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StRR-Kompakt 2023_01

Durchsicht von Papieren: lange Dauer

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Durchsicht von Papieren zügig durchgeführt wird, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potenziell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll.

BVerfG, Beschl. v. 17.11.2022 – 2 BvR 827/21

Bestellung eines Pflichtverteidigers: Rechtsmittel des Beschuldigten

Durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers als solche ist ein Beschuldigter im Regelfall nicht beschwert; er kann diese daher grundsätzlich nicht anfechten.

BGH, Beschl. v. 15.11.2022 – StB 51/22

Pflichtverteidiger: Entpflichtung

Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zum Pflichtverteidiger ergibt sich weder aus Beschimpfungen/haltlosen Vorwürfen noch aus der Erhebung einer zivilrechtlichen Klage gegen den Pflichtverteidiger.

OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 29.11.2022 – 3 Ws 420/44

Pflichtverteidiger: mehrere Beschuldigte

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

LG Amberg, Beschl. v. 18.11.2022 – 12 Qs 64/22

Zustellung des Strafbefehls: Zustellungsbevollmächtigter in der EU

Die Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kann die Frist zur Einlegung eines Einspruchs nach § 410 Abs. 1 StPO nicht in Gang setzen, wenn der Adressat seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat. Bei der Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kommt es für die Frist des § 410 Abs. 1 StPO auf den tatsächlichen Zugang des Strafbefehls beim Empfänger an, wenn dieser seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat.

LG Heilbronn, Beschl. v. 14.11.2022 – 2 Qs 91/22

Rechtlicher Hinweis: Änderung der Teilnahmeform

Ein rechtliche Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO ist auch erforderlich, wenn statt einer Verurteilung wegen Mittäterschaft eine alleintäterschaftliche Begehung in Betracht kommt.

BGH, Beschl. v. 27.9.2022 – 5 StR 104/22

Teilaufhebung: Bindung an Feststellungen

Wird bei einer teilaufhebenden Revisionsentscheidung der Schuldspruch rechtskräftig, jedoch der Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben, so ist der neue Tatrichter nur an den Schuldspruch selbst und diejenigen Feststellungen gebunden, die ausschließlich oder ‒ als sogenannte doppelrelevante Tatsachen ‒ auch den nunmehr rechtskräftigen Schuldspruch betreffen. Dagegen ist der Strafausspruch mit den ausschließlich ihn betreffenden Feststellungen aufgehoben und nicht mehr existent.

BGH, Beschl. v. 9.11.2022 – 4 StR 383/22

Revisionsbegründung: mehrere Verfahrensbeanstandungen

Für die i.S.d. § 344 Abs. 2 StPO ausreichende Begründung einer Revision, mit der mehrere Verfahrensrügen vorgebracht werden, reicht es nicht, die für unterschiedliche Beanstandungen möglicherweise relevanten Verfahrenstatsachen im Sinne einer Nacherzählung der Hauptverhandlung zu referieren (hier über 380 Seiten). Denn es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem umfangreichen Konvolut von Unterlagen das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen und dabei den Sachzusammenhang selbst herzustellen; stattdessen ist es erforderlich, dass der Revisionsführer bezogen auf die konkrete Rüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitteilt.

BGH, Beschl. v. 24.10.2022 – 5 StR 184/22

Beweisantrag: Darlegung eigener Sachkunde

Macht der Angeklagte mit der Revision geltend, ein Beweisantrag sei unter Verstoß gegen § 244 StPO abgelehnt worden, so muss die Verfahrensrüge im Grundsatz darlegen, wie der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung zu dem Beweisantrag Stellung genommen hat. Lehnt der Tatrichter einen Beweisantrag nach § 244 Abs. 4 S. 1 StPO ab, so bedarf es der Darlegung eigener Sachkunde nicht, wenn ihm diese nach allgemeiner Lebenserfahrung zuzutrauen ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Entscheidung der Beweisfrage lediglich alltagsweltliche Sachkunde erfordert. Ob sich das Tatgericht die Sachkunde zutrauen darf, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

KG, Beschl. v. 15.9.2022 – (3) 161 Ss 140/22 (48/22)

Untersuchungshaftbefehl: Rechtskraft der Sache

Mit der Rechtskraft eines Strafurteils wird ein Untersuchungshaftbefehl in dem Sinne gegenstandslos, dass er jedenfalls nicht mehr Grundlage einer tatsächlichen Freiheitsentziehung sein kann.

