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Abgeltungsbereich der Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren

Die anwaltliche Prüfung der Erfolgsaussichten der Revision und die auftragsgemäße Erklärung der Rücknahme des Rechtsmittels lösen auch dann die Verfahrensgebühr gemäß Nrn. 4130, 4131 VV RVG aus, wenn der Verteidiger bereits erstinstanzlich tätig war.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.6.20232 Ws 87/23

I. Sachverhalt

Revision wieder zurückgenommen

Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger in der ersten Instanz beim LG. Er hat gegen das Urteil des LG Revision eingelegt, diese dann aber nach Zustellung der Urteilsgründe wieder zurückgenommen. Für seine Tätigkeit im Revisionsverfahren hat er die Verfahrensgebühr Nrn. 4130, 4131 VV RVG geltend gemacht.

Streit um die Nr. 4130 VV RVG

Das LG hat die Gebühr antragsgemäß festgesetzt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Bezirksrevisors, der die Auffassung vertritt, dass die den Revisionsrechtszug betreffende Verfahrensgebühr nicht entstanden sei, weil die Einlegung der Revision durch die erstinstanzliche Verfahrensgebühr abgegolten werde und dies auch die Prüfung der Erfolgsaussichten und die Rechtsmittelrücknahme einschließe. Das Rechtsmittel hatte beim OLG keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren

Das LG war davon ausgegangen, dass die anwaltliche Prüfung der Erfolgsaussichten der Revision und die auftragsgemäße Erklärung der Rücknahme des Rechtsmittels die Verfahrensgebühr gemäß Nrn. 4130, 4131 VV RVG auch dann auslösen, wenn der Verteidiger wie hier bereits erstinstanzlich tätig war (ebenso KG, Beschl. v. 20.1.2009 – 1 Ws 382/08; Toussaint/Felix, Kostenrecht, 53. Aufl. 2023, RVG VV Teil 4 Rn 12; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, VV 4130, 4131 Rn 5–7; AnwKomm-RVG/N. Schneider, RVG, 9. Aufl. 2021, VV 4130–4131 Rn 7; Bischof/Jungbauer/Kerber, RVG, 9. Aufl. 2021, Nrn. 4106–4135 VV Rn 93a; a.A. ohne nähere Begründung OLG Dresden, Beschl. v. 13.3.2014 – 2 Ws 113/14, AGS 2014, 221 mit ablehnender Anm. N. Schneider, AGS 2014, 221).

Einlegung der Revision gehört zur ersten Instanz

Dem schließt sich das OLG an. Dass die bloße Einlegung der Revision durch den bereits erstinstanzlich tätigen Verteidiger mit den hierfür in der ersten Instanz entstehenden Gebühren bereits abgegolten wird (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG) und eine Revisionsbegründung nicht erstellt wurde, schließe die Entstehung der Gebühr gemäß Nrn. 4130, 4131 VV RVG hier nicht aus, denn diese Gebühr falle nicht erst mit der Begründung der Revision an. Dass nach dem Willen des Gesetzgebers mit der Gebühr „insbesondere“ die Fertigung der Revisionsbegründung als „Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit“ vergütet werden solle (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 226), stehe dem nicht entgegen und besage nicht, dass neben der Revisionseinlegung auch die nähere Prüfung der Erfolgsaussichten bereits durch erstinstanzliche Gebührentatbestände abgegolten sei. Die revisionsspezifische Prüfung der Erfolgsaussichten etwaiger Revisionsangriffe wegen einer Verletzung materiellen Rechts bzw. des Verfahrensrechts und deren Besprechung mit dem insoweit zu beratenden Angeklagten sei notwendige Voraussetzung für die Entscheidung über die Durchführung des Revisionsverfahrens sowie das Erstellen einer Revisionsbegründung und hänge hiermit unmittelbar und denklogisch zusammen. Es erschließe sich deshalb nicht, wieso nicht bereits die – unter Umständen einen ganz erheblichen Aufwand verursachende – anwaltliche Prüfung der konkret revisionsrechtlich eröffneten Anfechtungsmöglichkeiten die Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren nicht auslösen solle, sondern erst die Fertigung der Rechtsmittelbegründung, zumal für diese Unterscheidung die geltende Gebührenregelung konkret nichts hergebe. Dies gilt umso mehr, wenn wie hier das ausgefertigte schriftliche Urteil bereits zugestellt worden sei und zur Prüfung der Erfolgssichten des Rechtsmittels vom Verteidiger durchgearbeitet werden müsse. Bei dieser Sachlage sei es weder plausibel noch sachgerecht, hinsichtlich der Entstehung des Gebührentatbestandes allein auf die Fertigung einer Revisionsbegründung abzustellen, zumal diese im Einzelfall – z.B. bei alleiniger, den Gebührentatbestand erfüllender Erhebung einer nicht näher ausgeführten Sachrüge (vgl. hierzu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4130 VV Rn 7) – auch nicht zwingend einen gesonderten erheblichen Aufwand erfordern muss.

