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Terminsvertreter des Pflichtverteidigers

1. Der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, beschränkt sich nicht nur auf die Terminsgebühren, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG.

2. Der Haftzuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG entsteht auch dann, wenn der Beschuldigte zunächst nur vorläufig festgenommen wurde.

(Leitsätze des Verfassers)

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.20232 Ws 13/23

I. Sachverhalt

Bestellung nur als Vertreter für Vorführungstermin

Dem Beschuldigten war in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren Rechtsanwältin R als Pflichtverteidigerin bestellt worden. Am 24.8.2021 erließ der Ermittlungsrichter des AG Haftbefehl gegen den Beschuldigten, aufgrund dessen er noch am selben Tag festgenommen wurde. Zu dem daraufhin anberaumten Termin zur Haftbefehlseröffnung konnte die Pflichtverteidigerin wegen Urlaubsabwesenheit nicht erscheinen, weshalb das AG mit Beschluss vom 24.8.2021 Rechtsanwalt RA 2 „zur Haftbefehlseröffnung“ als Pflichtverteidiger bestellte, nachdem der Beschuldigte sich im Termin mit der Beiordnung des bereits anwesenden Rechtsanwalts bzw. mit einer Auswahl des Pflichtverteidigers durch das Gericht einverstanden erklärt hatte. Im Termin machte der Beschuldigte keine Angaben zur Sache. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Abschließend beantragte der Verteidiger/Rechtsanwalt RA 2 die Aufhebung, hilfsweise die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen geeignete Auflagen. Das AG hat den Haftbefehl aufrechterhalten.

Streit um Gebühren

Rechtsanwalt RA 2 hat seine gesetzlichen Gebühren geltend gemacht. Er hat die Festsetzung einer Grundgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4101 VV RVG und einer Terminsgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4103 VV RVG beantragt. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat lediglich eine Gebühr für eine „Einzeltätigkeit“ gemäß Nr. 4301 VV RVG sowie die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG festgesetzt. Gegen diese Festsetzung hat Rechtsanwalt RA 2 Erinnerung eingelegt und zugleich seinen Festsetzungsantrag dahingehend korrigiert, dass er zusätzlich zur Grund- und Terminsgebühr noch die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG geltend gemacht hat.

Das AG hat die Erinnerung verworfen. Das LG hat die gegen den Verwerfungsbeschluss des Verteidigers gerichtete Beschwerde nach Übertragung der Entscheidung gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 2 RVG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache als unbegründet zurückgewiesen. Die weitere Beschwerde hat das LG zugelassen. Die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Meinungsstreit

Rechtsanwalt RA 2 sei, so das OLG, dem Beschuldigten mit Beschluss des AG vom 24.8.2021 für den Termin zur Haftbefehlseröffnung, nachdem ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vorlag und weil die zuvor bereits bestellte Pflichtverteidigerin an der Wahrnehmung des für diesen Tag angesetzten Termins zur Haftbefehlseröffnung verhindert gewesen sei, als Pflichtverteidiger bestellt worden.

In Rechtsprechung und Literatur sei umstritten, ob der wegen der Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Termin zur Haftbefehlseröffnung, einen Haftprüfungstermin oder für einen oder mehrere einzelne Hauptverhandlungstage beigeordnete Verteidiger als Vergütung für seine Tätigkeit nur die Terminsgebühr erhalte oder ob ihm darüber hinaus auch eine Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zustehe (vgl. die Nachweise zum Streitstand bei Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, Nr. 4100, 4101 VV RVG Rn 5; Knaudt, in: BeckOK-RVG, 58. Ed. Stand 1.12.2022, RVG VV Vorbemerkung Rn 19–22). Nach ganz überwiegender, vom OLG für zutreffend erachteter Auffassung sei allerdings die zeitlich beschränkte Beiordnung eines Verteidigers für einen gerichtlichen Termin nicht – wie vorliegend vom AG und LG angenommen – als „Einzeltätigkeit“ i.S.v. Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG anzusehen. Denn der, wenn auch zeitlich beschränkt, bestellte Verteidiger, dem in diesem Verfahrensabschnitt die eigenverantwortliche, umfassende Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten/Angeklagten obliegt, sei einem (gewählten oder bestellten) „Beistand“ i.S.v. Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG, dessen Auftrag sich auf die Erbringung bestimmter Beistandsleistungen beschränkt, nicht gleichzustellen (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, VV Einl. Vorb. 4.1. Rn 12 m.N.; Knaudt, in: BeckOK-RVG, 58. Ed., RVG VV 4301 Rn 12; u.a. KG NStZ-RR 2005, 327; OLG Karlsruhe NJW 2008, 2935; OLG München NJOZ 2014, 1478; OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 95; OLG Saarbrücken NJOZ 2015, 1166; a.A. OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.1.2023 – 4 Ws 13/23; LG Leipzig, Beschl. v. 13.6.2019 – 1 Qs 114/19, RVGreport 2019, 338).

