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Ausschluss der Haftentschädigung wegen grober Fahrlässigkeit

Liegt einer Erklärung des Beschuldigten im Strafverfahren, durch die er sich selbst belastet, ein Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht gemäß §§ 136 Abs. 1, 163a StPO zugrunde, rechtfertigt diese Selbstbelastung, wenn sie zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme geführt hat, nicht ohne Weiteres den Vorwurf einer grob fahrlässigen Verursachung einer Strafverfolgungsmaßnahme.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Köln, Beschl. v. 1.8.20232 Ws 654/22

I. Sachverhalt

Wahrheitswidrige Selbstbelastung

Der ehemalige Angeklagte wurde im Rahmen eines zunächst gegen andere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahrens am 17.2.2021 wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vorläufig festgenommen und befand sich seit dem 18.2.2021 in Untersuchungshaft, bis er im Oktober 2021 von deren weiterem Vollzug verschont wurde. Hintergrund der Verhaftung war u.a., dass im Rahmen einer Durchsuchung in der von dem ehemaligen Angeklagten mit seinem Bruder, einem Mitbeschuldigten des Ermittlungsverfahrens, gemeinsam bewohnten Wohnung sowie in einem Fahrzeug des Angeklagten Marihuana und an verschiedenen Orten deponiertes Bargeld aufgefunden worden war. Hinsichtlich der in seinem Fahrzeug befindlichen Menge von etwa zwei Kilogramm Marihuana äußerte der Angeklagte im Verlauf der Durchsuchung gegenüber einer Polizeibeamtin, dass alles, was in seinem Fahrzeug sei, ihm gehöre.

Freispruch, aber teilweise keine Haftentschädigung

In der Folgezeit hat die Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten und dessen Bruder Anklage wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Btm in nicht geringer Menge auch hinsichtlich dieser Handelsmenge erhoben. Das LG hat den Angeklagten hiervon – wie auch in Bezug auf eine weitere Tat – mit Urteil vom 19.7.2022 freigesprochen. In diesem Rahmen hat es festgestellt, dass der Angeklagte wegen der erlittenen Untersuchungshaft für die Zeit ab dem 27.5.2021 bis zu der Aufhebung des Haftbefehls – auch soweit dieser im Oktober 2021 außer Vollzug gesetzt wurde – zu entschädigen sei. Für den Zeitraum vom 17.2.2021 bis zum 26.5.2021 hat sie demgegenüber eine Entschädigung versagt. Durch seine Angaben gegenüber der Polizeibeamtin habe sich der Angeklagte wahrheitswidrig selbst belastet und die Strafverfolgungsmaßnahme jedenfalls grob fahrlässig verursacht. Zwar sei der Angeklagte vor seiner Äußerung trotz bestehender Pflicht zur Belehrung über sein ihm als Beschuldigtem zukommendes Schweigerecht nicht belehrt worden, weshalb diese Äußerung hinsichtlich der Schuld- und Straffrage nicht habe verwertet werden dürfen. Anderes gelte indes für die die Frage, ob die Entschädigung des Beschwerdeführers für die zu Unrecht erlittene Untersuchungshaft gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen sei. Bei dieser Entscheidung gehe es nicht um den Nachweis strafrechtlicher Schuld, sondern um eine auf dem Rechtsgedanken des § 254 BGB beruhende zivilrechtliche Zuordnung.

Rechtsmittel hat beim OLG Erfolg

Der ehemalige Angeklagte hat gegen diese Entscheidung sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er begehrt, auch für den in diesem Zeitraum erlittenen Freiheitsentzug entschädigt zu werden. Zur Begründung trägt er vor, dass die gegenüber der Polizeibeamtin getätigten Angaben einem Verwertungsverbot unterlägen. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg.

