Beitrag

Rechtsprechungsübersicht zum neuen Recht der Pflichtverteidigung

Durch das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2128), das am 13.12.2019 in Kraft getreten ist, ist das Recht der Pflichtverteidigung neu geregelt worden. Dieses Gesetz hat die EU-RiLi 1916/2020 umgesetzt. Über die Neuregelungen hat jeweils Hillenbrand in ZAP F. 22, S. 983 ff. und in StRR 3/2020, 5 u. 4/2020, 5 berichtet (vgl. a. noch Spitzer, StV 2020, 418). Inzwischen liegt zu den Neuregelungen einiges an Rechtsprechung vor. Diese stellen wir in der nachfolgenden alphabetischen Übersicht vor.

I.Allgemeines

Der Schwerpunkt der Diskussion zum neuen Recht liegt derzeit offensichtlich bei der Frage der nachträglichen/rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hier scheint es – wie auch in der Rechtsprechung zum alten Recht – auf eine Zweiteilung hinauszulaufen: Auf der einen Seite stehen die LG und AG, die weitgehend auch zum neuen Recht die Auffassung vertreten, dass eine rückwirkende Bestellung zulässig ist. Ihnen gegenüber dürfte dann auch in Zukunft wahrscheinlich die überwiegende Rechtsprechung der OLG und einiger LG stehen, die – mit alten Argumenten – das als nicht zulässig ansehen. Darauf deuten jedenfalls einige der bekannt gewordenen OLG-Entscheidungen hin.

II.Rechtsprechungsübersicht

Die bisher vorliegende Rechtsprechung ist in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. Sie hat den Stand vom 1.8.2021.

1. Beschleunigtes Verfahren

Bei § 142 StPO n.F. handelt es sich nicht (mehr) um eine Soll-Vorschrift, von der wegen eines beschleunigten Verfahrens eine Ausnahme möglich wäre. Vielmehr hat die Anhörung des Beschuldigten zur Bestellung eines Pflichtverteidigers ausnahmslos zu erfolgen und ist allenfalls dann entbehrlich, wenn ein Beschuldigter bereits einen bestimmten Verteidiger benannt hat (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 21.8.2020 – 3 Qs 117/20, StraFo 2020, 457).

2. Bestellung, Allgemeine Voraussetzungen

Es steht der Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegen, dass der Angeschuldigte einen Wahlverteidiger hat, wenn dieser erklärt hat, im Falle seiner Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen. Diese Erklärung genügt auch nach § 141 Abs. 1 StPO in der seit 13.12.2019 geltenden Fassung dem Erfordernis, dass der Angeschuldigte noch keinen Verteidiger hat (LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020 – 12 Qs 78/20; LG Magdeburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 29 Qs 2/20; Beschl. v. 15.5.2020 – 21 Qs 47 u. 48/20). Die Niederlegung soll aber erklärt werden müssen (LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20).

Unverzüglich i.S.d. §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass Verteidigungsrechte gewahrt werden. Grundsätzlich ist hierunter eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer, maximal zwei Wochen zu verstehen (LG Bochum NStZ-RR 2020, 352); die Weiterleitung eines Antrags auf Beiordnung drei Wochen nach Antragstellung ist auch unter Berücksichtigung einer Prüfungs- und Überlegungsfrist nicht unverzüglich i.S.v. §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 S. 2 StPO (LG Halle, Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/12). Für die Frage, ob dem Beschuldigten der Tatvorwurf i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bereits eröffnet ist, genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat. Inwieweit der Beschuldigte schon Kenntnis hat, hängt also nicht von einer förmlichen Beschuldigtenvernehmung ab (LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20). Das AG Detmold war unzutreffend davon ausgegangen, dass dann, wenn der Beschuldigte von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren nicht vorliegen sollten, auch wenn gegen den Beschuldigten ein Verbrechensverdacht besteht (AG Detmold, Beschl. v. 6.3.2020 – 2 Gs 514/20, StRR 4/2020, 23 m. abl. Anm. Hillenbrand). Zutreffend ist der die AG-Entscheidung aufhebende Beschluss des LG Detmold (Beschl. v. 5.5.2020 – 23 Qs 31/20).

