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Notwendige Rechtsmitteleinlegung des Verteidigers?

1. Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie die beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten; Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels aber über die Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz.

2. Ggf. kann die Notwendigkeit des Verteidigerhandelns dann zu verneinen sein, wenn die Rechtsmitteleinlegung allein vorsorglich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. Dann muss aber die Einlegung ausschließlich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgen und das der Rechtsmittelschrift zu entnehmen sein. Es reicht nicht aus, wenn nur die Möglichkeit in Aussicht gestellt wird, dass das eigene Rechtsmittel im Falle einer Nichteinlegung der Staatsanwaltschaft wieder zurückgenommen wird, dies aber keineswegs verbindlich angekündigt wird.

(Leitsätze des Verfassers)

LG Heidelberg, Beschl. v. 9.5.202312 Qs 16/23

I. Sachverhalt

Berufungseinlegung mit Ankündigung der ggf. erfolgenden Rücknahme

Der Rechtsanwalt hat den Angeklagten in einem Verfahren wegen Beleidigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte u.a. verteidigt. Nachdem der Angeklagte vom AG zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verteilt worden war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, hat der Pflichtverteidiger hiergegen im Namen des Angeklagten Berufung eingelegt. Zur Begründung führte er aus, dass die Einlegung zunächst fristwahrend erfolge, um dem Mandanten die Möglichkeit zu geben, sich erneut mit ihm zu besprechen. Hintergrund sei, dass die Staatsanwaltschaft im Hauptverhandlungstermin eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung beantragt und in der Hauptverhandlung keinen Rechtsmittelverzicht erklärt habe, weswegen nicht abgeschätzt werden könne, ob diese das Urteil akzeptiere. Nachdem die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat, hat der Verteidiger, der die Sach- und Rechtslage zwischenzeitlich sowohl mit seinem Mandanten als auch mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert hatte, die Berufung namens und im Auftrag seines Mandanten zurückgenommen.

Streit um die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren

Das AG hat – dem Kostenfestsetzungsantrag des Verteidigers folgend – die Pflichtverteidigervergütung festgesetzt und dabei auch die Gebühren nach Nrn. 4124, 4141 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG gewährt. Der Vertreter der Staatskasse hat das beanstandet und Erinnerung eingelegt, mit der er beantragt hat, die festgesetzten Pflichtverteidigergebühren – durch Abzug der Gebühren für das Berufungsverfahren – zu reduzieren. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die insoweit geltend gemachten und festgesetzten Gebühren auf nicht notwendigem Verteidigerhandeln beruhten und daher nicht erstattungsfähig seien. Der Pflichtverteidiger dürfe nicht besser gestellt werden, als er stünde, wenn er als Wahlverteidiger beauftragt und die Staatskasse erstattungspflichtig wäre. Auch in diesem Fall würde nur die durch notwendige Verteidigung entstandene Vergütung ersetzt werden. Da dem Angeklagten nach der Berufungsrücknahme die Kosten auferlegt worden seien, bestünde in diesem Fall für einen Wahlverteidiger kein Erstattungsanspruch; der Pflichtverteidiger dürfe insoweit nicht bessergestellt werden. Werde die Berufung zurückgenommen, so sei davon auszugehen, dass schon die Einlegung nicht notwendig gewesen sei. Das AG ist dem gefolgt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Pflichtverteidigers hatte Erfolg. Das LG hat sowohl die Nr. 4124 VV RVG als auch die Nr. 4141 VV RVG gewährt.

II. Entscheidung

(Verfahrens-)Gebühren für das Berufungsverfahren

Sowohl die Verfahrensgebühr für die Berufung Nr. 4124 VV RVG als auch die Gebühr für die Berufungsrücknahme Nr. 4141 Anm. 1 S. 1Nr. 3 VV RVG sind nach Ansicht des LG entstanden.

Nr. 4141 VV RVG

Letztgenannte Gebühr entstehe gemäß Nr. 4141 Anm. 2 VV RVG nur dann nicht, wenn eine auf die Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit des Verteidigers nicht ersichtlich ist, was hier nicht der Fall ist.

Nr. 4124 VV RVG

Zur Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG merkt das LG an, dass die Berufungseinlegung selbst sowie die beratende Tätigkeit vor der Einlegung mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten würden, Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels aber über die Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz (vgl. KG, Beschl. v. 20.1.2009 – 1 Ws 382/08, AGS 2009, 389 = RVGreport 2009, 346 = VRR 2009, 277 = AGS 2009, 389 = RVGprofessionell 2009,169 = StRR 2009, 399). Nach Aktenlage habe der Verteidiger nach der Berufungseinlegung sowohl mehrere Beratungsgespräche mit seinem Mandanten geführt als auch die Sach- und Rechtslage mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert, sodass ein Tätigwerden nach Berufungseinlegung vorliege.