II. Entscheidung

Grundsätzlich Annahme von grober Fahrlässigkeit

Das OLG hat – anders als das LG – grobe Fahrlässigkeit i.S.v. § 5 Abs. 2 StrEG verneint. Ein grob fahrlässiges Verhalten i.S.v. § 5 Abs. 2 StrEG liege vor, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme durch sein Verhalten herausgefordert habe. Er müsse in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht gelassen haben, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage anwenden würde, um sich vor Schaden durch die Strafverfolgungsmaßnahme zu schützen (BGH, Beschl. v. 24.9.2009 – 3 StR 350/09). Ob eine derartige schuldhafte Verursachung vorliege, sei ausschließlich nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen (§§ 254 Abs. 1, 276 bis 278 BGB) zu beurteilen (vgl. KG, Beschl. v. 11.1.2012 – 2 Ws 351/11 m.w.N.). Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte nach diesen Maßstäben Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben habe, sei aufgrund des Ausnahmecharakters des § 5 Abs. 2 StrEG ein strenger Maßstab anzulegen (BGH, Beschl. v. 28.6.2022 – 2 StR 229/21, StRR 4/2023, 23). Es reiche daher nicht aus, dass sich der Freigesprochene irgendwie verdächtig gemacht habe, vielmehr müsse er durch eigenes Verhalten einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung des für die Anordnung der Untersuchungshaft erforderlichen dringenden Tatverdachts geleistet haben (BGH, Beschl. v. 24.9.2009 – 3 StR 350/09). In diesem Sinne liege regelmäßig ein grob fahrlässiges Verhalten vor, wenn sich der Beschuldigte gegenüber den Ermittlungsbehörden wahrheitswidrig selbst belaste (vgl. Abramenko, NStZ 1998, 176, 177). Dies gilt umso mehr, je schwerer der Tatvorwurf sei.

Anders bei Verstoß gegen eine strafprozessuale Belehrungspflicht

Liege der entsprechenden Erklärung des Beschuldigten allerdings ein Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht gem. §§ 136 Abs. 1, 163a StPO zugrunde, rechtfertige die Selbstbelastung nicht ohne Weiteres den Vorwurf einer grob fahrlässigen Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahme.

Herrschende Meinung

Allerdings werde z.T. angenommen, dass es für die Feststellung eines grob fahrlässigen Verhaltens unerheblich sein soll, ob hinsichtlich der insoweit maßgeblichen Äußerungen des Beschuldigten ein strafprozessuales Verwertungsverbot wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Beschuldigtenbelehrung besteht, da sich ein solches nur auf den Nachweis des strafrechtlichen Schuldvorwurfs beziehe und die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten sichern solle. Für die im Rahmen des StrEG zu treffenden Annexentscheidungen könne dieses hingegen jedenfalls keine Fernwirkung dahin entfalten, dass von einem generellen Schweigen des Beschuldigten auszugehen wäre. Da es nicht um die Zuweisung strafrechtlicher Schuld, sondern die Zurechnung nach zivilrechtlichen Maßstäben gehe, liege auch kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.7.1997 – 3 Ws 84/96, NStZ 1998, 211; OLG Koblenz, Beschl. v. 22.8.2005 – 2 Ws 507/05, Justizblatt Rh.-Pf. 2005, 223; OLG Rostock, Beschl. v. 8.11.2004 – I Ws 269/04; Burhoff/Kotz, Handbuch. für die strafrechtliche Nachsorge, Teil I Rn 352; MAH Strafverteidigung/Kotz/Arnemann, 3. Aufl., § 29 Rn 93; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 6 Rn 4; MüKo-StPO/Kunz, StrEG §§ 5 Rn 65, 6 Rn 5).

