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StRR-Kompakt 2022_12

Durchsuchung: Einzelfallprüfung

Das Fehlen der gebotenen Einzelfallprüfung durch den Ermittlungsrichter folgt nicht schon daraus, dass er den Durchsuchungsbeschluss nicht selbst ausformuliert, sondern den ihm von der StA vorformuliert vorgelegten Beschlussentwurf unterzeichnet hat. Verlangt der Durchsuchungsbetroffene die Herausgabe sichergestellter Unterlagen und ist schon eine richterliche Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht ergangen, so ist allein diese beschwerdefähig, nicht jedoch der Durchsuchungsbeschluss (Anschluss an BGH, Beschl. v. 18.5.2022 – StB 17/22).

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 7.11.2022 – 12 Qs 49/22

Durchsuchung: Anfangsverdacht

Eine Durchsuchungsanordnung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die erst zur Begründung eines Verdachtes erforderlich sind.

LG Rostock, Beschl. v. 2.11.2022 – 11 Qs 126/22 (2)

Pflichtverteidiger: Entpflichtung

Der Beschuldigte muss die für eine etwaige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses sprechenden Umstände, die zu einer Entpflichtung des Pflichtverteidigers führen sollen, nicht hinreichend konkret vorbringen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen eine Entpflichtung nicht. Hinsichtlich des Entpflichtungsantrags eines Verteidigers gilt, dass die Frage, ob das Vertrauensverhältnis endgültig gestört ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten aus zu beurteilen ist. Der Beschuldigte soll die Entpflichtung nicht durch eigenes Verhalten erzwingen können. Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist deshalb regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist.

LG Hamburg, Beschl. v. 9.11.2022 – 636 Qs 17/22

Pflichtverteidiger: gemeinschaftliche Tatbegehung eines Minderjährigen mit einem Elternteil

Ist neben einem Minderjährigen einer seiner Elternteile angeklagt, mit diesem gemeinschaftlich eine Straftat begangen zu haben, so kann sich der Jugendliche in aller Regel nicht selbst verteidigen, weshalb auch dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, wenn dem mitangeklagten Elternteil nicht die elterlichen Verfahrensrechte nach § 67 Abs. 4 JGG ganz oder teilweise zu entziehen waren. Hat ein Jugendlicher eine Straftat gemeinsam mit einem Elternteil begangen, so bedarf es in der Regel einer besonders eingehenden Prüfung der Frage, ob der Jugendliche in der konkreten Konstellation und Situation die nach § 3 JGG erforderliche Reife hatte, eigenverantwortlich zu handeln. Es handelt sich insoweit um eine schwierige Sachlage, zumal dies zu thematisieren dem angeklagten Jugendlichen selbst kaum möglich und zumutbar ist. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird sich insofern auch über den Zeitpunkt hinaus erstrecken, mit dem der mitangeklagte Jugendliche volljährig wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn seine finanzielle und familiäre Abhängigkeit fortbesteht.

AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug

Beweisantrag: Sachverständigengutachten

Wird die Einholung eines Sachverständigengutachtens „zum Beweis der Tatsache“ beantragt, dass eine Erinnerungslücke der Nebenklägerin „den anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen der Aussagepsychologie widerspricht“, liegt kein Beweisantrag im Rechtssinn vor, weil in dem Antrag keine bestimmte Beweistatsache behauptet (§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO), sondern lediglich das Beweisziel mitgeteilt wird.

BGH, Beschl. v. 27.9.2022 – 5 StR 223/22

Terminierung: Anwalt des Vertrauens

Beschwerden gegen die Anberaumung von Hauptverhandlungsterminen oder gegen die Ablehnung eines Antrags auf Terminsverlegung sind ausnahmsweise zulässig, wenn der angefochtenen (Termins-)Entscheidung gewichtige und offensichtliche Ermessensfehler zugrunde liegen. Eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass der Vorsitzende des Gerichts bei der Terminierung neben der Belastung des Gerichts auch berechtigte Wünsche der Prozessbeteiligten, insbesondere des Verteidigers, berücksichtigt. Insbesondere muss er sich ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, so weit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen. Das gilt (nachträglich) auch dann, wenn eine Verteidigungsanzeige aus dem Verteidiger nicht anzulastenden Gründen zunächst nicht zur Akte gelangt ist.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.9.2022 – 4 Ws 403/22