Notwendiges Verteidigerhandeln

Wie der Vertreter der Staatskasse in seiner Stellungnahme zutreffend ausführe, sei die Frage, ob Gebührenansprüche des Verteidigers entstanden seien, grundsätzlich von der Frage zu unterscheiden, ob diese auch von der Staatskasse zu erstatten seien. Hier habe jedoch eine Erstattung zu erfolgen, weil das Tätigwerden des Verteidigers im Rahmen des Berufungsverfahrens – entgegen der Ansicht des Vertreters der Staatskasse und des AG – „notwendiges Verteidigerhandeln“ darstelle.

Soweit das AG auf einen Vergleich mit einem Wahlverteidiger abstelle und ausführe, dass der Pflichtverteidiger keine Erstattung verlangen könne, weil er ansonsten besser stehe als der Wahlverteidiger, der – aufgrund der vollständigen Kostentragung des Angeklagten bei Berufungsrücknahme – keinen Erstattungsanspruch habe, trage diese Argumentation nicht. Zum einen handele es sich um andere, nicht vergleichbare Konstellationen, zum anderen hätte sie zur Konsequenz, dass der Pflichtverteidiger in keinem Fall, in dem sein Mandant verurteilt werde und dementsprechend die Kosten zu tragen habe, eine Erstattung verlangen könnte. Auch der Begründung des Vertreters der Staatskasse, dass sich schon aus der Rücknahme des Rechtsmittels ergebe, dass dessen Einlegung nicht notwendig gewesen sei, könne die Kammer nicht folgen.

Vorsorgliche Berufungseinlegung

Denkbar wäre – so das LG – allenfalls, die Notwendigkeit des Verteidigerhandelns nach der Berufungseinlegung dann zu verneinen, wenn die Berufungseinlegung allein vorsorglich für den Fall einer Einlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. In einem solchen Fall könnte man – in Anlehnung an die bestehende und in der Erinnerung zitierte Rechtsprechung des OLG Stuttgart (OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.2.2021 – 2 Ws 246/20, AGS 2021, 171), wonach Verteidigertätigkeit auf ein allein von der Staatsanwaltschaft eingelegtes Rechtsmittel noch vor dessen Begründung nicht notwendig und damit nicht erstattungsfähig sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 464a Rn 10 m.w.N.) – möglicherweise von einem nicht notwendigen Verteidigerhandeln ausgehen. Ob diese Rechtsprechung auf eine solche Fallgestaltung übertragen werden kann, könne aber letztlich dahinstehen, da ein solcher Fall nicht vorliege. Der Verteidiger habe im Rahmen seiner Berufungseinlegung zwar ausgeführt, dass diese vor dem Hintergrund erfolge, dass man nicht wisse, ob das Urteil seitens der Staatsanwaltschaft akzeptiert werde. Er habe als weiteren Beweggrund aber auch den Umstand genannt, dass die Einlegung erfolge, um nochmals die Möglichkeit zu haben, sich mit seinem Mandanten zu besprechen. In der Folge habe er deutlich gemacht, dass er sich für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel einlege, erneut mit seinem Mandanten beraten und die Berufung dann ggf. zurücknehmen werde. Dass die Einlegung ausschließlich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt sei, lasse sich dem gerade nicht entnehmen. Dass die eigene Berufung im Falle einer Nichteinlegung der Staatsanwaltschaft wieder zurückgenommen werde, werde zwar als Möglichkeit in Aussicht gestellt, aber keineswegs verbindlich angekündigt.

Nicht von vornherein zwecklos und sinnlos

Auch wenn das AG im erstinstanzlichen Verfahren im Wesentlichen dem Antrag der Verteidigung gefolgt sei, so lasse sich auch daraus nicht entnehmen, dass das Weiterverfolgen der eigenen Berufung (auch ohne gleichzeitige Einlegung der Staatsanwaltschaft) mit dem Ziel, eine für den Mandanten günstigere Entscheidung zu erwirken, von vornherein sinn- oder zwecklos wäre. Das AG habe den Angeklagten zwar – dem Antrag des Verteidigers folgend – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und dabei auch die vom Verteidiger vorgeschlagenen Bewährungsauflagen übernommen, es sei aber auch über den Verteidigerantrag hinausgegangen, indem es eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten ausgesprochen habe, während der Verteidiger eine solche von sieben Monaten beantragt hatte. Hinzu komme, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfenen Taten ausweislich des Protokolls in der Hauptverhandlung zwar weitgehend, aber nicht vollumfänglich eingeräumt habe. Hinsichtlich einer der vier angeklagten Taten habe der Verteidiger zudem eine Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO angeregt, welcher die Staatsanwaltschaft entgegengetreten sei. Schließlich komme hinzu, dass nach Einlegung der Berufung wegen neuerlicher Straffälligkeit ein neues Verfahren seitens der Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten geführt werde und für die Verteidigung nunmehr auch die Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung im Falle der Weiterverfolgung der Berufung zu bedenken gewesen sei. Diese Thematik sei seitens des Verteidigers mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert worden, wobei der Verteidiger dabei noch erklärt habe, dass er sich wegen dieses Umstandes zunächst an einer Berufungsrücknahme gehindert sehe und er die Angelegenheit nochmals mit seinem Mandanten besprechen wolle.