3. Bestellung, Ausnahme

Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO (LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20). Die Ausnahmevorschrift des (neuen) § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt wird, das Verfahren alsbald einzustellen, betrifft nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur die Fälle der antragsunabhängigen Beiordnung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 Nr. 2 und 3 StPO, nicht aber die Beiordnung auf Antrag gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO (LG Bremen, Beschl. v. 28.6.2021 – 41 Qs 243/21; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 27.8.2020 – 3 Qs 121/20, StRR 10/2020, 20; LG Erfurt, Beschl. v. 16.6.2021 – 7 Qs 120/21; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20, StRR 9/2020, 23; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20).

4. Bestellung, Fälle des § 140 Abs. 1 StPO

Gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn zu erwarten ist, dass die Verhandlung vor dem Schöffengericht stattfindet. Diese Erwartung ist im Zwischenverfahren immer dann zu bejahen, wenn Anklage zum Schöffengericht erhoben wird (LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.2.2020 – 3 Qs 11/20). Diese Vorschrift findet nach der klaren Regelung des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG auch im Verfahren gegen Jugendliche uneingeschränkt Anwendung (LG Münster, Beschl. v. 7.9.2020 – 21 Qs 12/20; LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.2.2020 – 3 Qs 11/20).

Ein Verbrechen wird einem Beschuldigten i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht nur dann zur Last gelegt, wenn dem Beschuldigten förmlich, also in der Anklageschrift, dem Eröffnungsbeschluss oder einer Nachtragsanklage ein Verbrechen i.S.d. § 12 StGB zur Last gelegt wird, sondern auch, wenn im Stadium des Ermittlungsverfahrens wegen eines solchen (lediglich) ermittelt wird (LG Magdeburg, Beschl. v. 4.6.2020 – 25 Qs 47 u. 48/20; ähnlich LG Flensburg, Beschl. v. 30.7.2020 – II Qs 28/20 jug). Diesem letzten Aspekt, der Betrachtung des Tatvorwurfs bereits im Ermittlungsverfahren, kommt durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 nun eine zentrale Bedeutung zu.

Das Gericht kann die Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht von vornherein auf die Dauer der Inhaftierung beschränken. Vielmehr ist ggf. die Pflichtverteidigerbestellung durch ausdrücklichen Aufhebungsbeschluss zu beenden, wenn die Voraussetzungen des § 143 Abs. 2 S. 2 StPO vorliegen (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 7.4.2020 – 6 Qs 4/20).

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat – auch nachträglich – zu erfolgen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen hat (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 22/21). Nach der neuen Gesetzesfassung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO („aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden“) liegen die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch vor, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Untersuchungshaft befindet (u.a. LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 22/21). Bei einer Anstalt muss es sich nicht um eine JVA handeln, auch der Grund für den Aufenthalt in einer Anstalt ist nicht von Bedeutung (AG Frankfurt a.M., Beschl. v. 30.3.2020 – 3610 Js 242150/19 – 931 Gs). Es reicht auch, wenn gegen den Beschuldigten Auslieferungshaft in anderer Sache im Ausland zum Zwecke der Überstellung ins Inland vollzogen wird (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 20/21, StraFo 2021, 287).

5. Bestellung, Fall des § 141 StPO

Liegen die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO vor, ist zwingend ein Verteidiger zu bestellen. Ein Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung von Rechtspflege- oder fiskalischen Interessen ist nicht eröffnet (LG Bochum NStZ-RR 2020, 352). Für die Eröffnung des Tatvorwurfs i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat. Die Auslegung, nach welcher unter der Eröffnung des Tatvorwurfes i.S.v. § 141 Abs. 1 StPO nur die förmliche Mitteilung i.S.v. §§ 136, 163a StPO verstanden wird, ist unter Beachtung der Neuregelung der Vorschriften zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zu eng (LG Leipzig, Beschl. v. 10.3.2021 – 25 Qs 2/21).