KG, Beschl. v. 22.8.2022 – 3 Ws 145/22

Rechtfertigender Notstand: Klimawandel

Ein tatbestandliches Verhalten (hier: Sachbeschädigung), durch das der Täter bezweckt, auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen und die Politik zu Maßnahmen zu deren Abwehr zu veranlassen, ist weder vor dem Hintergrund des allgemeinen rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB noch als „ziviler Ungehorsam“ gerechtfertigt. Eine strafrechtliche Rechtfertigung der Begehung einer Tat, die allein dazu dient, in einer Angelegenheit von wesentlicher allgemeiner Bedeutung, insbesondere zur Abwendung schwerer Gefahren für das Allgemeinwesen, auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einzuwirken oder die Politik zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen („ziviler Ungehorsam“), ist ausgeschlossen.

OLG Celle, Beschl. v. 29.7.2022 – 2 Ss OWi 91/22

Rechtfertigender Notstand: Klimawandel

Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB sind im Licht der sich sowohl aus der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG ergebenden als sich auch auf die Grundrechte des Grundgesetzes stützenden und damit wechselseitig normativ verstärkten Bedeutung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Klimaschutz auszulegen. Die mit den Folgen des Klimawandels verbundenen Risiken bilden aktuell eine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 34 StGB. Unter verfassungsrechtlich gebotener Berücksichtigung der hohen Wertigkeit des Klimaschutzes sind im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit der Handlung i.S.d. § 34 StGB sowohl hohe Anforderungen an die objektiv gleiche Eignung von Handlungsalternativen zu stellen als auch dem Täter ein begrenzter Einschätzungsspielraum bei seiner ex ante erfolgenden Beurteilung einer gleichen Eignung einzuräumen.

AG Flensburg, Urt. v. 7.11.2022 – 440 Cs 107 Js 7252/22

Fremdgeld: Vermögensschaden zu Lasten des Mandanten

Ein Rechtsanwalt, der sich zur Weiterleitung bestimmte, ihm in diesem Sinne anvertraute Fremdgelder auf sein Geschäftskonto einzahlen lässt, bewirkt jedenfalls dann einen Vermögensschaden zu Lasten seines Mandanten i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB, wenn er mit diesen Buchgeldern eigene Verbindlichkeiten begleicht. Etwas anderes gilt, wenn der Rechtsanwalt uneingeschränkt dazu bereit und jederzeit fähig ist, diese Fehlbeträge aus eigenen flüssigen Mitteln auszugleichen und entsprechende Beträge an seinen Mandanten auszukehren.

BGH, Beschl. v. 1.9.2022 – 1 StR 171/22

Gefährliche Körperverletzung: gefährliches Werkzeug

Auch eine Jacke kann als „gefährliches Werkzeug“ i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu qualifizieren sein. Fehlende Feststellungen im tatrichterlichen Urteil zur objektiven Beschaffenheit der Jacke stehen dem nicht entgegen, wenn nach den Urteilsausführungen im Übrigen der Gebrauch der Jacke (festes Drücken auf das Gesicht der Geschädigten) geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen (Atemnot und kurzfristiger Verlust des Bewusstseins).

KG, Urt. v. 25.7.2022 – (3) 161 Ss 93/21 (34/22)

Verbotenes Kraftfahrzeugrennen: Polizeiflucht

In sog. Polizeiflucht-Fällen verwirklicht der verfolgte Kraftfahrzeugführer zwar möglicherweise den Tatbestand des verbotenen Kraftfahrzeugrennens in der Alternative des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB (Einzelrennen), eine Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB liegt jedoch mangels Wettbewerbscharakters und konkludenter Rennabsprache nicht vor.

OLG Oldenburg, Urt. v. 14.11.2022 – 1 Ss 199/22

Verbotenes Rennen: Begriff des Rennens

Demonstrationen individuellen Fahrkönnens werden bereits begrifflich nicht als Rennen i.S.d. § 315d StGB erfasst, es sei denn, es geht auch hier um die Erzielung von Bestzeiten, Höchstgeschwindigkeiten oder höchsten Durchschnittsgeschwindigkeiten.