Angesichts dieser Umstände könne man nicht feststellen, dass die Einlegung der Berufung bzw. das weitere Tätigwerden im Berufungsverfahren – auch nachdem bekannt gewesen sei, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt habe – nicht notwendig gewesen wäre. Dies gelte umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliege und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheine.

III. Bedeutung für die Praxis

Eine schöne und richtige Entscheidung, zu der Folgendes anzumerken ist:

Richtige „Verteilung“ der erbrachten Tätigkeiten

1. Das LG „verteilt“ die vom Verteidiger, der auch im Ausgangsverfahren tätig war, in Zusammenhang mit einem Rechtsmittel zu erbringenden Tätigkeiten zutreffend: Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten, was aus § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG folgt. Alle Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels werden aber von der jeweiligen Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz erfasst, was sowohl für das Berufungsverfahren gilt (Nr. 4124 VV RVG) als auch für das Revisionsverfahren (Nr. 4130 VV RVG) (vgl. KG RVGreport 2009, 346 = VRR 2009, 277 = AGS 2009, 389 = RVGprofessionell 2009, 169 = StRR 2009, 399; NStZ 2017, 305 = StraFo 2016, 513 = RVGreport 2017, 237; LG Aurich RVGreport 2013, 60 = AGS 2013, 174 = RVGprofessionell 2013, 10 = StRR 2013, 159; AG Halle, Beschl. v. 16.6.2021 – 322 Ds 370 Js 16649/20, AGS 2022, 516 = VRR 4/2022, 32), wobei eine nach außen erkennbare Tätigkeit nicht erforderlich ist (u.a. OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.1.2023 – 1 Ws 309/22, AGS 2023, 80). Das ist ständige Rechtsprechung aller – soweit ersichtlich – damit bisher befassten Gerichte.

Notwendigkeit der Tätigkeiten

2. Um die Frage der Notwendigkeit der Tätigkeiten im Rechtsmittelverfahren wird in der Rechtsprechung hingegen heftig gestritten. Dabei geht es aber meist um den Fall, dass die Staatsanwaltschaft ein von ihr eingelegtes Rechtsmittel vor dessen Begründung zurücknimmt. Dann wird häufig dahin argumentiert, dass bis dahin schon erbrachte Tätigkeiten des Verteidigers, die zum Entstehen der Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz geführt haben, nicht notwendig gewesen seien und daher die Verfahrensgebühr nicht zu erstatten sei (so u.a. die vom Vertreter der Landeskasse zitierte Entscheidung des OLG Stuttgart a.a.O.). Dass das falsch ist, habe ich bereits mehrfach dargelegt (vgl. zuletzt die Anmerkung zu OLG Stuttgart a.a.O.).

Mit der Frage haben wir es hier aber nicht zu tun, sodass der Vergleich des Vertreters der Staatskasse zwischen Wahlanwalt und Pflichtverteidiger hinkt, was das LG richtig erkannt hat. Hier ging es vielmehr darum, dass der Verteidiger bei der Einlegung seiner Berufung darauf hingewiesen hatte, dass die Einlegung zunächst nur fristwahrend erfolge, um dem Mandanten die Möglichkeit zu geben, sich erneut mit ihm zu besprechen, was vor dem Hintergrund, dass die Staatsanwaltschaft im Hauptverhandlungstermin eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung beantragt und in der Hauptverhandlung nach Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe keinen Rechtsmittelverzicht erklärt hatte, verständlich war. Daraus und aus der später erfolgten Berufungsrücknahme nun den Schluss ziehen zu wollen – was der Vertreter der Staatskasse tut –, dass deshalb die Verfahrensgebühren für das Berufungsverfahren nicht entstanden seien, ist m.E. abwegig. Entscheidend ist – und darauf will das LG auch wohl abstellen – die Sicht ex ante. Aus der Sicht war die Berufungseinlegung aber notwendig, schon um ggf. in Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft nach Rücknahme einer ggf. von dort aus eingelegten Berufung über die beiderseitige Rücknahme verhandeln zu können. Dass das nicht erforderlich geworden ist, weil die Staatsanwaltschaft keine Berufung eingelegt hat, führt nicht zum Wegfall der entstandenen Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren. Das ist der Rechtsgedanke des § 15 Abs. 4 RVG.

Wohltuend ist in dem Zusammenhang der Hinweis des LG, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliege und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheine. Das liest man leider viel zu selten und das wird leider noch viel seltener beachtet.

Aber: Vorsicht!

3. Aber: Dem Verteidiger ist bei aller Freude über die Entscheidung dennoch Vorsicht angeraten. Denn sie ist kein Freibrief für Verteidigerhandeln im Rechtsmittelverfahren. Das LG lässt m.E. deutlich erkennen, dass es ggf. zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre, wenn der Verteidiger die Rücknahme der Berufung verbindlich angekündigt hätte, falls die Staatsanwaltschat ein ggf. von ihr eingelegtes Rechtsmittel wieder zurücknimmt. Gerettet hat den Verteidiger hier der Umstand, dass man auch in dem Fall die Sach- und Rechtslage noch einmal mit dem Mandanten erörtern wollte. Das sollte bei der Rechtsmitteleinlegung beachtet und ggf. ausgeführt werden.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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