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Berufungshauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten

Verhandelt das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten zur Sache, anstatt die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen, eröffnet dies nicht ohne weiteres die Rüge des § 338 Nr. 5 StPO.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Köln, Urt. v. 8.11.20221 RVs 116/22

I. Sachverhalt

Verteidigerbestellung vor Berufungshauptverhandlung

Das AG verurteilte den in erster Instanz noch nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten wegen Beleidigung u.a. zu der Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen. Hiergegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt und später einem Verteidiger Wahlmandat erteilt. Noch vor der Berufungshauptverhandlung wurde dieser zum Pflichtverteidiger bestellt.

Angeklagter nicht erschienen

Zur Berufungshauptverhandlung ist der Angeklagte nicht erschienen. Dennoch hat die Strafkammer zur Sache verhandelt, nachdem der Verteidiger eine ihm noch im Rahmen des damaligen Wahlmandats und vor seiner Beiordnung erteilte Vollmacht vorgelegt hatte.

Berufung weitgehend erfolglos

Die Berufung des Angeklagten hat lediglich einen Teilerfolg erzielt. Das LG hat das erstinstanzliche Urteil dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte unter Einbeziehung einer in anderer Sache ergangenen Verurteilung zu der Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen verurteilt wurde.

Revision verworfen

Die hiergegen eingelegte, u.a. auf eine Verfahrensrüge gestützte Revision des Angeklagten hat das OLG als unbegründet verworfen.

II. Entscheidung

Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet

1. Nach Auffassung des Senats zeigt die Revision keinen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO auf. Die diesbezüglich erhobene Verfahrensrüge genüge nicht den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.

Neue Vollmacht erforderlich

Richtig sei zwar, dass ohne den Angeklagten eine Sachverhandlung nicht durchgeführt werden durfte. Denn mit der Bestellung des Verteidigers zum Pflichtverteidiger sei dessen Wahlmandat erloschen. Der Verteidiger hätte deshalb einer neuen, den Anforderungen des § 329 StPO genügenden Vollmacht bedurft. Da es an einer solchen fehle, habe er den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nicht wirksam vertreten können.

Rüge des § 338 Nr. 5 StPO dennoch nicht erfolgreich

Dieser Umstand begründe für sich genommen jedoch die erfolgreiche Rüge des § 338 Nr. 5 StPO nicht. Zwar erkennt das OLG an, dass die Verfahrensweise des LG prozessordnungswidrig war. Hätte die Strafkammer die zutreffenden prozessualen Konsequenzen aus dem Fehlen einer wirksamen Vollmacht gezogen, hätte sie die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne weitere Sachprüfung als unbegründet verwerfen müssen. Dadurch, dass sie fälschlicherweise in eine Sachverhandlung eingetreten ist, habe sie dem Angeklagten ein Mehr an rechtlichem Gehör gewährt, als dies im Falle der an sich gebotenen Berufungsverwerfung der Fall gewesen wäre. Dadurch sei der Angeklagte letztlich bessergestellt worden.

Beruhen nicht ausgeschlossen

2. Zur Frage, ob das Urteil auf dem Verfahrensfehler der Strafkammer beruht, führt das OLG aus, dass dies in einer solchen Fallkonstellation zwar nicht denkgesetzlich ausgeschlossen werden könne. So hätte eine Verwerfung der Berufung etwa im Falle einer ausreichenden Entschuldigung des Angeklagten für sein Fernbleiben mit der Revision oder einem Wiedereinsetzungsantrag erfolgreich angegriffen werden können, was dann zu einer Sachverhandlung nunmehr in Anwesenheit des Angeklagten geführt hätte.

Aber: Revisionsvorbringen unzureichend

Der Senat hält jedoch das Revisionsvorbringen für unzureichend. Denn die Revision schweige zu der Frage, was geschehen wäre, hätte die Berufungskammer auf die zwischenzeitliche Pflichtverteidigerbestellung und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen hingewiesen.

Ausnahmsweise Vortrag zur Beruhensfrage erforderlich

Zwar sei der Revisionsführer grundsätzlich nicht gehalten, zur Beruhensfrage Ausführungen zu machen. Vorliegend verhalte es sich jedoch anders: Wollte man zu einer von der dargelegten Rechtsauffassung des Senats abweichenden Sichtweise gelangen, bedürfe es eines Vortrags, der nach Lage der Dinge ausschließlich aus der Sphäre des Angeklagten stammen könnte und dann ausnahmsweise die Frage betreffe, ob das angefochtene Urteil auf der prozessordnungswidrigen Verfahrensweise der Berufungskammer beruht.

III. Bedeutung für die Praxis

Nachvollziehbare Entscheidung

1. Der Standpunkt des Senats ist nachvollziehbar, hat doch erst der Verfahrensfehler des LG, welches die Berufung hätte verwerfen müssen, dazu geführt, dass eine sachliche Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils erfolgte. Der Angeklagte hat durch den Fehler also letztlich einen ihm nicht zustehenden Vorteil erhalten, sodass sich ein Beruhen des Urteils hierauf ohne entsprechenden Revisionsvortrag nicht erschließt.

Vorsicht bei Abwesenheitsverhandlungen

2. Die Entscheidung zeigt überdies, dass Verteidigung und Angeklagter nur zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch machen sollten, Abwesenheitsverhandlungen durchzuführen. Immer wieder kommt es in der Praxis zu Problemen im Zusammenhang mit der für eine Vertretung durch den Verteidiger erforderlichen Vollmacht (vgl. hierzu Burhoff/Hillenbrand, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2990). Unterlaufen der Verteidigung hier Fehler, können diese häufig nur mit größter Mühe oder überhaupt nicht mehr behoben werden.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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