6. Bestellung, Schwere der Tat

Zwar gibt nicht schon jede Freiheitsstrafe Anlass zur Bestellung eines Pflichtverteidigers. Jedoch kann eine zu erwartende Freiheitsstrafe über einem Jahr in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (OLG Hamm, Beschl. v. 11.2.2020 – III-5 RVs 6/20; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 74/20). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht: über einem) Jahr und mehr anzunehmen (LG Stralsund, Beschl. v. 2.2.2021 – 26 Qs 4/21). Drohen einem Angeschuldigten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der Tat i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig ([grds. auch] LG Hannover, Beschl. v. 16.6.2021 – 63 Qs 23/21; LG Magdeburg, Beschl. v. 15.5.2020 – 21 Qs 47/20 und 48/20; Beschl. v. 21.4.2021 – 21 Qs 10/21). Daran hat sich durch die Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung nichts geändert (LG Magdeburg, Beschl. v. 30.4.2020 – 25 Qs 36/20).

Die Grenze der Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (LG Erfurt, Beschl. v. 27.4.2021 – 7 Qs 89/21; LG Hannover, Beschl. v. 16.6.2021 – 63 Qs 23/21; LG Magdeburg, Beschl. v. 21.4.2021 – 21 Qs 10/21; LG Leipzig, Beschl. v. 14.4.2021 – 6 Qs 29/21; LG Siegen, Beschl. v. 14.7.2020 – 10 Qs 68/20; LG Stralsund, Beschl. v. 2.2.2021 – 26 Qs 4/21; vgl. auch noch LG Koblenz, Beschl. v. 31.3.2021 – 10 Qs 20/21). In die für die Beantwortung der Frage, ob die Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert, anzustellende Rechtsfolgenbetrachtung sind auch mittelbare schwerwiegende Nachteile, wie z.B. eine ggf. drohende Gesamtfreiheitsstrafe, einzubeziehen. Entscheidend für die Beiordnung ist ein Gesamtstrafübel, welches über die nicht schematisch zu betrachtende Jahresgrenze wesentlich hinausgeht (LG Wuppertal, Beschl. v. 18.8.2020 – 23 Qs 93/20).

Für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO sind die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Zudem sind auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen, wie z.B. eine drohende Einziehungsmaßnahme (AG Eggenfelden, Beschl. v. 31.5.2021 – 1 Cs 502 Js 5973/21), wobei (auch) die sich aus der derzeitigen Pandemielage ergebenden Auswirkungen von Bedeutung sein können (LG Aurich, Beschl. v. 5.2.2021 – 12 Qs 28/21).

7. Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

Zwar erfordert nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation eine Beiordnung. Diese kommt aber namentlich dann in Betracht, wenn die Angaben des den Angeklagten belastenden einzigen Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen sind (OLG Hamm, Beschl. v. 9.7.2020 – 5 Ws 202/20; s.a. noch OLG Karlsruhe, Beschl. 26.2.2020 – 1 Rv 21 Ss 36/20). Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO aufgrund schwieriger Rechtslage vor, wenn sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (OLG Oldenburg, Beschl. v. 5.6.2020 – 1 Ws 228/20, StV 2021, 152 [Ls.]), was auch hinsichtlich der Frage der Verwertung einer Wahllichtbildvorlage gilt (LG Schwerin, Beschl. v. 5.3.2020 – 33 Qs 12/20; zur [verneinten] Beiordnung eines Pflichtverteidigers im selbstständigen Einziehungsverfahren LG Tübingen, Beschl. v. 11.2.2020 – 9 Qs 16/20; AG Reutlingen, Beschl. v. 20.1.2020 – 5 Ds 28 Js 3435/19). Eine schwierige Sachlage bei Verfahren vor dem AG – Strafrichter – liegt vor, wenn zum Beispiel ein Indizienbeweis zu führen ist, oder vor dem Wirtschaftsstrafrichter, wenn insbesondere Vorgänge der Betriebsführung, Buchhaltung und Bilanzierung zu prüfen sind (LG Regensburg, Beschl. v. 15.7.2020 – 6 Qs 5/20). Bei einem zur Tatzeit jugendlichen Beschuldigten ist eine extensive Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO geboten (LG Bremen, Beschl. v. 28.6.2021 – 41 Qs 243/21).

