenschaftlich abgesichertes und zuverlässiges Standardtestverfahren handelt.

OLG Naumburg, Beschl. v. 26.10.2023 – 1 ORs 144/23

Nötigung: Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße

Eine Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße ist, gemessen an den jeweiligen konkreten Umständen des Einzelfalls, eine strafbare Nötigung gem. § 240 StGB. Gegen die Verwerflichkeit der Tat nach § 240 Abs. 2 StGB spricht nicht, dass die Betroffenen als Kraftfahrzeugnutzende den Ausstoß von CO₂ verursachen und dadurch mit dem Anliegen des Klimaschutzes in Verbindung stehen. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB kommt aufgrund des Vorrangs staatlicher Abhilfemaßnahmen nicht in Betracht.

AG Flensburg, Urt. v. 6.7.2023 – 430 Cs 107 Js 4027/23

Höchststrafe: Urteilsgründe

Strafen, die sich der oberen Strafrahmengrenze nähern oder sie sogar erreichen, bedürfen einer Rechtfertigung in den Urteilsgründen, die das Abweichen vom Üblichen vor dem Hintergrund der Besonderheiten des jeweiligen Falles verständlich macht.

BGH, Beschl. v. 5.9.2023 – 3 StR 217/23

BtM-Delikt: minder schwerer Fall

Die Entscheidung, ob der Strafrahmen eines minder schweren Falles Anwendung finden kann, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller für die Wertung von Tat und Täter in Betracht kommenden Umstände danach zu treffen, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung des Regelstrafrahmens nicht mehr angemessen ist. Es ist Sache des Tatgerichts, die Erschwerungs- und Milderungsgründe auf diese Weise nach pflichtgemäßem Ermessen gegeneinander abzuwägen.

OLG Braunschweig, Beschl. v. 6.11.2023 – 1 ORs 40/23

Einstellung des Verfahrens: Bedienungsanleitung/Rohmessdaten

Werden dem Verteidiger Rohmessdaten und Bedienungsanleitung entgegen entsprechendem Antrag und auch entgegen der Anordnung des Gerichts vorenthalten, so ist das Verfahren nach § 47 OWiG einzustellen, wenn eine Durchsuchung des Polizeipräsidiums unverhältnismäßig erscheint.

AG Dortmund, Beschl. v. 14.12.2023 – 729 OWi-260 Js 2315/23-135/23

Pflichtverteidiger: doppelte Beiordnung

Wird ein Rechtsanwalt zunächst einem Mandanten als Pflichtverteidiger „für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen“ beigeordnet und dann später als Pflichtverteidiger für das Verfahren, handelt es sich um dieselbe Angelegenheit, sodass eine Anrechnung von Gebühren in Betracht kommt.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.10.2023 – 1 Ws 200/23

Verfahrensgebühr: Rücknahme des Antrags auf Strafbefehlserlass

Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage bzw. den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt, der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung bzw. Beantragung eines Strafbefehls beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG verdient.

LG Bamberg, Beschl. v. 8.11.2023 – 13 Qs 79/23

Einziehungsgebühr: Zustimmung zur formlosen Einziehung

Berät der Rechtsanwalt seinen Mandanten dahin, dass dieser einer formlosen Einziehung zustimmt, löst auch dies die Gebühr aus Nr. 4142 VV RVG aus. Dem Entstehen der Gebühr steht es auch nicht entgegen, wenn das Verfahren im Ermittlungsverfahren nach § 154 StPO eingestellt wird.

LG Bonn, Beschl. v. 22.11.2023 – 65 Qs 19/23

Terminsaufhebung: verwaistes beA

Ein Anwalt, der zu einem bereits am Vortag aufgehobenen Termin anreist, erhält keine Reisekosten erstattet, wenn er sein beA verwaisen lässt und deshalb von der Terminaufhebung nicht rechtzeitig erfahren hat.

LG München I, Urt. v. 10.10.2023 – 15 O 7223/23

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