Beitrag

Aufhebung der Bestellung des zweiten Pflichtverteidigers; Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers

1. Mit der Regelung der Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO hat der Gesetzgeber einen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Fall des Verteidigerwechsels normiert, der auf dem Gedanken der Sicherung einer sachgerechten Verteidigung beruht und bei dem es auf den Willen des Beschuldigten nicht ankommt. Insofern kann für die Frage, wann im Einzelnen das Fehlen einer angemessenen Verteidigung zu besorgen ist, auf die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden.

2. Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nach § 144 StPO hat eigenständige, in den Umständen des Falles selbst liegende, sachliche Voraussetzungen. Sie dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 25.8.2022StB 35/22

I. Sachverhalt

Pflichtverteidiger teilweise verhindert

Beim OLG Düsseldorf ist gegen den Angeklagten ein Verfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland und der Begehung weiterer Delikte anhängig. Zum Pflichtverteidiger des seit dem 12.4.2022 in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten hatte der Ermittlungsrichter des BGH Rechtsanwalt K. bestimmt. Nachdem sich im Rahmen der Terminierung herausgestellt hatte, dass Rechtsanwalt K. lediglich an sieben der vom OLG vorgesehenen fünfzehn Hauptverhandlungstermine verfügbar ist, hat der Vorsitzende Rechtsanwalt K. entpflichtet und Rechtsanwalt Ka. zum Pflichtverteidiger bestellt. Zugleich hat er es abgelehnt, dem Angeklagten einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten. Sie hatte keinen Erfolg

II. Entscheidung

Grundsätze der Entpflichtung

Nach Auffassung des BGH hat der Vorsitzende Rechtsanwalt K. zu Recht entpflichtet. Nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO sei die Bestellung des Pflichtverteidigers unter anderem dann aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet sei. Der Gesetzgeber habe damit einen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Fall des Verteidigerwechsels normiert, der auf dem Gedanken der Sicherung einer sachgerechten Verteidigung beruht und bei dem es auf den Willen des Beschuldigten nicht ankomme (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 48; LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 143a Rn 38 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 143a Rn 24; krit. BeckOK-StPO/Krawczyk, 44. Ed., § 143a Rn 34; abl. Böhm, StV 2021, 196, 198 ff.). Insofern könne für die Frage, wann im Einzelnen das Fehlen einer angemessenen Verteidigung zu besorgen sei, auf die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden (vgl. BGH StRR 4/2020, 15 = RVGreport 2020, 239 unter Verweis auf BT-Drucks 19/13829, S. 48). Danach komme nicht nur bei groben Pflichtverletzungen die Auswechslung eines beigeordneten Pflichtverteidigers in Betracht, sondern auch, wenn dieser aufgrund äußerlich veranlasster, von seinem Willen unabhängiger Umstände außerstande ist, eine angemessene Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten (vgl. OLG Hamburg StraFo 2021, 379). Denn der Zweck der Pflichtverteidigung bestehe sowohl darin, dem Angeklagten (soweit gemäß § 140 StPO notwendig) rechtskundigen Beistand zu gewährleisten, als auch drain, den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu sichern (vgl. BVerfGE 39, 238, 242). In diesem Sinne steht die Verhinderung des Verteidigers an einem erheblichen Teil der (anberaumten oder avisierten) Hauptverhandlungstermine einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf entgegen, wobei das Interesse des Angeklagten an einer Beibehaltung des bisherigen Pflichtverteidigers gegenüber dem insbesondere in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot unter Umständen zurücktreten muss, sodass eine Auswechslung eines bestellten, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers im Einzelfall geboten sein kann. Auch wenn der Angeklagte in bestimmten Grenzen auf eine Verfahrensbeschleunigung verzichten können mag, dürfe der Fortgang einer Haftsache jedenfalls nicht erheblich verzögert werden (vgl. OLG Hamburg a.a.O.; OLG Hamm StV 2006, 481; OLG Koblenz NStZ-RR 2015, 117; OLG Zweibrücken StRR 8/2021, 8). Dem zur Entscheidung berufenen Vorsitzenden des zuständigen Spruchkörpers komme insoweit ein Beurteilungsspielraum zu. Die Auswechslung eines Pflichtverteidigers aufgrund terminlicher Verhinderung setze allerdings stets voraus, dass der Vorsitzende sich mit diesem in Verbindung setzt und ernsthaft versucht, dem Anspruch des jeweiligen Angeklagten, sich von dem Verteidigerseines Vertrauens verteidigen zu lassen, Rechnung zu tragen. Überdies dürfe kein gegenüber der Entpflichtung des Verteidigers milderes Mittel zur Verfügung stehen (vgl. OLG Hamburg a.a.O.).

