Beitrag

Gebühren für die Teilnahme des Pflichtverteidigers an der Vorführung

Der einem Beschuldigten für die Haftprüfung beigeordnete Rechtsanwalt verdient nur eine Gebühr für eine Einzeltätigkeit.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.1.20234 Ws 137/23

I. Sachverhalt

Bestellung für Anhörung

Der vormals Beschuldigte wurde am 29.6.2022 festgenommen und zur Eröffnung des Haftbefehls dem Ermittlungsrichter beim AG Stuttgart vorgeführt. Zu diesem Zeitpunkt wurde er bereits von Rechtsanwalt R 1 als Wahlverteidiger vertreten. Weil Rechtsanwalt R 1 aber verhindert war, erklärte sich der Beschuldigte damit einverstanden, im Vorführungstermin vom Rechtsanwalt R 2 vertreten zu werden. Das AG bestellte diesen daraufhin „für den heutigen Anhörungstermin“ zum Pflichtverteidiger. In seiner richterlichen Vernehmung machte der Beschuldigte weder zur Person noch zur Sache Angaben und Rechtsanwalt R 2 beantragte, den Haftbefehl entweder nicht zu erlassen oder aber gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen. In der Folge erließ das AG den Haftbefehl jedoch und setzte ihn in Vollzug. Im weiteren Verlauf des Verfahrens trat Rechtsanwalt R 2 für den Angeklagten nicht mehr auf.

Pflichtverteidigergebühren beantragt

Der Rechtsanwalt hat beantragt, seine Pflichtverteidigervergütung festzusetzen. Er hat eine Grundgebühr Nr. 4101 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nr. 4105 VV RVG sowie eine Vernehmungsterminsgebühr Nr. 4103 VV RVG sowie die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG zuzüglich Umsatzsteuer geltend gemacht. Zur Begründung hat er darauf hingewiesen, der Strafprozessordnung sei ein „beschränkter“ Pflichtverteidiger fremd. Auch der lediglich für einen Termin bestellte Pflichtverteidiger sei ein Verteidiger mit allen Rechten und Pflichten und deshalb umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte- und -pflichten betraut. Es handele sich lediglich um einen zeitlich begrenzten Auftrag ohne inhaltliche Beschränkung. Eine Einzeltätigkeit liege nicht vor, denn auch der für einen Termin bestellte Verteidiger müsse sich vollständig und selbstständig in den Rechtsfall einarbeiten. Darüber hinaus sei auch nicht nur die Terminsgebühr angefallen. Denn mangels Verhandelns i.S.d. Nr. 4102 Ziff. 3 VV RVG entstehe diese Gebühr im Rahmen der Eröffnung eines Haftbefehls nicht. Der Pflichtverteidiger müsse daher ohne Vergütung tätig werden, würde man dieser Auffassung folgen.

AG: Einzeltätigkeit

Das AG ist nur von einer Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG ausgegangen, denn der Rechtsanwalt sei lediglich für die Einzeltätigkeit der Vertretung des Angeklagten im Rahmen der Haftbefehlseröffnung beigeordnet worden. Mit der Verteidigung im Übrigen sei bereits Rechtsanwalt R 1 beauftragt. Dagegen hat der Rechtsanwalt Erinnerung eingelegt, die das AG zurückgewiesen hat. Auf die sofortige Beschwerde des Rechtsanwalts hat das LG die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen und die weitere Beschwerde zugelassen. Maßgeblich für die Abgrenzung eines Einzeltätigkeitsauftrags von einer Vollverteidigung sei die gerichtliche Bestellung. Nach dieser sei der Beschwerdeführer ausschließlich für die Haftbefehlseröffnung beigeordnet worden. Die Auffassung, dass jede Pflichtverteidigerbeiordnung zur Entstehung einer Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühr führe, finde im Wortlaut der Vorbemerkung 4.3 VV RVG keinen Halt. Eine einzeltätigkeitsbezogene Pflichtverteidigerbeiordnung sei ohne weiteres mit dem Wortlaut vereinbar. Auch die Systematik der Nr. 4301 VV RVG spreche gegen eine Entstehung darüber hinausgehender Gebühren. Die vom Beschwerdeführer vertretene Auffassung führe dazu, dass der Gebührentatbestand Nr. 4301 VV RVG auf Pflichtverteidiger grundsätzlich nicht anwendbar sei. Die weitere Beschwerde hatte beim OLG keinen Erfolg.

Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG

II. Die Entscheidung

In Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG sei nach Abs. 1 der Vorbem. 4.3 VV RVG die Vergütung des Rechtsanwalts geregelt, der nicht insgesamt mit der Interessenwahrnehmung beauftragt ist, also nicht den vollen Verteidigungsauftrag habe, sondern hieraus nur eine einzelne Tätigkeit übernimmt. Bei den dort genannten Einzeltätigkeiten erhalte der Rechtsanwalt jeweils eine Verfahrensgebühr, andere Gebühren würden ihm nicht gewährt.

Abgrenzung

Für die Abgrenzung zwischen einem „Vollverteidiger“ und einem mit einer Einzeltätigkeit beauftragten Rechtsanwalt sei bei einem Pflichtverteidiger gemäß § 48 Abs. 1 RVG der Wortlaut der Verfügung des Vorsitzenden oder des Gerichtsbeschlusses maßgebend, durch den die Bestellung erfolgt ist (OLG Stuttgart AGS 2011, 224 = StraFo 2011, 198 = RVGreport 2011, 141 = RVGprofessionell 2011, 106). Vorliegend sei der Rechtsanwalt nach dem Wortlaut des Beschlusses des AG vom 29.6.2022 „für den heutigen Anhörungstermin“, also für die Vorführung und Vernehmung vor dem zuständigen Richter gemäß § 115 Abs. 1 u. 2 StPO, zum Pflichtverteidiger bestellt. Der Formulierung des Beschlusses könne hier sowohl eine zeitliche als auch eine inhaltliche Beschränkung der Bestellung – nämlich auf die Haftfrage – entnommen werden. Für eine unbeschränkte Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger sei schon deshalb kein Raum, weil für den Beschuldigten zum Zeitpunkt der Beiordnung bereits Rechtsanwalt R 1 als Wahlverteidiger tätig und der Beschuldigte damit nicht unverteidigt i.S.d. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO gewesen sei. Jedenfalls in einem solchen Fall handele es sich bei der Vertretung des Beschuldigten im Rahmen der Haftvorführung nach § 115 StPO um eine Einzeltätigkeit.

Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV RVG

Die Gebühr für die Beistandsleistung bei einer richterlichen Vernehmung im Rahmen einer Einzeltätigkeit sei in Nr. 4301 Ziff. 4 VV geregelt. Vernehmung in diesem Sinne sei auch die Vernehmung bei einer Vorführung gemäß § 115 Abs. 2 StPO (Felix, in: Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl., VV 4301 Rn 13; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl., VV 4301 Rn 15). Der Auffassung, der Pflichtverteidiger sei ausdrücklich als Verteidiger beigeordnet, was die Anwendung von Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG ausschließe (Hillenbrand, in: Burhoff, Handbuch des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, 9. Aufl., Rn 3435) trete der Senat nicht bei. Derartiges ergebe sich aus dem Wortlaut des zur Begründung herangezogenen Abs. 1 der Vorbem. 4.3 VV RVG gerade nicht. Nach Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV RVG entstehen die Gebühren für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist. Der Begriff „sonst“ impliziert, dass auch der in einer einzelnen Tätigkeit auftretende Rechtsanwalt Verteidiger ist. Der Wortlaut differenziert also zwischen einem Rechtsanwalt, dem die Verteidigung ausschließlich in einer einzelnen Tätigkeit übertragen ist, und einem Rechtsanwalt, der auch sonst – also über die einzelne Tätigkeit hinaus – als Verteidiger auftritt. Beide sind dabei im Umfang ihrer jeweiligen Tätigkeit Verteidiger mit allen Rechten und Pflichten. Eine Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühr verdiene aber nur derjenige Rechtsanwalt, der auch über die einzelne Tätigkeit hinaus für den Mandanten tätig wird. Auch ein Vergleich mit den sonstigen von Nr. 4301 VV RVG umfassten Einzeltätigkeiten zeigt, dass es keineswegs unangemessen sei, einen Rechtsanwalt, der ausschließlich für eine Haftvorführung zum Pflichtverteidiger bestellt werde, lediglich mit der Festgebühr in Höhe von 220 EUR zu vergüten; dies unabhängig von Umfang und Aufwand der mit der Haftvorführung verbundenen Beratung. So sehe Nr. 4301 Ziff. 5 VV RVG etwa eine Gebühr in derselben Höhe für denjenigen Rechtsanwalt vor, der den Antragsteller im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahrens vertritt, mit dem in der Regel ebenfalls ein hoher Einarbeitungs- und Begründungsaufwand einhergehe.

