Beitrag

Gebührenrechtliche Auswirkungen der rückwirkenden Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung

1. Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt nicht dazu, dass die Bestellung von Anfang an entfällt. Vielmehr tritt diese Wirkung erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein.

2. Damit hat der Beschwerdeführer gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gemäß § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten sind.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.7.2023Ws 133/23

I. Sachverhalt

Kipo-Verfahren anhängig

Bei der Staatsanwaltschaft war seit dem 11.1.2021 ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wegen Besitzes von Jugendpornographie anhängig. Mit Schriftsatz vom 7.12.2020 zeigte der Rechtsanwalt die Verteidigung des Beschuldigten gegenüber der Kriminalpolizei an und beantragte Akteneinsicht. Mit Verfügung vom 12.1.2021 erhielt der Verteidiger Akteneinsicht und die Möglichkeit zur Stellungnahme bis 26.1.2021. Auf seinen Antrag wurde die Stellungnahmefrist bis 19.2.2021 verlängert und Akteneinsicht in ein Sonderheft auf der Geschäftsstelle bewilligt. Die Akteneinsicht in den Sonderband erfolgte am 17.2.2021.

Einstellung des Verfahrens und Pflichtverteidigerbestellung

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 19.2.2021 beantragte der Beschuldigte die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, da nicht eindeutig feststellbar sei, ob die auf beschlagnahmten Lichtbildern abgebildeten Personen überhaupt jugendlich seien und der Beschuldigte die abgebildeten Personen für minderjährig gehalten habe. Am 24.2.2021 beantragte der Beschuldigte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23.2.2021, dass ihm dieser als Pflichtverteidiger beigeordnet werde. Nachdem die Akte am 2.3.2021 bei der Staatsanwaltschaft in den Rücklauf gelangte, stellte diese das Verfahren mit Verfügung vom 3.3.2021 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Im Anschluss sandte die Staatsanwaltschaft die Akte an das AG zur Entscheidung über den Pflichtverteidigerantrag. Das AG Amberg bestellte dem Beschuldigten mit Beschluss vom 8.3.2021 den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger. Aus den Gründen ist ersichtlich, dass dies zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts erfolgte.

Aufhebung der Bestellung durch das LG

Gegen diesen der Staatsanwaltschaft am 9.3.2021 zugestellten Beschluss legte sie noch am gleichen Tag sofortige Beschwerde ein und beantragte, den angefochtenen Beschluss aufzuheben. Mit Beschluss vom 8.4.2021 hat das LG auf die sofortige Beschwerde hin den Beschluss vom 8.3.2021 aufgehoben und lehnte die Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ab.

Pflichtverteidigergebühren werden von AG und LG nicht festgesetzt

Der Rechtsanwalt hat nun gegenüber der Staatskasse seine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat den Vergütungsfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Erinnerung hat das AG Amberg zurückgewiesen (vgl. AGS 2022, 506). Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Rechtsanwalts hatte beim LG Amberg keinen Erfolg (vgl. AGS 2023, 116). Die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts führte zur Festsetzung der Gebühren des Pflichtverteidigers.

II. Entscheidung

Bestellung als Pflichtverteidiger zunächst wirksam

Der Rechtsanwalt sei, so das OLG, mit Beschluss des AG vom 8.3.2021 wirksam als Pflichtverteidiger gemäß § 142 Abs. 2 StPO bestellt worden. Für die Wirksamkeit der Bestellung komme es nicht darauf an, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen. Werde die Bestellung angeordnet, sei diese, jedenfalls zunächst, wirksam. Mit der Bestellung werde eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers zur sachgerechten Mitwirkung am Strafverfahren begründet (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, § 142 Rn 18), und zwar unabhängig davon, ob die Bestellungsentscheidung rechtskräftig werde. § 307 Abs. 1 StPO ordne an, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde. Es liege auch kein Fall vor, in dem gesetzlich ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung angeordnet werde. Dies entspreche im Übrigen auch den Praxisanforderungen bei der Pflichtverteidigerbestellung: Nach §§ 141, 141a StPO sei in den Fällen der notwendigen Verteidigung bei verschiedenen Maßnahmen die oftmals kurzfristige Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, deren Rechtskraft nicht abgewartet werden könne. Entsprechend dürfe der Pflichtverteidiger darauf vertrauen, für solche Tätigkeiten auch vergütet zu werden.

Kein Entfallen der Bestellung von Anfang an durch spätere Aufhebung

Die spätere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft habe nicht dazu geführt, dass die Bestellung von Anfang an entfallen sei. Vielmehr trete diese Wirkung erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein. Grundsätzlich habe die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zur Folge, dass diese seit dem Zeitpunkt ihres Erlasses, also rückwirkend, keine Wirkung entfaltet. Zwar habe der Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 StPO keine davon abweichende Regelung für den Fall getroffen, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aufgehoben werde. Nach dem Sinn und Zweck der in § 141 Abs. 1 und 2 StPO angeordneten unverzüglichen oder kurzfristigen Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Regelung in § 307 Abs. 1 StPO, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde, sei § 142 Abs. 7 StPO aber ergänzend dahingehend auszulegen, dass der wirksam, aber nicht rechtskräftig bestellte Pflichtverteidiger erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung durch das Beschwerdegericht entpflichtet werde. So bestehe zum einen kein Zweifel an der Wirksamkeit der bis dahin vorgenommenen Handlungen des Pflichtverteidigers und zum anderen werde so das Vertrauen des Pflichtverteidigers in seine Bestellung und damit die Begründung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse geschützt (vgl. Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2400).

