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Wahlfeststellung erfordert Strafbarkeit aller denkbaren Sachverhalte

Kommen verschiedene Lebenssachverhalte wahlweise in Betracht, kann eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur erfolgen, wenn zu allen Varianten eine zugelassene Anklageschrift vorliegt und die in exklusiver Alternativität möglichen Sachverhaltsvarianten sämtlich eine Strafbarkeit des Angeklagten ergeben.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 28.6.20222 StR 229/21

I. Sachverhalt

Temperaturregler geliefert, Bezugspunkt unklar

Das LG hat das Verfahren gegen den Angeklagten wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt. Der Angeklagte verpflichtete sich zu einem nicht bekannten Zeitpunkt vor dem 12.12.2018 dazu, in einem Wohnhaus mindestens einen Temperaturregler einzubauen. Er wusste, dass dies dem Betrieb einer Cannabisplantage dienen sollte. Ungefähr in den letzten drei Monaten davor betrieben Unbekannte in dem Anwesen eine Cannabisplantage. Am 12.12.2018 wurde bei einer Durchsuchung der vom Angeklagten angelieferte Temperaturregler gefunden, der jedoch nicht an die Stromzufuhr angeschlossen war. Die Strafkammer hielt es für möglich, dass der Temperaturregler entweder bereits nach Benutzung für die Cannabisplantage ausgetauscht, als Ersatzteil für die betriebene Cannabisplantage oder zur künftigen Errichtung eines weiteren Anbaufeldes vorgesehen war. Die vorliegende Anklage betreffe ausdrücklich nur den Cannabisanbau bis zum Tag der Durchsuchung. Soweit es bei der Handlung des Angeklagten um eine Förderung der künftigen Errichtung eines weiteren Anbaufeldes gehen könne, sei dies nicht von der Anklage umfasst. Soweit die Handlung des Angeklagten sich als Beteiligung an dem bereits erfolgten Betrieb der Cannabisplantage darstelle, gehöre dies zwar zum Verfahrensgegenstand des vorliegenden Verfahrens; im Zweifel zu seinen Gunsten sei aber davon auszugehen, dass es sich um eine hier nicht angeklagte Unterstützungshandlung für die künftige Errichtung eines weiteren Anbaufeldes gehandelt habe. Daher sei das Verfahren einzustellen. Die Revision des Angeklagten hat zu seinem Freispruch geführt.

II. Entscheidung

Grundlagen zur Wahlfeststellung

Der Angeklagte habe einen Anspruch auf Freisprechung, weil das LG keine Feststellungen für eine Verurteilung wegen des bisherigen Anklagevorwurfs treffen konnte und eine als weitere Sachverhaltsvariante in Betracht gezogene, außerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands liegende Beteiligung an der Vorbereitung der Herstellung eines weiteren Anbaufeldes der Cannabisplantage auch im Fall einer weiteren Anklageerhebung nicht strafbar wäre. Kommen verschiedene Lebenssachverhalte wahlweise in Betracht, könne eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur erfolgen, wenn zu allen Varianten eine zugelassene Anklageschrift vorliegt (BGHSt 32, 146, 150 = NJW 1984, 2109) und die in exklusiver Alternativität möglichen Sachverhaltsvarianten sämtlich eine Strafbarkeit des Angeklagten ergeben. Das sei hier nicht der Fall. Rechtsfehlerfrei sei das LG davon ausgegangen, dass eine Beteiligung an der bisher angeklagten Tat „bis zum 12.12.2018“ nicht bewiesen ist.

Nicht angeklagter Sachverhalt ist nicht strafbar

Eine Verurteilung des Beschwerdeführers auf wahldeutiger Grundlage käme auch im Fall einer zusätzlichen Anklageerhebung wegen der offenen dritten Sachverhaltsvariante nicht in Frage. Insoweit wäre nur eine Beihilfe als Art der Beteiligung am Geschehen denkbar, da als einziger Tatbeitrag zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln aus der Cannabisplantage die Lieferung und das Versprechen des Einbaus des Temperaturreglers im Raum steht. Das reiche für die Annahme von prospektiver Mittäterschaft mangels objektiver Tatherrschaft und eines feststellbaren Willens des Beschwerdeführers dazu nicht aus. Eine Beihilfe zum Versuch des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge komme nicht in Betracht. Das Herbeischaffen von Geräten zur künftigen Errichtung einer Cannabisplantage sei nur eine Vorbereitungshandlung. Der nach §§ 22 ff. StGB strafbare Versuch beginne erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Aussaat oder zum Anpflanzen (BGH NStZ 2012, 43 f.). Eine im Vorbereitungsstadium allein strafbare Verabredung zu einem Verbrechen (§ 30 Abs. 2 Var. 3 StGB) liege nicht vor, wenn ein daran Beteiligter nur als Gehilfe tätig werden soll (BGH NStZ 1993, 137 f.), denn eine Verbrechensverabredung komme nur unter prospektiven Tätern in Frage (BGH NStZ 1982, 244). Demnach fehle es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für eine Verurteilung des Angeklagten. Eine Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht sei nicht geboten. Weitere Feststellungen, die – auch im Fall einer ergänzenden Anklageerhebung – eine Verurteilung ermöglichen könnten, seien nicht zu erwarten.

Kein Entschädigungsanspruch

Ein Entschädigungsanspruch gegen die Staatskasse wegen erlittener Untersuchungshaft bestehe nicht. Diese sei nach § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ausgeschlossen, da der Angeklagte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Er habe in Kenntnis der Tatsache, dass der Temperaturregler zur Verwendung in einer illegalen Cannabisplantage verwendet werden sollte, dessen Lieferung und Einbau zugesagt und den Regler auch an den Tatort verbracht. Damit hat er den dringenden Verdacht einer Beteiligung am bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zur Zeit der Anordnung und Vollziehung der Untersuchungshaft grob fahrlässig verursacht.

III. Bedeutung für die Praxis

Wahlfeststellung ist tückisch

Eines der ersten Dinge, die ich als junger Strafrichter gelernt habe, war: Finger möglichst weg von der Wahlfeststellung, sie ist tückisch. Das zeigt der vorliegende Fall exemplarisch, denn er macht klar, dass die Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zugleich formelle (alle Sachverhalte sind angeklagt) und materielle Anforderungen (alle Sachverhalte sind strafbar) hat. Die materielle Voraussetzung erfordert eine eingehende Prüfung der Strafbarkeit sämtlicher Sachverhaltsmöglichkeiten, über die das LG hier hinsichtlich der möglichen Unterstützung eines zukünftigen Anbaufeldes gestolpert ist. Da eine Wahlfeststellung selbst bei einer Nachtragsanklage nicht zulässig gewesen wäre, hat in solchen Fällen Freispruch zu erfolgen und nicht die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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