Schöffe: gröbliche Amtspflichtverletzung

Weder mit Bußgeldern geahndete Verstöße gegen die Maskenpflicht bei sogenannten Montagsspaziergängen noch die bloße Teilnahme an solchen Versammlungen noch die gemäß § 26 Nr. VersammlG strafbewehrte Durchführung einer derartigen Versammlung ohne Anmeldung als Veranstalter oder Leiter begründen jeweils für sich allein oder in einer Zusammenschau die Annahme einer gröblichen Amtspflichtverletzung eines Schöffen i.S.d. § 51 Abs. 1 GVG.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.10.2022 – 1 Ws 187/22

Revision: Verfahrensrüge

Werden Verfahrensrügen unter Vorlage handschriftlich verfasster Anträge ohne Leseabschrift geführt, sind die Verfahrensrügen unzulässig, wenn die Verfahrenstatsachen in unleserlicher Form mitgeteilt werden (Anschluss an BGHSt 33, 44).

BGH, Beschl. v. 13.9.2022 – 5 StR 299/22

Revision: Vernehmung eines Berufsgeheimnisträgers

Soll mit der Verfahrensrüge der Angeklagten die Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO dadurch geltend gemacht werden, dass ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Berufsgeheimnisträgers, dem nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, abgelehnt worden ist, muss zur Zulässigkeit der Rüge vorgetragen werden, dass der (potenziell) Geschädigte den Zeugen von der Schweigepflicht entbunden hatte.

BGH, Beschl. v. 3.8.2022 – 5 StR 47/22

Elektronisches Dokument: falsches Dateiformat

Allein der Umstand, dass Schriftsätze entgegen § 32a Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 14 ERVV nicht im Dateiformat pdf, sondern im Dateiformat docx eingereicht wurden, führt nicht zur Formungültigkeit der darin enthaltenen Prozesserklärungen. Formunwirksamkeit tritt nur dann ein, wenn der Verstoß dazu führt, dass im konkreten Fall eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist. Demgegenüber führen rein formale Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn das Gericht das elektronische Dokument gleichwohl bearbeiten kann.

BGH, Beschl. v. 19.10.2022 – 1 StR 262/22

Elektronisches Dokument: Wiedereinsetzung

Aus einer stichprobenartigen Zustandsbeschreibung „PER FAX DA BEA DERZEIT HIER OHNE FUNKTION“ ergibt sich nicht, dass im Zeitpunkt der Übermittlung eine grundsätzlich einsatzbereite technische Infrastruktur existierte und eine nur vorübergehende technische Störung gegeben war (§ 32d StPO).

BGH, Beschl. v. 30.8.2022 – 4 StR 104/22

Pflichtverteidiger: Aufhebung der Bestellung

Das Strafverfahren i.S.v. § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen. Hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG. Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grundsätzlich gemäß § 143a Abs: 1 S. 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht.

OLG Köln, Beschl. v. 28.9.2022 – 2 Ws 484/22

Strafaufschub: hinreichende Gründe

Wenn der Verurteilte als alleiniger Geschäftsführer einer Firma zur Abwicklung seines Gewerbes bzw. dessen Ruhendstellung während der Strafvollstreckung diverse Termine bei Ämtern, Notaren und anderen Behörden glaubt wahrnehmen zu müssen, begründet dies hinreichende Gründe für einen Vollstreckungsaufschub.

LG Rostock, Beschl. v. 26.9.2022 – 11 StVK 937/17(1)

Beschleunigungsgebot: Urteilserlass

Das für Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot verliert durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils zwar nicht seine Bedeutung; Verzögerungen fallen aber nach Urteilserlass geringer ins Gewicht als vor diesem Zeitpunkt. Allerdings sind weiterhin die bereits vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils eingetretenen Verzögerungen zu beachten.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 6.10.2022 – 1 Ws 184/22

Hakenkreuz: Karikatur in sozialem Netzwerk

Das Einstellen einer Karikatur, in der ein Hakenkreuz abgebildet ist, in einen Instagram-Account erfüllt grundsätzlich den Straftatbestand des § 86a Abs. 1 StGB. Eine aufgrund des Schutzzwecks des § 86a Abs. 1 StGB erforderliche Restriktion des Tatbestands ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich auf Anhieb aus der Abbildung in eindeutiger und offenkundiger Weise die Gegnerschaft des Angeklagten zur NS-Ideologie ergibt.