Abrechnung nur eines Pflichtverteidigermandats?

Nach einer Ansicht sei der lediglich für einen gerichtlichen Termin als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers beigeordnete Verteidiger gebührenrechtlich nicht dem zuvor bereits für das gesamte Verfahren beigeordneten Pflichtverteidiger gleichgestellt. Der zeitlich befristet bestellte Verteidiger sei nicht als weiterer Pflichtverteidiger, sondern lediglich als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers bestellt, weshalb insgesamt nur ein Pflichtverteidigermandat abzurechnen sei (vgl. etwa zuletzt OLG Celle, Beschl. v. 19.9.2018 – 3 Ws 221/18, OLG Celle RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534 = JurBüro 2018, 580). Dabei werde die Frage, ob die Terminsgebühr in der Person des originären Pflichtverteidigers (so das OLG Koblenz, Beschl. v. 16.10.2012 – 2 Ws 759/12) oder in der Person des Vertreters (so das KG, Beschl. v. 18.2.2011 – 1 Ws 38/09) entstanden ist, unterschiedlich beantwortet oder offengelassen (so das OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.5.2014 – 1 Ws 195/14). Lasse sich ein Verteidiger in einem Termin durch einen anderen Verteidiger – mit Zustimmung des Gerichts – vertreten, könne dies nicht dazu führen, dass Grund- und Verfahrensgebühr mehrfach entstehen. Andernfalls könne ein Pflichtverteidiger, der sich an verschiedenen Sitzungstagen durch verschiedene Vertreter vertreten lasse, zahlreiche Gebührentatbestände entstehen lassen, ohne dass dafür ein sachlicher Grund bestünde (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 6.10.2012, a.a.O. m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Abweichende zutreffende Auffassung des OLG Karlsruhe

Nach anderer, vom OLG Karlsruhe für zutreffend erachteter Auffassung beschränke sich der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, nicht auf die Terminsgebühren, sondern umfasse alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2008, 2935; s. auch OLG Bamberg NStZ-RR 2011, 223; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2008 – 1 Ws 318/08; OLG Hamm, Beschl. v. 23.3.2006 – 3 Ws 586/05; OLG Jena, Beschl. v. 14.4.2021 – (S) AR 62/20; OLG Köln, Beschl. v. 26.3.2010 – 2 Ws 129/10; OLG München a.a.O.; OLG Nürnberg a.a.O.; OLG Saarbrücken a.a.O.). Denn dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen gerichtlichen Termin beigeordneten Verteidiger sei für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten und -pflichten übertragen. Eine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als „Vertreter“ des bereits bestellten Verteidigers sehe die StPO nicht vor. Dies folge bereits daraus, dass der bestellte Verteidiger eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen könne, auch nicht mit Zustimmung des Gerichts, weil die Bestellung zum Verteidiger auf seine Person beschränkt sei (vgl. BGH StV 1981, 393; StV 2011, 650 und Beschl. v. 15.1.2014 – 4 StR 346/13). Eine solche Vertretung in der Verteidigung sei nur dem entweder amtlich (§ 53 Abs. 2 S. 3 BRAO) oder vom Verteidiger selbst (§ 53 Abs. 2 S. 1 oder 2 BRAO) bestellten allgemeinen Vertreter des Pflichtverteidigers möglich (BGH a.a.O.). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers werde vielmehr ein eigenständiges, öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen habe. Eine solche umfassende, eigenverantwortliche Verteidigung setze auch eine Einarbeitung in den Fall voraus, ohne die eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich sei. Gerade für diese erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entstehe aber die Grundgebühr. Eine Unterscheidung danach, welchen Aufwand diese Einarbeitung im Einzelfall erfordere (so das OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.2.2011 – 4 Ws 195/10, NJOZ 2012, 213), verbiete sich schon deshalb, weil es sich bei den Gebühren des Pflichtverteidigers um Festgebühren handelt, die grundsätzlich unabhängig von dem im Einzelfall erforderlichen Aufwand anfallen. Der Anspruch des wegen Verhinderung des zuvor bestellten Verteidigers (zeitlich beschränkt) bestellten weiteren Verteidigers scheitere auch nicht daran, dass die Gebühr aus Nr. 4100/4101 VV RVG pro Rechtsfall nur einmal entstehe und auf Seiten des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers bereits entstanden sei; denn die Einmaligkeit der Gebühr pro Rechtsfall sei ausschließlich personen- und nicht verfahrensbezogen zu verstehen (vgl. Knaudt, in: BeckOK-RVG, a.a.O. RVG VV Vorbemerkung Rn 20). Auch im Falle eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a StPO stehe die Grundgebühr sowohl dem zunächst bestellten Pflichtverteidiger als auch dem an seiner Stelle bestellten neuen Pflichtverteidiger zu.