Zu pauschal

Diese Ansicht könne jedoch – so das OLG – in ihrer Pauschalität nicht überzeugen, jedenfalls soweit hiermit auch die Auffassung verbunden sein sollte, dass der Inhalt von unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommenen Erklärungen im Rahmen von Entscheidungen über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen verwertbar sein soll. Gem. § 8 Abs. 1 StrEG sei die Entscheidung über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen dem Strafgericht zugewiesen. Hieraus folge, dass sich dieses Verfahren nach den Vorschriften der StPO richte. Bereits dies lege eine einheitliche Behandlung der strafprozessrechtlichen Beweisverwertungsverbote jedenfalls für diejenigen gerichtlich zu treffenden Endentscheidungen nahe, die – wie hier – eine dem Angeklagten belastende Wirkung entfalten können (vgl. Abramenko, NStZ 1998, 176, 177). Dies gelte umso mehr, als die Grundentscheidung über die Entschädigung des Beschuldigten bzw. freigesprochenen Angeklagten nach dem gesetzlichen Leitbild gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 StrEG in dem Urteil oder dem Beschluss, der das Verfahren abschließt, getroffen werden soll; sie sei insoweit Teil des Rechtsfolgenausspruchs (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn 31). Wäre eine für den Schuld- und Strafausspruch unverwertbare Äußerung des Beschuldigten im Rahmen der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 StrEG stets uneingeschränkt verwertbar, müsste sich die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) auch auf deren Inhalt erstrecken. Das Gericht wäre im Strafprozess daher selbst dann zur Aufklärung des Inhalts der Erklärung verpflichtet, wenn das Bestehen eines Verwertungsverbots für den Schuld- und Strafausspruch bereits unzweifelhaft feststünde. Dies könne nicht überzeugen.

Zweck der Belehrungspflicht

Hierfür spreche auch der Zweck der Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 StPO. Das Gesetz setze die Kenntnis über die Aussagefreiheit beim Bürger nicht voraus, sondern verlange die ausdrückliche Aufklärung hierüber. Die Belehrungspflicht sichere die verfahrensrechtliche – verfassungsrechtlich garantierte – Stellung des Beschuldigten in elementarer Weise ab (vgl. BGHSt 38, 214). Aufgrund dessen sei an die unterlassene Belehrung regelmäßig ein strafprozessuales Verwertungsverbot geknüpft (vgl. BGH a.a.O.; LR/Gleß, StPO, 27. Aufl., § 136 Rn 77). Soweit die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten betroffen sei, schütze die Belehrungspflicht den Beschuldigten zwar nicht davor, dass die Strafverfolgungsbehörden gleichwohl gegen ihn gerichtete Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen treffen. Sie sichere ihn aber (auch) davor, nicht unbedacht an derartigen Maßnahmen mitzuwirken. Gerade dies sei aber – u.a. – zentraler Gegenstand bei der Frage des Bestehens von Ausschluss- bzw. Versagensgründen nach §§ 5 Abs. 2, 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG. Insoweit sei im Übrigen auch in der Rechtsprechung des BGH anerkannt, dass Äußerungen des Beschuldigten, denen ein Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung nach §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2 StPO vorangegangen sei, schon im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Tatverdachtsprüfung nach § 112 Abs. 1 StPO einem von Amts wegen zu prüfenden Verwertungsverbot unterliegen (vgl. BGH, Beschl. v. 6.6.2019 – StB 14/19, NStZ 2019, 539; s. zur Frage der Früh- bzw. Vorauswirkung von Beweisverwertungsverboten auch LR/Mavany, StPO, 27. Aufl., § 152 Rn 33; MüKo-StPO/Kölbel, StPO § 160 Rn 37). Dies diene u.a. auch dem Schutz des Beschuldigten vor auf nicht tragfähiger Grundlage beruhenden Strafverfolgungsmaßnahmen und den hiermit einhergehenden Grundrechtseingriffen, die sich im Fall der Freiheitsentziehung überdies als besonders intensiv darstellen.

Materiellrechtlich

Auch materiellrechtlich überzeuge es nicht, die trotz unterlassener Belehrung gemachten Angaben des Beschuldigten im Rahmen der Prüfung nach § 5 Abs. 2 StrEG stets inhaltlich zu dessen Nachteil zu berücksichtigen, indem sie als Anknüpfungspunkt für ein grob fahrlässiges Verhalten herangezogen werden. Maßstab für die Frage, ob eine grob fahrlässige Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahme vorliegt, sei der objektive Maßstab eines verständigen Menschen in der Lage des Beschuldigten. Setze das Gesetz die Kenntnis über die Aussagefreiheit beim Bürger aber – wie dargelegt – nicht voraus, so könne im Rahmen der gebotenen objektiven Betrachtung eine Selbstbelastung aber nicht ohne Weiteres als die Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße außer Acht lassend angesehen werden.

