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StRR-Kompakt 2023_03

Polizeiliche Befugnisse nach SOG MV: verdeckte Ermittler, Online-Durchsuchung, Quellen-TKÜ

Der Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckt Ermittelnden kann den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen. Das gilt, wenn sie hierdurch kernbereichsrelevante Informationen erlangen. Darüber hinaus kann ihre Interaktion mit einer Zielperson unter besonderen Voraussetzungen bereits als solche den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren, ohne dass es noch auf den Inhalt der hierdurch erlangten Informationen ankäme. Der Gesetzgeber muss den Kernbereichsschutz normenklar regeln. Zum einen muss er auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen treffen, die nach Möglichkeit ausschließen, dass Kernbereichsinformationen miterfasst werden. Zum anderen sind auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines dennoch erfolgten Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung strikt zu minimieren. Das heimliche Betreten einer Wohnung zur Vorbereitung einer gefahrenabwehrrechtlichen Online-Durchsuchung oder Quellen-TKÜ kann weder auf Art. 13 Abs. 2 GG noch auf Art. 13 Abs. 3 und 4 GG gestützt werden. Jedoch kommt Art. 13 Abs. 7 GG als verfassungsrechtliche Grundlage in Betracht, wenn wenigstens eine konkretisierte Gefahr für ein Rechtsgut von sehr hohem Gewicht vorliegt und eine richterliche Anordnung erfolgt ist.

BVerfG, Beschl. v. 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21

Pflichtverteidiger: Entpflichtung

Voraussetzung für die Aufhebung einer Beiordnung der Pflichtverteidigerbestellung ist, dass konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen sich der endgültige Fortfall der für ein Zusammenwirken zu Verteidigungszwecken notwendigen Grundlage ergibt. Das kann der Fall sein bei Grenzüberschreitungen des Angeklagten, wenn diese den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen geordneten Verfahrensablauf zu gewährleisten, gefährden.

BGH, Beschl. v. 29.12.2022 – 1 StR 284/22

Daten aus ANOM-App des FBI: Beweisverwertungsverbot

Die mittels der ANOM-App des FBI erhobenen Daten unterliegen keinem Beweisverwertungsverbot.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 30.12.2022 – 4 HEs 35/22

Strafbefehl: Ablehnung eines Strafbefehls

Der Tatrichter muss einen hinreichenden Tatverdacht bejahen, um einen Strafbefehl zu erlassen. Die Ablehnung eines Strafbefehls nach § 408 Abs. 2 S. 1 StPO setzt dagegen voraus, dass nach Aktenlage offensichtlich ist, dass tatsächliche Zweifel am Schuldnachweis nicht zu überwinden sind oder ein nicht behebbares Verfahrenshindernis besteht oder der aufgrund der Ermittlungen wahrscheinliche Tatvorgang aus Rechtsgründen nicht strafbar ist. Verbleibende tatsächliche Zweifel am Tatnachweis berechtigen den Tatrichter lediglich dazu, analog § 202 S. 1 StPO Nachermittlungen anzuordnen oder die Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO anzuberaumen. Weder kommt dem Tatrichter insoweit beim hinreichenden Tatverdacht ein Ermessen zu noch greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei der anzustellenden Wahrscheinlichkeitsprognose über den hinreichenden Tatverdacht.

LG Karlsruhe, Beschl. v. 4.1.2023 – 16 Qs 98/22

Bild-Ton-Aufzeichnung: Verwertbarkeit; Zeugenbelehrung

Eine im Ermittlungsverfahren erstellte Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung ist unverwertbar, wenn der Zeuge vom Ermittlungsrichter rechtsfehlerhaft belehrt worden ist. Für eine ordnungsgemäße Belehrung über den Umfang eines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO ist erforderlich, dass der Zeuge darüber belehrt wird, dass er nicht nur die Antworten auf einzelne Fragen (vgl. § 55 StPO), sondern auch die Aussage vollständig verweigern kann. Überdies ist ein Zeuge ggf. darüber zu belehren, dass er sein Recht auf Verweigerung des Zeugnisses auch ungeachtet einer vom Ergänzungspfleger erteilten Zustimmung ausüben kann.