Teilweise Verhinderung rechtfertigt Entpflichtung

Nach diesen Grundsätzen sei – so der BGH – die Entpflichtung von Rechtsanwalt K. nicht zu beanstanden. Diesem wäre eine Teilnahme lediglich an sieben der fünfzehn vom OLG in Aussicht genommenen Hauptverhandlungstermine zwischen August und November 2022 möglich. Auch die von Rechtsanwalt K. angebotenen 37 Ausweichtermine in diesem Zeitraum eigneten sich nach Auffassung des BGH nicht, seine Verhinderung an einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung zu beseitigen. Denn zum einen sei er bereits an sechs dieser Termine in anderer Sache als Pflichtverteidiger geladen. Zum anderen seien in einer weiteren laufenden Sache, in der Rechtsanwalt K. ebenfalls zum Pflichtverteidiger bestellt ist, zusätzliche Terminierungen im in Rede stehenden Zeitraum zu erwarten. Schließlich stehe der Durchführung der Hauptverhandlung an einer Vielzahl der angebotenen Ausweichtermine eine Verhinderung des mit der Sache befassten Strafsenats, etwa durch notwendige Vorbereitungszeiten, langfristig vorgeplante Erholungsurlaube, Fortbildungsteilnahmen oder ein anderweitiges Staatsschutzverfahren entgegen.

§ 144 Abs. 1 StPO keine Entlastungsvorschrift

Keine abweichende Beurteilung ergab sich für den BGH aus § 144 Abs. 1 StPO n.F., demzufolge zur Verfahrenssicherung bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger bestellt werden können (a.A. KMR/Staudinger, StPO, 98. EL, § 143a Rn 17). Denn eine Beiordnung nach § 144 StPO habe eigenständige, in den Umständen des Falles (Schwierigkeit oder Umfang des Prozessstoffes; außergewöhnlich lange Hauptverhandlungsdauer) selbst liegende sachliche Voraussetzungen (vgl. OLG Hamburg a.a.O.); sie diene nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend zu sein habe (vgl. OLG Stuttgart NStZ 2016, 436, 437).

Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers?

Der Vorsitzende des Strafsenats hat es nach Ansicht des BGH auch zu Recht abgelehnt, gemäß § 144 Abs. 1 StPO einen weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen. Auf die sofortige Beschwerde gegen diese Ablehnung prüfe das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende die Grenzen seines Beurteilungsspielraums hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm eingehalten und sein Entscheidungsermessen („können“) fehlerfrei ausgeübt habe (BGHSt 65, 129 = StRR 1/2021, 14 = AGS 2021, 140; BGH NStZ-RR 2021, 179). Daran gemessen sei der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Der Vorsitzende habe unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen angenommen, dass zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Hinzuziehung eines weiteren Verteidigers nicht erforderlich sei. Es handele sich um einen überschaubaren Verfahrensgegenstand, dessen Bearbeitung durch einen Pflichtverteidiger gewährleistet werden könne (vgl. BGH a.a.O.). Dieser Einschätzung hat sich der BGH angeschlossen, und zwar auch eingedenk des Umstandes, dass das OLG bei Verfahrenseröffnung seine Besetzung mit fünf Richtern gemäß § 122 Abs. 2 S. 2 GVG beschlossen hat. Denn während die genannte Vorschrift für das Erfordernis der Mitwirkung zweier weiterer Richter allein auf „Umfang oder Schwierigkeit der Sache“ abstelle, setze § 144 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zusätzlich voraus, dass „Umfang oder Schwierigkeit“ die „zügige Durchführung des Verfahrens“ zu beeinträchtigen drohen.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

Eine weitere Entscheidung „von ganz oben“ zu den gesetzlichen Neuregelungen im Recht der Pflichtverteidigung. Allerdings bringt die Entscheidung nicht viel Neues, da der BGH zu den Fragen der Entpflichtung und der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers nach den Regelungen des neuen Rechts bereits mehrfach Stellung genommen hat (vgl. die o.a. Zitate). Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass nun auch der BGH – wie schon das OLG Hamburg (a.a.O.) – die Verhinderung des Pflichtverteidigers an mehreren Hauptverhandlungsterminen als genügenden Anlass ansieht, dessen Bestellung aufzuheben. Das war schon zum alten Recht anerkannt (vgl. dazu die Nachweise bei Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3529 ff. m.w.N.). Aber: Der Vorsitzende muss sich – nach wie vor – ernsthaft bemühen, die Terminschwierigkeiten zu beseitigen. Das galt auch schon zum alten Recht (vgl. Burhoff/Hillenbrand, a.a.O.). Darauf weist der BGH ausdrücklich hin. Die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zur „Unterstützung“ des verhinderten Pflichtverteidigers gehört nach Auffassung des BGH aber nicht zu den ggf. zu ergreifenden Maßnahmen. Das ist m.E. zutreffend, denn § 144 Abs. 1 StPO hat eben, worauf der BGH hinweist, andere/zusätzliche Voraussetzungen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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