Ob ein steuerstrafrechtlicher Vorwurf stets die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet, kann offenbleiben, allerdings gibt es dafür gewichtige Gründe (LG Braunschweig, Beschl. v. 11.9.2020 – 11 Qs 182/20). Es handelt sich um Blankettstrafrecht, bei dem die Rechtslage nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden kann. Verfügt der/die Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen, ist er mit der Rechtsmaterie regelmäßig überfordert. Eine laienhafte oder intuitive Einschätzung der Rechtslage, wie sie bei Normen des Kernstrafrechts möglich ist, genügt nicht (vgl. LG Essen, Beschl. v. 2.9.2015 – 56 Qs 1/15). Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, wenn weitere Umstände hinzutreten, die die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründen (Tatzeitraum mehr als vier Jahre; der Strafbefehl umfasst zehn Taten; die Berechnung der Steuerschuld und somit des Einziehungsbetrags bedarf näherer Kenntnisse des Steuerrechts; LG Braunschweig, a.a.O.). Beim Tatvorwurf der falschen Verdächtigung gemäß § 164 StGB gilt die Sachlage grundsätzlich als schwierig, da zur Klärung des Tatvorwurfs zwei Geschehensabläufe zu rekonstruieren und zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, womit ein Normalbürger regelmäßig überfordert ist (LG München I, Beschl. v. 9.4.2021 – 19 Qs 8/21). Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO (KG, Beschl. v. 14.10.2020 – 3 Ws 226/20). Es liegt eine schwierige Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn es maßgeblich auf die Auslegung von Begriffen aus dem Nebenstrafrecht und dabei insbesondere auch auf die – stellenweise auch für erfahrene Rechtsanwender unübersichtlichen – Normen und Anlagen des SprengG, vor allem aber des WaffG, ankommt (LG Magdeburg, Beschl. v. 4.5.2021 – 21 Qs 14/21).

Die Schwierigkeit der Sachlage wird auch begründet, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden kann (LG Braunschweig, Beschl. v. 11.9.2020 – 11 Qs 182/20; LG Gera, Beschl. v. 25.1.2021 – 11 Qs 18/21, StV-S 2021, 64 [Vielzahl von Polizeizeugen]; vgl. auch OLG Braunschweig, Beschl. v. 17.1.2020 – 1 Ws 280/19 u. 287/19 für das Strafvollstreckungsverfahren). Das gilt insbesondere auch in den sog. KiPo-Verfahren. Zwar ist mit der Änderung des § 147 Abs. 4 StPO zum 1.1.2018 das Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten erweitert worden. Dem Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten stehen aber in diesen Verfahren nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegen, da die Einsicht des Beschuldigten in Beweismittelbände zu kinderpornographischen Abbildungen den Intimbereich der abgebildeten Person betrifft (a.A. LG Ansbach, Beschl. v. 12.10.2020 – 3 Qs 49/20). Ohne eine Anschauung der Abbildung als wesentliches Beweismittel ist eine ausreichende Verteidigung für den Beschuldigten aber nicht möglich, so dass der Verteidiger die Abbildung zu sichten und den Beschuldigten über seine Erkenntnisse zu unterrichten hat (LG Halle, Beschl. v. 29.6.2020 – 10a Qs 59/20; Beschl. v. 12.8.2020 – 10a Qs 77/20, StRR 10/2020, 22; LG Wuppertal, Beschl. v. 11.12.2020 – 23 Qs 160/20; AG Wuppertal, Beschl. v. 5.11.2020 – 14 Gs 148/20). Das LG Ansbach geht hingegen davon aus, dass dem Beschuldigten auch im KiPo-Verfahren ein eigenes Akteneinsichtsrecht zusteht und deshalb die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich ist (LG Ansbach, Beschl. v. 12.10.2020 – 3 Qs 49/20). Soll im JGG-Verfahren der Tatnachweis durch ein für einen juristischen Laien nicht leicht verständliches DNA-Gutachten geführt werden, ist im Zweifel die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich (LG Amberg, Beschl. v. 4.2.2021 – 51 Qs 1/21 jug). Die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordert nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Für eine Beiordnung spricht aber das Vorliegen eines DNA-Gutachtens, mit dem eine kritische Auseinandersetzung erfolgen muss, die einem Laien ohne Unterstützung durch einen Verteidiger in der Regel nicht möglich sein wird (LG Aachen, Beschl. v. 8.7.2020 – 62 Qs 41/20).