BGH, Urt. v. 14.12.2022 – 6 StR 340/21

Jugendstrafrechtlicher Ungehorsamsarrest: Rechtsmittel; Belehrung

Unabhängig davon, ob man den jugendstrafrechtlichen Ungehorsamsarrest als „besondere jugendstrafrechtliche Reaktionsmöglichkeit“ und im weitesten Sinn somit als einen Akt der Vollstreckung wertet oder als „unselbstständige Ersatzmaßnahme“ qualifiziert, ist die Anordnung von Jugendarrest nach § 11 Abs. 3 S. 1 JGG, da ein Verstoß gegen eine im Urteil erteilte Weisung sanktioniert wurde, jedenfalls keine einer Verhaftung i.S.v. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO gleichzustellende Maßnahme. Ebenso wie eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Verletzung von Weisungen eines Bewährungsbeschlusses gehört die Belehrung über Folgen erteilter Weisungen nach Jugendstrafrecht zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Beurkundung einer Hauptverhandlung

LG Limburg, Beschl. v. 5.1.2023 – 2 Qs 76/22

Ausländischer Angeklagter: Ladung zur Hauptverhandlung

Ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig, muss die nach § 216 Abs. 1 StPO vorgesehene Warnung, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung des Angeklagten erfolgen werde, in einer ihm verständlichen Sprache beigefügt werden.

LG Berlin, Beschl. v. 17.1.2023 – 520 Qs 3/23

Verteidigerpost: Kontrolle

Der in § 148 Abs. 1 StPO niedergelegte Grundsatz des ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem beinhaltet, dass der Schriftverkehr des Beschuldigten mit dem Verteidiger inhaltlich nicht überwacht werden darf. Unter Anwendung dieses Grundsatzes beschränkt sich die Briefkontrolle der Haftanstalt darauf, ob sie nach den äußeren Kennzeichen eine Korrespondenz zwischen Mandanten und Verteidiger betrifft. Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist die Post ohne inhaltliche Prüfung weiterzuleiten.

LG Hamburg, Beschl. v. 17.1.2023 – 621 Ks 14/22

Strafantrag: Tatgeschehen

Die Verfahrensvoraussetzung eines Strafantrags ist nur dann erfüllt, wenn sich der Wille des Verletzten zur Antragstellung auch auf das Tatgeschehen, für welches das Strafantragserfordernis besteht, erstreckt.

BayObLG, Beschl. v. 16.12.2022 – 202 StRR 110/22

Nicht geringe Menge: neue psychoaktive Stoffe

Es beginnt die nicht geringe Menge der „neuen psychoaktiven Stoffe“ 2-Fluormethamphetamin (2-FMA) bei 10 Gramm 2-FMA-Base, 4-Fluormethamphetamin (4-FMA) bei 10 Gramm 4-FMA-Base und 3-Methylmethcathinon (3-MMC) bei 25 Gramm 3-MMC-Base.

BGH, Beschl. v. 21.12.2022 – 3 StR 372/21

Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr: Einwirkung auf ein Pferd

Der Straftatbestand des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (hier: § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) setzt den Eintritt einer konkreten Gefahr voraus. Eine solche Gefahr ist bei einer Einwirkung auf ein im Straßenverkehr bewegtes Pferd nicht gegeben, wenn das Tier zwar kurzzeitig in Aufregung gerät, aber sogleich von dem Reiter unter Kontrolle gebracht werden kann.

BayObLG, Beschl. v. 16.12.2022 – 202 StRR 110/22

Nötigung: Festkleben auf einer Straßenfahrbahn

Beim Festkleben mit der Hand auf einer Fahrbahn im Rahmen einer Straßenblockade, um Fahrzeugführer an ihrer Weiterfahrt zu hindern, bis die Blockade durch Polizeieinsatzkräfte geräumt wird, besteht hinreichender Tatverdacht hinsichtlich Nötigung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte.

LG Berlin, Beschl. v. 21.11.2022 – 534 Qs 80/22

Verbotenes Kfz-Rennen: Strafzumessung; Entziehung der Fahrerlaubnis

Im Falle einer Verurteilung wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verstößt die strafschärfende Berücksichtigung des Fahrens mit „deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ gegen das Verbot der Doppelverwertung (§ 46 Abs. 3 StGB). Der Ausspruch über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB ist rechtsfehlerhaft, wenn die Anordnung mit moralisierenden Erwägungen begründet wird, die keinen Bezug zur Eignung des Angeklagten, ein Kraftfahrzeug zu führen, aufweisen.