Haftzuschlag

Rechtsanwalt RA 2 stehe demnach für seine erbrachte Pflichtverteidigertätigkeit die Grundgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4101 W RVG, die Terminsgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4103 VV RVG und die Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen nach Nr. 7002 VV RVG zu. Der Haftzuschlag entstehe auch dann, wenn der Mandant zunächst nur vorläufig festgenommen wurde (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O. VV 4101 Rn 25; Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl. 2022, RVG, Vorbemerkung 4 Rn 33; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 7.8.2017 – 2 Ws 176/17).

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

1. Zu der Entscheidung ist – zur Vermeidung von Wiederholungen – lediglich anzumerken: Zutreffend, und zwar sowohl im Ergebnis als auch in der Argumentation (a.A. jüngst OLG Stuttgart a.a.O.). Es ist zu hoffen, dass diese richtige Auffassung zur Honorierung des Terminsvertreters des Pflichtverteidigers sich (endlich) durchsetzt (ebenso bereits LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20; LG Magdeburg RVGreport 2018, 257 = StRR 5/2018, 24 = StraFo 2018, 314 = AGS 2018, 341; Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53 u. 54/21, AGS 2021, 427 (zum neuen Recht); LG Tübingen, Beschl. v. 6.2.2023 – 9 Qs 25/23, StRR 3/2023, 41 ff. (in dieser Ausgabe); AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22), AGS 2022, 311 = RVG professionell 2022, 170; AG Tiergarten, Beschl. v. 14.10.2022 – (278 Ds) 265 Js 277/22 (110/22) = AGS 2022, 513 = RVGprofessionell 2022, 204; immer noch a.A. OLG Stuttgart und LG Leipzig, jeweils a.a.O.; zu allem auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 1673 ff. und Rn 2101 ff.

Gebühren verschenkt

2. Rechtsanwalt RA 2 hat allerdings Gebühren verschenkt. Denn es sind nicht nur die Grundgebühr Nr. 4101 VV RVG und die Terminsgebühr Nr. 4103 VV RVG entstanden, sondern auch noch die Verfahrensgebühr Nr. 4105 VV RVG. Denn neben der Grundgebühr entsteht nach dem Wortlaut der Nr. 4100 VV RVG nach den Änderungen durch das 2. KostRMoG immer gleichzeitig auch die Verfahrensgebühr für den Verfahrensabschnitt, in dem der Rechtsanwalt erstmalig mit der Sache befasst ist (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 10.11.2014 – 1 Ws 148/14, RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117 = RVGprofessionell 2015, 60; LG Chemnitz RVGreport 2015, 265 = StRR 2015, 319 = AGS 2015, 378; LG Amberg RVGreport 2020, 141 = RVGprofessionell 2020, 65; LG Duisburg VRR 2014, 319 = AGS 2014, 331 = zfs 2014, 468 = StRR 2014, 360 = RVGprofessionell 2014, 155 = RVGreport 2014, 427; LG Oldenburg, Beschl. v. 22.9.2014 – 5 Qs 304/14, RVGreport 2014, 470 = zfs 2014, 648 = AGS 2014, 552; LG Saarbrücken, Beschl. v. 23.4.2015 – 2 Qs 8/15, RVGreport 2015, 221 = StRR 2015, 239= AGS 2015, 390 (Aufgabe der Rechtsprechung aus dem Beschl. v. 3.2.2015, StRR 2015, 119 = RVGreport 2015, 182; a.A. offenbar – aber ohne nähere Begründung – OLG Celle, Beschl. v. 26.1.2022 – 2 Ws 19/22, AGS 2022, 206 = Sonderausgabe StRR 5/2022, 12; OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.11.2014 – 2 Ws 553/14, RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29 = StRR 2015, 118). Das war hier das vorbereitende Verfahren, so dass auch die Nr. 4105 VV RVG entstanden ist. Rechtsanwalt RA 2 sollte die Nachfestsetzung dieser Gebühr beantragen. Das dürfte in diesem Fall zulässig sein (vgl. zuletzt Hansens, AGS 2021, 202).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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