AG Hamburg-Bergedorf, Beschl. v. 29.11.2022 – 419a S 17/22

Keine Erhöhung der Regelgeldbuße bei einem Verstoß mit einem SUV

Allein der Umstand, dass ein Rotlichtverstoß mit einem SUV begangen wurde, rechtfertigt nicht die Erhöhung der Geldbuße.

OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.9.2022 – 3 Ss-OWi 1048/22

Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät ESO ES 8.0: Verwertbarkeit

Die mutwillige softwarebedingte Nichtspeicherung von Messdaten, die zuvor bei dem gleichen Gerätetyp einer Speicherung unterlagen, ist eine mit dem rechtsstaatlichen Verfahren, konkret dem Anspruch der betroffenen Person auf eine effektive Verteidigung, nicht zu vereinbarende und daher nicht hinnehmbare mutwillige Unterdrückung. Der Grundsatz des „fairen Verfahrens“ gebietet es, dass die Bußgeldbehörde in einem Verfahren betreffend eine Geschwindigkeitsmessung die von dem verwendeten Messgerät erhobenen Messdaten jedenfalls auf Verlangen dem Verteidiger und dem Gericht zur Verfügung stellt. Verlangt der Verteidiger Einsicht in Messdaten, die vormals bei dem gleichen Gerätetyp der Speicherung unterlagen, und können diese aufgrund einer nunmehr fehlenden Speicherung nicht zur Verfügung gestellt werden, trägt allein dies einen Freispruch aus rechtlichen Gründen.

AG Schleiden, Urt. v. 2.9.2022 – 13 OWi-304 Js 802/22-179/22

Anspruch des Pflichtverteidigers gegen den Beschuldigten: Anrechnung

Der Anspruch des gerichtlich bestellten Verteidigers gegen den Beschuldigten auf Zahlung der Wahlverteidigergebühren entfällt nach teilweisem Freispruch oder sonstigem teilweisen Obsiegen des Beschuldigten nicht nur in Höhe des darauf entfallenden Anteils, sondern in Höhe der gesamten gezahlten Pflichtverteidigergebühren.

LG Koblenz, Beschl. v. 7.11.2022 – 9 Qs 74/22

Längenzuschlag; Beginn der nächsten Stunde; Wartezeit

Eine Stunde endet mit Ablauf der Sekunde 59:59, danach beginnt die nächste Stunde. Es ist durch das KostRÄndG 2021 explizit geregelt, wann Pausen bzw. Unterbrechungen im Rahmen von Längenzuschlägen zu berücksichtigen sind, sodass die zu diesem Problemschwerpunkt ergangene frühere Rechtsprechung überholt ist. Ausweislich der Vorb. 4.1 Abs. 3 VV RVG sind auch Wartezeiten und Unterbrechungen an einem Hauptverhandlungstag als Teilnahme zu berücksichtigen, ausgenommen hiervon sind nur Wartezeiten und Unterbrechungen, die der Rechtsanwalt zu vertreten hat, sowie Unterbrechungen von jeweils mindestens einer Stunde.

AG Dillingen a.d. Donau, Beschl. v. 23.11.2022 – 302 Ds 306 Js 135128/18

Zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG: Gebührenhöhe

Die Befriedungsgebühr bemisst sich bei einer Beendigung des Verfahrens im vorbereitenden Verfahren nicht nach Nr. 4104 VV RVG, sondern danach, welches Gericht mit dem Verfahren befasst worden wäre, wenn sich das Verfahren nicht erledigt hätte.

AG Oldenburg (Oldb), Beschl. v. 17.11.2022 – 28 Gs 1204 Js 38031/20 (3373/21)

Aktenversendungspauschale: Übersendung von Fotokopien zum Verbleib

Die Aktenversendungspauschale nach KV 9003 GKG kann nur erhoben werden, wenn eine Rücksendepflicht besteht. Bei Übersendung von Fotokopien eines Teils oder aber der gesamten Akte zum Verbleib fällt neben den Schreibauslagen daher keine Aktenversendungspauschale an.

AG Langenberg, Beschl. v. 8.11.2022 – 1 Cs 36 Js 543/22

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