BayObLG, Beschl. v. 23.12.2022 – 202 StRR 119/22

Pflichtverteidiger im Bußgeldverfahren: Analphabetismus des Betroffenen

Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt. In diesem Fall liegt nach § 140 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann.

BayObLG, Beschl. v. 21.11.2022 – 201 ObOWi 1363/22

Vertretung des Betroffenen: unterbevollmächtigter Verteidiger in der Hauptverhandlung

Eine Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung i.S.d. §§ 73 Abs. 3, 79 Abs. 4 OWiG setzt den Nachweis der Vertretungsvollmacht voraus. Im Falle einer Untervertretung genügt es hierfür nicht, wenn zwar eine vom Wahlverteidiger dem Untervertreter erteilte Vollmacht zu den Akten gelangt ist, aber keine dem Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht nachgewiesen ist.

BayObLG, Beschl. v. 6.12.2022 – 202 ObOWi 1110/22

Verjährungsunterbrechung: Zustellung des Bußgeldbescheids

Für die Unterbrechung der Verfolgungsverjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 OWiG sowie für deren Verlängerung nach § 26 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 StVG kommt es auf einen Nachweis des Zugangs des Bußgeldbescheids beim Betroffenen an. Eine Heilung von Zustellungsmängeln durch Zugang des Bußgeldbescheids bei einer anderen Person setzt voraus, dass diejenige Person, die tatsächlich Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück erhält, zustellungsberechtigt ist. Das setzt beim Verteidiger eine nachgewiesene Vollmacht voraus.

AG Landstuhl, Beschl. v. 26.1.2023 – 2 OWi 4211 Js 13113/22

Kosten der Nebenklage: Rücknahme der Berufung des Angeklagten

Die §§ 464 Abs. 3 S. 1 Hs. 2, 400 Abs. 1 StPO stehen der Anfechtung einer Kostenscheidung durch den Nebenkläger nicht entgegen. § 400 Abs. 1 StPO beseitigt nicht die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels, sondern versagt dem Nebenkläger nur für einen bestimmten Fall die Beschwer. Die Verfahrensgebühr nach Nr. 4124 VV RVG entsteht schon bei der erstmaligen Tätigkeit im Berufungsverfahren, wofür keine nach außen erkennbare Tätigkeit erforderlich ist, sondern auch eine (interne) Beratung des Mandanten über den Gang des Verfahrens ausreichen kann. Ein Nebenkläger hat bei einer Berufung des Angeklagten Beratungsbedarf, dass dessen Berufung nicht begründungspflichtig ist.

OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.1.2023 – 1 Ws 309/22

Zeugenbeistand: Vergütung

Dem gesetzgeberischen Grundgedanken, einen Zeugenbeistand als auf die Vernehmung beschränkt anzusehen und deshalb nicht wie einen Verteidiger zu vergüten, kann ggf. dann keine Bedeutung zukommen, wenn der Zeugenbeistand dem Zeugen an mehreren Verhandlungstagen über längere Zeit Beistand geleistet hat.

OLG Dresden, Beschl. v. 3.1.2023 – 4 St 2/21

Zusätzliche Verfahrensgebühr: Absprache eines Strafbefehls

Nr. 4141 VV RVG ist analog auf den Fall anzuwenden, dass der Verteidiger mit der Staatsanwaltschaft noch vor Anklageerhebung vereinbart, dass ein Strafbefehl ergehen soll, der vom Beschuldigten akzeptiert wird, und das dann umgesetzt wird.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 16.1.2023 – 12 Qs 76/22

Änderung des RVG: Übergangsrecht

Beim Berufungs- und Revisionsverfahren handelt es sich gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren um verschiedene Angelegenheiten i.S.d. § 17 Nr. 1 RVG. Gem. § 60 Abs. 1 S. 3 RVG ist daher bei einer Rechtsänderung im laufenden Verfahren ggf. für die Abrechnung des erstinstanzlichen Verfahrens für die Vergütung altes Recht anzuwenden, gem. § 60 Abs. 1 S. 4 RVG für das Berufungs- und Revisionsverfahren hingegen neues Recht.

AG Korbach, Beschl. v. 9.1.2023 – 41 Ls – 4750 Js 20444119

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