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Pflichtverteidiger für nur einen Termin

Auch dem nur für einen Termin beigeordneten Rechtsanwalt stehen sämtliche im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG zu.

(Leitsatz des Verfassers)

AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022398 Gs 540 Js 594/22 (259/22)

I. Sachverhalt

Als Pflichtverteidiger für einen Hafttermin bestellt

In dem Ermittlungsverfahren ist dem Beschuldigten mit Beschluss des AG Rechtsanwalt R. gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Das AG hat wörtlich ausgeführt: „Dem Beschuldigten wird für den heutigen Termin gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO der Rechtsanwalt R zum Pflichtverteidiger bestellt. Für das weitere Verfahren wird auf ausdrücklichen Wunsch des Beschuldigten der heute verhinderte Rechtsanwalt H. gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt.“

Alle Gebühren beantragt und festgesetzt

Der Rechtsanwalt beantragte dann die Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren. Dabei wurde u.a. auch eine Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG und eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4103 VV RVG beantragt. Dem Antrag hat der Urkundsbeamte vollumfänglich stattgegeben und die Auszahlung angewiesen. Die Vertreterin der Landeskasse hat gegen die Festsetzungsentscheidung des Urkundsbeamten Erinnerung eingelegt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bestellung des Kollegen ausschließlich für den Termin erfolgt sei. Es sei zwar die Terminsgebühr, nicht jedoch die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr entstanden. Das AG hat auf die Erinnerung den Festsetzungsbeschluss nicht abgeändert.

II. Entscheidung

Alle Gebühren

Das AG sieht keinen Anlass, die Entscheidung des Urkundsbeamten abzuändern. Ob für den nur für einen Termin als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt eine Grundgebühr und eine Verfahrensgebühr neben der Terminsgebühr entstehen, sei umstritten. Nur für das Entstehen einer Terminsgebühr habe sich das OLG Celle (RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534 = JurBüro 2018, 580; s. auch HK-RVG/Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn 34–37) ausgesprochen. Für das Entstehen von allen durch die anwaltliche Tätigkeit verwirklichten Gebührentatbeständen seien das das OLG Bamberg, Beschl. v. 21.12.2010 – 1 Ws 700/10; das OLG Hamm, Beschl. v. 23.3.2006 – 3 Ws 586/05, das OLG Karlsruhe (StraFo 2008, 349 = NJW 2008, 2935 = RVGreport 2009, 19 = StRR 2009, 119), das OLG Köln (RVGreport 2010, 462 = RVGprofessionell 2010, 153 = AGS 2011, 286), das OLG München (RVGreport 2016, 145 = AGS 2014, 174 = StRR 2014, 271) und das OLG Nürnberg (RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29 = StRR 2015, 118).

Der Urkundsbeamte habe sich – so das AG – rechtsfehlerfrei und ermessensfehlerfrei der Auffassung angeschlossen, dass auch dem nur für einen Termin beigeordneten Rechtsanwalt sämtliche im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG zustehen. Dies folge daraus, dass sich der insoweit beigeordnete Pflichtverteidiger in den Rechtsfall selbstständig einarbeiten muss und ihm die vollständige Verantwortung für die Verteidigungstätigkeiten in dem jeweiligen Termin mit allen Rechten und Pflichten obliegt. Die Bestellung sei ohne inhaltliche oder gebührenrechtliche Einschränkung erfolgt. Es sei kein Grund erkennbar, weshalb dem umfassend mit allen Verteidigertätigkeiten für den Termin beigeordneten Rechtsanwalt dies gebührenrechtlich nicht abzugelten sein sollte. Dies gelte nach Auffassung des Urkundsbeamten insbesondere auch für den nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beigeordneten Rechtsanwalt (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 25. Aufl. 2021, RVG VV 4100 Rn 5). Daher seien für die erstmalige Einarbeitung des Rechtsanwalts R. in den Rechtsfall die Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG, für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information (vgl. Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG) die Verfahrensgebühr nach Nr. 4105 VV RVG und neben der unstreitigen Terminsgebühr nach Nr. 4103 VV RVG, 4102 Nr. 3 VV RVG auch die Postpauschale nach Nr. 7002 VV RVG, für deren Geltendmachung es keines Nachweises bedürfe, entstanden und erstattungsfähig. Hinzu komme die Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG.

Nur Terminsgebühr = ggf. Arbeit ohne Lohn

Im Übrigen merkt das AG an: In einem anderen Ermittlungsverfahren, in dem ein Termin zur Verkündung eines Haftbefehls stattgefunden hat, habe die Vertreterin der Landeskasse Erinnerung gegen die festgesetzte Terminsgebühr eingelegt, da nach ihrer Auffassung in diesem Haftprüfungstermin nicht verhandelt worden sei und daher der in Nr. 4102 Nr. 3 VV RVG geforderte Gebührentatbestand des „Verhandelns“ nicht erfüllt sei. Folgte man der Auffassung der Vertreterin der Landeskasse, dass dem nur für einen Termin beigeordneten Rechtsanwalt grundsätzlich lediglich eine Terminsgebühr zustehe, fragte man sich, welche gebührenrechtliche Abgeltung einem nur für einen Termin zur Haftbefehlsverkündung beigeordneten Pflichtverteidiger zusteht, in dem der Gebührentatbestand des Verhandelns nicht erfüllt ist und die Terminsgebühr nach Nr. 4102 Nr. 3 VV RVG daher nicht entstanden ist. Nach der von der Vertreterin der Landeskasse vertretenen Auffassung wäre die Tätigkeit des Pflichtverteidigers dann eine vergütungsfrei zu erbringende Tätigkeit im öffentlichen Interesse.

III. Bedeutung für die Praxis

Schöne Hilfsüberlegung des AG

Die Entscheidung ist zutreffend (so auch zum neuen Recht LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20, LG Magdeburg AGS 2021, 427). Die Auffassung war schon zum alten Recht zutreffend. Sie ist es zur Rechtslage nach der Neuregelung erst recht, denn nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO oder nach § 141 Abs. 2 StPO wird dem Beschuldigten ausdrücklich ein „notwendiger Verteidiger“ oder „Pflichtverteidiger“ beigeordnet. Sehr schön ist die Argumentation des AG im letzten Absatz seiner Entscheidung. Denn in der Tat wäre es, wenn die andere Auffassung, die (natürlich) von den Vertretern der Landeskassen bevorzugt wird, zutreffend wäre, so, dass der Pflichtverteidiger in den Fällen, in denen nicht i.S.d. Nr. 4203 Nr. 3 VV RVG „verhandelt“ worden ist, für seine Tätigkeit keine gesetzlichen Gebühren erhalten würde. Das wäre dann Verteidigung zum Nulltarif, die das RVG m.E. aber nicht vorsieht. Die Landeskasse wird dem sicherlich das berühmte „Sonderopfer des Pflichtverteidigers“ entgegenhalten, was aber auch nicht zutreffend wäre, da das ja wohl nicht so weit gehen kann, dass die Tätigkeit eines Pflichtverteidigers überhaupt nicht honoriert wird. Und dann bleibt natürlich immer noch der Hinweis auf eine Pauschgebühr nach § 51 RVG. Aber auch dieser Hinweis ist nur ein Scheinargument. Denn wir wissen alle, wann die OLG Pauschgebühren gewähren: im Zweifel nicht.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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