Alle Tätigkeiten danach gehören zum Revisionsverfahren

Wie das LG zutreffend ausgeführt habe, erfasse der Gebührentatbestand gemäß Vorbem. 4 Abs. 2 VV RVG alle nach Revisionseinlegung vom Rechtsanwalt erbrachten Tätigkeiten, mithin auch die anwaltliche Prüfung und Beratung des Angeklagten über die konkreten Möglichkeiten und Erfolgsaussichten der Revision und die Frage, ob das Revisionsverfahren durchgeführt oder das Rechtsmittel zurückgenommen werden solle, wohingegen nur völlig überflüssige, bedeutungslose und ersichtlich allein zur Auslösung des Gebührentatbestandes veranlasste Prozesshandlungen und ein rein rechtsmissbräuchliches Verhalten ausscheiden und für die Erfüllung des Gebührentatbestandes nicht ausreichen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 17.8. 2006 – 2 Ws 134/06; AGS 2006, 54); der insoweit mögliche Missbrauch von Rechtsmitteln, bei dem die anwaltliche Tätigkeit nicht vom Verteidigungswillen getragen wird, sondern allein dem Vergütungsinteresse diene, sei zwar insoweit nicht auszuschließen und könne im Einzelfall auch nur schwer nachweisbar sein, biete jedoch nach dem geltenden Gebührenrecht allein keine geeignete Grundlage, den Vergütungsanspruch bei diesen Fallgestaltungen generell zu versagen (vgl. KG, Beschl. v. 20.1.2009 – 1 Ws 382/08). Hier habe aber das LG im Hinblick auf den Verfahrensgang mit Recht keine Anhaltspunkte für ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen der Verteidigung gesehen und die geltenden Gebühren – auch der Höhe nach – zutreffend festgesetzt.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

1. Zunächst: Der Entscheidung ist nicht hinzuzufügen, außer, dass LG und OLG zutreffend entschieden haben. Die Entscheidung entspricht der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. dazu die vom OLG angeführten Literaturnachweise). Danach gilt: Die Einlegung der Revision gehört nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG für den Verteidiger, der in dem vorhergehenden Rechtszug bereits tätig war, noch zum gerichtlichen Verfahren dieses Rechtszuges (KG NStZ 2017, 305 = StraFo 2016, 513 = RVGreport 2017, 237; OLG Hamm a.a.O.; LG Heidelberg, Beschl. v. 9.5.2023 – 12 Qs 16/23 [für die Berufung]; LG Osnabrück RVGreport 2019, 339; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4.1 VV Rn 38 ff.). Jede danach für den Mandanten erbrachte Tätigkeit führt aber zur Verfahrensgebühr des Rechtsmittelverfahrens, also im Berufungsverfahren zur Nr. 4124 VV RVG bzw. im Revisionsverfahren zur Nr. 4130 VV RVG (OLG Jena JurBüro 2006, 365 [für die Akteneinsicht]; LG Osnabrück a.a.O. [für Revisionsrücknahme und Prüfung der Erfolgsaussichten]). Das gilt im Übrigen auch dann, wenn der Angeklagte nach Rechtskraft des Urteils infolge Rechtsmittelverzichts im Hauptverhandlungstermin eine (unzulässige) Revision einlegt und in dem „Nachtragsverfahren“ der Rechtsanwalt Tätigkeiten entfaltet (LG Tübingen StraFo 2007, 175).

Unsinniges Rechtsmittel des Bezirksrevisors

2. Man fragt sich unter Zugrundelegung dieses eindeutigen Meinungsbildes in Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf das Rechtsmittel des Bezirksrevisors, was ein solches Rechtsmittel eigentlich soll? Warum kann nicht einfach auch ein Bezirksrevisor eine herrschende Meinung akzeptieren, auch wenn sie für die Staatskasse, die zahlen muss, nachteilig ist? Man würde damit nicht nur sich, sondern auch den Gerichten, die immer wieder dieselben Fragen entscheiden müssen, eine Menge Arbeit ersparen, die besser für andere Fragen aufgewendet werden könnte. Oder hat es damit zu tun, dass Bezirksrevisoren – den Eindruck habe ich, und nicht nur ich – offenbar nicht belehrbar und/oder auch nicht lernfähig sind oder sein wollen? Anders machen solche unsinnigen Rechtsmittel, wie hier eins vorgelegen hat, keinen Sinn. Das mag ggf. in „Rechtsmissbrauchsfällen“ anders sein. Aber dafür gibt es – so das OLG – „keine Anhaltspunkte“. Warum kann man dann nicht akzeptieren, dass man es hier dann doch wohl mit einem Verteidiger zu tun hatte, der richtig gehandelt und zunächst einmal Rechtsmittel eingelegt hat, dann dessen Erfolgsaussichten anhand des begründeten Urteils prüft und dann das Rechtsmittel zurücknimmt und so dem Revisionsgericht Arbeit erspart? Dass ist doch genau das, was dem Verteidiger immer dann geraten wird, wenn es um die Rücknahme des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft vor dessen Begründung geht. Wobei ich jetzt nicht auch noch das Fass aufmachen will, ob in dem hier entschiedenen Fall ggf. nicht auch die Nr. 4141 VV RVG entstanden ist. Denn die hatte der Verteidiger noch nicht einmal geltend gemacht. Also kann man den Vorwurf der „Gebührenschinderei“ nicht machen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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