Diese Auslegung sei nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Pflichtverteidiger im Vertrauen auf die Bestellung tatsächlich tätig werde Auch wenn der Pflichtverteidiger zwischen Bestellung und Entpflichtung durch das Beschwerdegericht nicht tätig werde, liege für diesen Zeitraum eine wirksame Bestellung vor.

Damit habe der Rechtsanwalt gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gemäß § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten seien. Dies sei Folge der wirksamen Pflichtverteidigerbestellung durch das AG, ohne dass es darauf ankomme, ob diese geboten gewesen sei.

Höhe der festzusetzenden Gebühren

Auf der Grundlage hat das OLG dann die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG und die zusätzliche Gebühr Nr. 4141 Anm. S. 1 Nr. 1, 4106 VV RVG) nebst Auslagen festgesetzt.

III. Bedeutung für die Praxis

Richtig entschieden

Es hat lange gedauert, bis von der falschen Entscheidung des AG Amberg (AGS 2022, 506) über die ebenso falsche Beschwerdeentscheidung des LG Amberg (vgl. AGS 2023, 116) nun endlich das OLG Nürnberg einen Schlussstrich gezogen und die richtige Entscheidung getroffen hat. Mit dieser OLG-Entscheidung liegt dann (endlich) die erste obergerichtliche Entscheidung zu der Problematik vor. Bisher hatten nur das LG Kaiserslautern (RVGreport 2019, 135 = JurBüro 2019, 245 = RVGprofessionell 2019, 111) und das AG Osnabrück (Beschl. v. 11.10.2021 – 202 Ds (211 Js 11318/21) 235/21, AGS 2021, 548 = RVGprofessionell 2022, 18) in dem richtigen Sinn, also wie das OLG, entschieden. Man fragt sich allerdings, warum in der Frage überhaupt der Weg zum OLG erforderlich war und ob nicht AG, LG und die beteiligten Vertreter der Staatskasse auch ohne Nachhilfe aus Nürnberg auf die richtige Lösung hätten kommen können. Oder anders: Warum meint man eigentlich, dass man den Rechtsanwalt zunächst als Pflichtverteidiger in Anspruch nehmen kann, dann die Bestellung aufhebt und dem „geschassten Pflichtverteidiger“ sagt: „War ja schön, dass du zur Verfügung gestanden hast, aber Gebühren bekommst du nicht!“ Also: Außer Spesen nichts gewesen. Dass das nicht richtig sein kann, liegt m.E. auf der Hand. Das folgt im Übrigen nicht nur aus der erweiternden Auslegung des § 142 Abs. 7 StPO, die das OLG vornimmt, sondern auch aus dem Gebührenrecht, nämlich aus § 15 Abs. 4 RVG und dem daraus abzuleitenden Grundsatz, dass einmal entstandene Gebühren durch nachträgliche Änderungen/Ereignisse im Verfahren nicht wieder wegfallen. Und Gebühren waren hier beim Pflichtverteidiger schon durch die Akteneinsicht entstanden, nämlich die Nrn. 4100, 4104 VV RVG. Der Entstehungszeitpunkt lag zwar vor der Bestellung, die Tätigkeiten werden dem Pflichtverteidiger aber über § 48 Abs. 6 S. 1 RVG vergütet. Auch insoweit hat das OLG Recht. Daher kommt es, was ebenfalls zutreffend ist, auf die Frage, ob der Rechtsanwalt nach seiner Bestellung noch tätig geworden ist, nicht an. Im Übrigen war der Rechtsanwalt aber auch noch tätig geworden. Denn er hatte zumindest den Bestellungsbeschluss des AG entgegengenommen und im Zweifel auch im Beschwerdeverfahren Stellung genommen. Das reicht für die Gebühren Nrn. 4100, 4104 VV RVG.

Zusätzliche Verfahrensgebühr

Eine kleine Anmerkung zur festgesetzten zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 S. 1 Nr. 1 VV RVG: Deren Festsetzung erscheint überraschend. Aber das nur auf den ersten Blick. Denn das OLG hat – stillschweigend – darauf abgestellt, dass der Pflichtverteidiger hier einen begründeten Einstellungsantrag gestellt hatte, was für das Entstehen der zusätzlichen Verfahrensgebühr ausreicht (LG Potsdam JurBüro 2013, 189 = RVGreport 2013, 275 = AGS 2013, 280 [für Bußgeldverfahren]; AnwKomm-RVG/N. Schneider, 9. Aufl. 2021, VV 4141 Rn 30 ff.; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 4141 VV Rn 14. f.).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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