Zur Beantwortung der Frage, ob es sich im Falle unsachlicher und ehrverletzender Äußerungen gegenüber staatlichen Bediensteten noch um zulässige Formen der Meinungsfreiheit oder um herabsetzende Formalbeleidigungen bzw. Schmähkritik handelt, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung von Anlass und Kontext einer Äußerung und der anschließenden Wertung, inwieweit ein sachliches Anliegen bzw. die persönliche Kränkung im Vordergrund steht. Vor diesem Hintergrund ist die Beiordnung eines Verteidigers zur Ermöglichung einer sachgerechten Verteidigung unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens geboten (LG Münster, Beschl. v. 6.8.2020 – 11 Qs 42/20; vgl. a. noch LG Bremen, Beschl. v. 28.6.2021 – 41 Qs 243/21). Eine besondere Schwierigkeit der Rechtslage kann im Hinblick auf den Tatvorwurf des verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliegen, da bei der Anwendung dieser Norm sich ggf. verschiedene Rechtsfragen stellen, die bislang nicht (eindeutig) höchstrichterlich geklärt wurden (LG Aachen, Beschl. v. 11.1.2021 – 62 Qs 83/20).

8. Bestellung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Gem. § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustandes in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist (vgl. z.B. LG Hamburg, Beschl. v. 21.5.2021 – 601 Qs 18/21; AG Bremen, Beschl. v. 8.5.2020 – 91b Gs 333/20 für des Lesens und Schreibens nicht mächtigen ausländischen Beschuldigten). Eine Pflichtverteidigerbestellung ist mithin schon dann notwendig, wenn an der Fähigkeit der Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (OLG Celle, Beschl. v. 3.12.2019 – 2 Ws 352/19; LG Koblenz, Beschl. v. 18.3.2020 – 12 Qs 15/20). Allein der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, begründet für sich allein noch keine notwendige Verteidigung (LG Neubrandenburg, Beschl. v. 21.11.2020 – 22 Qs 48/19; LG Stralsund, Beschl. v. 16.3.2020 – 23 Qs 61/20 jug; zur [verneinten] Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Beschuldigten im Hinblick auf Verständigungsschwierigkeiten und ggf. mögliche ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung LG Kaiserslautern, Beschl. 27.11.2020 – 5 Qs 84/20; zur [verneinten] Beiordnung eines Pflichtverteidigers für einen Jugendlichen, dem im vereinfachten JGG-Verfahren eine Trunkenheitsfahrt vorgeworfen wird LG Hechingen, Beschl. v. 21.5.2021 – 3 Qs 21721 jug).

9. Bestellung, Bußgeldverfahren

Angesichts der naheliegenden Möglichkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens und einer späteren Auseinandersetzung damit ist auch im Bußgeldverfahren die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO erforderlich (LG Magdeburg, Beschl. v. 13.12.2019 – 28 Qs 956 Js 73928/19).

