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Wiedererkennensproblematik in den Urteilsgründen

Beruht der Tatnachweis im Wesentlichen auf dem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen, ist das Tatgericht aus sachlich-rechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 25.5.20235 StR 483/22

I. Sachverhalt

Verurteilung wegen Handeltreibens mit BtM aufgrund von Zeugenangaben

Das LG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen verurteilt. Das LG hat die Feststellungen zum Tathergang und seine Überzeugung von der Täterschaft des – hierzu schweigenden – Angeklagten maßgeblich auf die Angaben eines Zeugen K gestützt. Allein dieser Zeuge hatte den Angeklagten als Täter identifiziert, allerdings nur anlässlich seiner eigenen polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in einem Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das BtMG. In Rahmen der eigenen BtMG-Geschäfte sei es bei zwei Gelegenheiten zur Übergabe größerer Betäubungsmittelmengen durch „Tschetschenen“, darunter den Angeklagten, gekommen. Der Zeuge habe den gesondert Verfolgten Gr mit dem Pkw zum Übergabeort, einem Hinterhof, gefahren. Dort habe er aus kurzer Entfernung beobachtet, wie drei „Tschetschenen“ zur Abwicklung des Geschäfts in einen dort stehenden Pkw BMW mit Kennzeichen aus B eingestiegen seien. Der gesondert Verfolgte habe die Betäubungsmittel vom „Hauptakteur“ überreicht bekommen. Diesen habe der Zeuge später bei der Polizei „anhand der Lichtbildmappe“ als den Angeklagten identifiziert. Die weiteren Ermittlungen der Polizei ergaben, dass ein Pkw mit B-Kennzeichen auf den Angeklagten zugelassen gewesen war und dieser, so wie vom Zeugen K in Bezug auf den „Verkäufer“ berichtet worden war, „etwas mit Boxen“ zu tun gehabt habe.

Revision erfolgreich

Die gegen diese Verurteilung eingelegte Revision hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft

Die Beweiswürdigung des LG war nach Auffassung des BGH – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschl. v. 6.8.2020 – 1 StR 178/20, NStZ 2021, 184, 185 m.w.N.) rechtsfehlerhaft.

Täterbeschreibung beim Wiedererkennen im Urteil?

In schwierigen Beweislagen, zu denen – so der BGH – Konstellationen zählen, in denen – wie hier – der Tatnachweis im Wesentlichen auf dem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen beruhe, sei das Tatgericht aus sachlich-rechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2003 – 2 BvR 2045/02, NJW 2003, 2444, 2445; BGH, Beschl. v. 8.2.2023 – 6 StR 516/22, NStZ 2023, 250; v. 3.3.32021 – 2 StR 11/21, v. 29.11.2016 – 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90 f.; v. 1.10.2008 – 5 StR 439/08, NStZ 2009, 283). Um die tatgerichtliche Würdigung nachvollziehen zu können, bedürfe es zudem eines Abgleichs der Beschreibung des Zeugen mit dem Erscheinungsbild des Angeklagten (BGH, Beschl. v. 25.1.2006 – 5 StR 593/05, NStZ-RR 2006, 212). Diesen Anforderungen werde die Beweiswürdigung nicht gerecht.

Hier fehlen Angaben zum Wiedererkennensprozess

Im Urteil fehlen – so der BGH – jegliche Angaben dazu, welche Merkmale oder Ausprägungen der Erscheinung des Angeklagten den Zeugen K im Zeitpunkt seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in die Lage versetzt haben sollen, ihn „anhand einer Lichtbildmappe“ wiederzuerkennen. Darüber hinaus gebe es im Urteil keine Täterbeschreibung. Schon aus diesen Gründen leide die Beweiswürdigung unter erheblichen Lücken. Dies gelte umso mehr, als der Zeuge den Angeklagten in der Hauptverhandlung „nicht direkt als den von ihm identifizierten Täter benennen“ wollte. Besondere Anforderungen an die Darlegungen des Identifizierungsvorgangs hätten sich hier aber auch zusätzlich daraus ergeben, dass der Zeuge den Angeklagten vor den festgestellten Betäubungsmittelübergaben nicht kannte. Dies folge aus seinem Bekunden, wonach ihm der gesondert Verfolgte die „Tschetschenen“ als „neue Geschäftspartner“ präsentiert habe, bevor es zu dem Treffen auf dem Hinterhof gekommen sei. Für derartige Identifizierungsleistungen gelte: Habe ein Zeuge eine ihm zuvor unbekannte Person nur kurze Zeit beobachten können, dürfe sich das Tatgericht nicht ohne Weiteres auf dessen subjektive Gewissheit beim Wiedererkennen verlassen, sondern müsse aufgrund objektiver Kriterien nachprüfen, welche Beweisqualität dieses Wiedererkennen habe, und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen (BGH, Beschl. v. 8.2.2023 – 6 StR 516/22, NStZ 2023, 250; v. 3.3.2021 – 2 StR 11/21, v. 29.11.2016 – 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90 f; v. 1.10.2008 – 5 StR 439/08, NStZ 2009, 283).

Keine Angaben zur konkreten Wahrnehmungssituation

Diese Anforderungen erfülle das Urteil nicht. Zur konkreten Wahrnehmungssituation des Zeugen bei der jeweiligen Betäubungsmittelübergabe, insbesondere dazu, ob er den Angeklagten hierbei längere Zeit beobachten oder nur kurzzeitig sehen konnte, würden sich die Urteilsgründe nicht verhalten. Es könne nicht nachvollzogen werden, wie der Zeuge von seiner Position aus den Angeklagten als „Fahrer“ und „Hauptakteur“, welcher „etwas mit Boxen zu tun“ habe, ausmachen konnte. Die Wahrnehmung solch markanter Eigenschaften erscheine angesichts dessen, dass die „Tschetschenen“ in einen parkenden Pkw stiegen, ungewöhnlich; erst recht mit Blick darauf, dass die polizeiliche Sachbearbeiterin die Angaben des Zeugen zu diesen Vorfällen als eine „absolute Randnotiz“ bezeichnet habe. Aufgrund der aufgezeigten Erörterungsmängel entbehre die Schlussfolgerung des LG, der Zeuge habe den Angeklagten „eindeutig“ „anhand der Lichtbildmappe“ identifiziert – ungeachtet dessen, dass auch hier erforderliche Ausführungen zur konkreten Durchführung der Lichtbildvorlage bei der Polizei fehlen (dazu vgl. BGH, Beschl. v. 4.4. 2023 – 6 StR 110/23) –, jeder Grundlage.

III. Bedeutung für die Praxis

Zusammenfassung der Rechtsprechung des BGH

Die Entscheidung enthält nichts wesentlich Neues zur Wiedererkennensproblematik, die in der Rechtsprechung des BGH im Hinblick auf die Beweiswürdigungsfragen und die damit zusammenhängenden Anforderungen an die Darlegungen im Urteil eine große Rolle spielt. Sie fasst aber noch einmal schön und auf das Wesentliche beschränkt zusammen, worauf es in dem Zusammenhang ankommt. Die Rechtsprechung des BGH ist an der Stelle recht streng, sodass sich in vergleichbaren Fällen immer ein Ansatz für die Revision bietet. Geltend zu machen sind entsprechende Mängel mit der Sachrüge (wegen der Einzelheiten s.a. Hirsch, in. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 2437 ff. und in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 1958 ff.).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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