Anwendung auf den Einzelfall

Nach diesen Maßstäben war nach Auffassung des OLG hier nicht von einer grob fahrlässigen Verursachung der Anordnung der Untersuchungshaft durch den ehemaligen Angeklagten auszugehen. Angesichts der fehlenden Verwertbarkeit des Inhalts seiner gegenüber der Polizeibeamtin. gemachten Angaben lasse sich schon kein (weiterer) Beitrag des Angeklagten feststellen, der für die Anordnung der Untersuchungshaft ursächlich geworden war. Gegen die Berücksichtigung des Verwertungsverbots spreche insoweit im Übrigen auch nicht, dass der Angeklagte sich mit der einem Verwertungsverbot unterliegenden Äußerung möglicherweise – zum Schutz seines Bruders – wahrheitswidrig selbst belastet hatte. Dem Urteil des LG insoweit sei zwar zu entnehmen, dass dieses, auch wenn es den Angeklagten hinsichtlich einer Beihilfe zum Handeltreiben nur mit Blick auf den Zweifelssatz freigesprochen habe, aufgrund der in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt gewesen sei, dass das im Fahrzeug des Angeklagten aufgefundene Marihuana nicht diesem, sondern einem gesondert verfolgten C E gehört hatte. Es sei aber nicht ausschließen, dass der Angeklagte, wäre er vor seiner Äußerung gegenüber der Polizeibeamtin ordnungsgemäß belehrt worden, geschwiegen hätte und gegen ihn mangels weiterer tragfähiger Beweismittel kein Haftbefehl ergangen wäre (vgl. zur Anwendung des Zweifelssatzes im Rahmen von § 5 Abs. 2 StrEG: KG, Beschl. v. 8.7.2021 – 5 Ws 104/21, StV-S 2023, 40, m.w.N.).

III. Bedeutung für die Praxis

Zur Nachahmung empfohlen

Das StrEG sieht, wenn der Beschuldigte unrechtmäß0g in Untersuchungshaft gekommen ist, ggf. eine Entschädigung von inzwischen 75 EUR/Tag vor. Allerdings muss der Beschuldigte zunächst die Hürde des § 5 Abs. 2 StrEG überspringen, der dann, wenn der Beschuldigte die Zwangsmaßnahme selbst grob fahrlässig verursacht hat, einen Ausschlussgrund enthält (dazu eingehend Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 1755; Kotz, in: Burhoff/Kotz (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil I Rn 280 ff. m.w.N.). Diese Hürde ist hoch. Das OLG Köln hat die Latte jetzt ein wenig niedriger gelegt. Es wendet sich dabei zwar von der h.M. in Rechtsprechung und Literatur in der Frage der falschen Selbstbelastung teilweise ab, m.E. aber mit überzeugender Begründung. Denn es ist nun wirklich nicht einzusehen und nachzuvollziehen, warum eine Äußerung, die im „eigentlichen“ Strafverfahren wegen eines Beweisverwertungsverbotes nicht verwertet darf, nun dem Beschuldigten entgegengehalten werden können soll. Entweder-oder, bzw.: Wenn ich die Selbstbelastung nicht im Strafverfahren verwenden darf, dann m.E. auch nicht bei der Strafrechtsentschädigung. Dabei gilt das allerdings nicht für jede Selbstbelastung, sondern nur für die „kontaminierte“, die also durch eine Nicht- bzw. Falschbelehrung verursacht worden ist. Man kann nur hoffen, dass sich alsbald viele Gerichte dieser differenzierten Auffassung des OLG Köln anschließen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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