BayObLG, Beschl. v. 7.10.2022 – 202 StRR 90/22

Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen: Hakenkreuz auf einer sozialen Internetplattform

§ 86a StGB dient u.a. dem Zweck, die Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen grundsätzlich aus dem Bild des politischen Lebens zu verbannen und ein kommunikatives „Tabu“ zu errichten. Das Einstellen der Abbildung eines unveränderten Hakenkreuzes in ein Facebook-Profil ist mit diesem Schutzzweck nicht vereinbar, weil es keine nur flüchtige Verwendung eines Kennzeichens ist.

OLG Braunschweig, Urt. v. 5.10.2022 – 1 Ss 34/22

Volksverhetzung: Hochladen von Bildern in WhatsApp-Gruppe

Das Hochladen eines Bildes, das einen fremdenfeindlichen und dunkelhäutige Menschen herabwürdigenden Charakter aufweist, in einer WhatsApp-Gruppe, deren 60 Mitglieder rechte und ausländerfeindliche Tendenzen aufweisen, erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB, denn angesichts der massenhaften, über den Instant-Messaging-Dienst vorgenommenen Weiterverbreitung dort ausgetauschter Bild-Dateien ist mit einer Weiterverbreitung des Bildes an eine unbekannte Vielzahl von Personen und damit mit einer Störung des öffentlichen Friedens zu rechnen. Vor diesem Hintergrund stellt auch das Hochladen von nationalsozialistische Symbole verherrlichenden Bildern in einer derartigen WhatsApp-Gruppe ein Verbreiten i.S.v. § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB dar.

OLG Celle, Beschl. v. 11.10.2022 – 2 Ss 127/22

Volksverhetzung: Gelber „Judenstern“ mit Aufschrift „UNGEIMPFT“

Das Anbringen eines sog. gelben „Judensterns“ mit der Aufschrift „UNGEIMPFT“ auf einem Pkw, der auf einem für jedermann einsehbaren Parkplatz abgestellt wird, ist als Volkverhetzung nach § 130 StGB strafbar.

LG Köln, Beschl. v. 4.4.2022 – 113 Qs 6/22

Absonderung von Strafgefangenen: Corona-Verdacht

Die Absonderung von Gefangenen bei einem Verdacht auf eine Corona-Infektion ist eine zur Verhinderung der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus geeignete und zulässige Maßnahme.

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.10.2022 – 2 Ws 272/22

Standardisiertes Messverfahren: Zugang zur Statistikdatei und Case-List eines Geschwindigkeitsmessgerätes

Bei Anwendung eines standardisierten Messverfahrens in Ordnungswidrigkeitenverfahren erfordert der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen in materieller Hinsicht einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung (wie VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.12.2021 – VGH B 46/21). Für die Beurteilung der Verteidigungsrelevanz einer begehrten Information ist im Ausgangspunkt der Vortrag des Betroffenen maßgeblich, der einer Evidenzkontrolle standzuhalten hat (hier zu Statistikdatei und Case-List eines Geschwindigkeitsmessgerätes).

VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 27.10.2022 – VGH B 57/21

Atemalkoholmessung: Urteilsanforderungen

Beim Atemalkoholmessgerät Dräger Alcotest 9510 DE ist der ermittelte Mittelwert der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 24a Abs. 1 StVG ohne Sicherheitsabschlag zugrunde zu legen. Der Mitteilung der festgestellten Einzelmessergebnisse bedarf es in der Regel nicht.

KG, Beschl. v. 14.10.2022 – 3 Ws (B) 253/22

Corona-Verordnung: öffentlich zugänglich

Nicht jede Arztpraxis ist öffentlich zugänglich i.S.v. § 4 Nds. Coronaverordnung vom 30.10.2020.

OLG Oldenburg, Beschl. v. 29.9.2022 – 2 Ss (OWi) 131/22

Haftzuschlag: Unterbringung in externer Wohneinrichtung

Im Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB fällt ein gebührenrechtlicher Haftzuschlag für die Terminsgebühr des Verteidigers nach Nr. 4203 VV RVG nicht an, wenn ein in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachter im Zeitpunkt der Anhörung im Rahmen einer extramuralen Belastungserprobung in einer externen betreuten Wohneinrichtung wohnt, in der er in seiner Bewegungsfreiheit keinen maßgeblichen Einschränkungen unterliegt.

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.10.2022 – 2 Ws 273/22

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