III. Bedeutung für die Praxis

Falsch entschieden

1. Die Entscheidung reiht sich nahtlos ein in die Reihe der Entscheidungen, die die Frage, welche Gebühren der Rechtsanwalt verdient, der nach § 141 Abs. 2 Nr. 1 StPO für eine Vorführung als Pflichtverteidiger beigeordnet wird, dahin falsch entscheiden, dass es sich nur um eine Einzeltätigkeit handele und daher nur eine Gebühr Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG anfällt. Ich habe bereits in meinen Anmerkungen zu den Entscheidungen des OLG Celle (RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534 = JurBüro 2018, 580) und des LG Leipzig (RVGreport 2019, 338 = StraFo 2019, 439) darauf hingewiesen, dass der Rechtsanwalt in den Fällen nach dem Wortlaut der StPO-Vorschrift ausdrücklich als „Verteidiger“ bestellt wird und sich seine Vergütungsansprüche daher nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG richten und nicht, wie das OLG meint, nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG. Dass das der Staatskasse und auch einem OLG wegen der Höhe der Gebühren nicht passt, liegt auf der Hand. Diese Diskussion haben wir schon zum alten Recht der Pflichtverteidigung geführt, sie setzt sich fort. War die nun auch vom OLG Stuttgart vertretene Ansicht schon früher falsch, dann ist sie es unter Anwendung des neuen Rechts der Pflichtverteidigung erst recht. Denn: Nach dem Wortlaut des § 141 Abs. 2 StPO wird dem Beschuldigten ausdrücklich „ein Pflichtverteidiger“ bestellt. Damit ist der Rechtsanwalt in diesen Fällen „voller Verteidiger“ und für die Anwendung der Nr. 4301 VV RVG schon kein Raum mehr, weil die Subsidiaritätsklausel der Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV RVG eingreift (vgl. zur Subsidiarität auch Burhoff/Volpert/Volpert, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Vorbem. 4.3 VV Rn 7 m.w.N.). M.E ist schon der Ansatz des OLG, das von vornherein auf den Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG zugreift, falsch und verstellt den Blick auf die richtige Lösung. Im Übrigen lässt sich auch aus der Formulierung des AG-Beschlusses nichts anderes ableiten, denn die gibt nur das wieder, was in § 141 Abs. 2 Nr. 1 VV RVG geregelt ist: Bestellung des Rechtsanwalts für die Vorführung.

Abweichende Rechtsprechung „übersehen“

2. Im Übrigen: Wenn man manche OLG-Entscheidungen liest, ist man erstaunt. So auch bei dieser. Zu der entschiedenen Frage gibt es abweichende Rechtsprechung einiger LG und AG (vgl. LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20; LG Magdeburg RVGreport 2018, 257 = StRR 5/2018, 24 = StraFo 2018, 314 = AGS 2018, 341; Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53 u. 54/21, AGS 2021, 427 (zum neuen Recht); AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22), AGS 2022, 311 = RVG professionell 2022, 170; AG Tiergarten, Beschl. v. 14.10.2022 – (278 Ds) 265 Js 277/22 (110/22), AGS 2022, 513 = RVGprofessionell 2022, 204). Auch wenn die zum Teil zum früheren Recht ergangen ist, fragt man sich, warum sich das OLG mit den Entscheidungen, die, wie man sieht, veröffentlicht sind, nicht auseinandersetzt. Man führt allerdings auch noch nicht einmal die die eigene Auffassung stützende Rechtsprechung an. Soll/kann/muss man daraus den Schluss ziehen, dass dem OLG Gebührenfragen lästig sind? Der Schluss liegt m.E. nahe. Man kann nur hoffen, dass er falsch ist.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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