10. Bestellung, Strafvollstreckungsverfahren

Zwar hat der Gesetzgeber auch in die ab 13.12.2019 geltende Fassung des § 140 StPO keine Regelung zur Pflichtverteidigung im VoIlstreckungsverfahren aufgenommen und auch die bereits bestehenden Regelungen im Bereich der Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht erweitert, dennoch kommt eine entsprechende Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO weiterhin aus den bisherigen Gründen in Betracht, insbesondere bei der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage des Vollstreckungsverfahrens (KG, Beschl. v. 31.1.2020 – 1 ARs 4/20 [Pflichtverteidigerbestellung bejaht wegen der Vielzahl der beantragten Weisungen nach § 68b Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 StGB]). Daneben spielen aber auch die Schwere der Tat oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, eine Rolle (LG Düsseldorf, Beschl. v. 20.4.2021 – 4 Qs 8/21). Das LG Braunschweig hat (allein) wegen einer Zustellungsproblematik beigeordnet (LG Braunschweig, Beschl. v. 24.3.2021 – 9 Qs 68/21).

Die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers im Straf- und Maßregelvollstreckungsverfahren analog § 140 Abs. 2 StPO oder gem. § 463 Abs. 4 S. 8 StPO betrifft immer nur das konkrete Überprüfungsverfahren und nicht die gesamte Straf- oder Maßregelvollstreckung bis zur Entlassung des Verurteilten oder Untergebrachten (OLG Celle, Beschl. v. 31.7.2020 – 2 Ws 122/20). Für eine Entpflichtung des beigeordneten Verteidigers nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens besteht daher keine Veranlassung (OLG Hamburg, Beschl. v. 19.3.2020 – 2 Ws 16/20, StraFo 2020, 198). Ein neuer Prüfungsabschnitt beginnt spätestens mit der Erforderlichkeit und der Auswahl eines externen Sachverständigen mit der Folge, dass dem Untergebrachten ab diesem Zeitpunkt ein Verteidiger beizuordnen ist (OLG Celle a.a.O.). Ein neues Ermittlungsverfahren kann, vor allem wenn es auf einem Verhalten des Verurteilten im Vollzug beruht, ein maßgeblicher Gesichtspunkt für die Prognoseentscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB sein (Fischer, StGB, 66. Aufl., § 57 Rn 15a) und deshalb ggf. im Strafvollstreckungsverfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern (OLG Braunschweig, Beschl. v. 17.1.2029 – 1 Ws 280/19 u. 287/19).

11. Bestellung, Antrag/Verfahren/Zeitpunkt

Die Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 1 StPO n.F. erfordert nur, dass dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet wurde und er noch keinen Verteidiger hat. Es ist nicht erforderlich, dass der darüber hinaus gebotene Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung seitens des Beschuldigten sofort nach der Belehrung und noch vor dessen Erstvernehmung gestellt werden muss (LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20). Aber: Das Antragsrecht des § 141 Abs. 1 StPO besteht erst ab dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte über den Tatvorwurf unterrichtet wird. Erforderlich ist, dass der Verdächtige oder beschuldigte Personen von den zuständigen Behörden durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden (LG Ulm StRR 9/2020, 24 m. Anm. Hillenbrand). Im Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen. Davon ist auch im Fall mangelnder eindeutiger Erklärung auszugehen (LG Passau, Beschl. v. 26.1.2021 – 1 Qs 6/21). Liegt der Fall einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor, weil sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet, ist über die Pflichtverteidigerbestellung regelmäßig innerhalb einer Woche ab Antragstellung zu entscheiden (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 22/21).

Von der in § 142 Abs. 5 S. 1 StPO begründeten Anhörungspflicht kann nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden. Dem Beschuldigten ist bei der Anhörung eine angemessene Überlegungsfrist zur Stellungnahme und Auswahl eines Verteidigers zu gewähren. Dies gilt auch in Haftsachen. Wird dem Beschuldigten eine zu kurze Überlegungsfrist oder mangels jeglicher Belehrung über sein Wahlrecht gar keine Frist gesetzt, ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch noch nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO möglich (LG Mainz, Beschl. v. 5.11.2020 – 3 Qs 62/20 jug).

12. Bestellung, rückwirkende Bestellung

Herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG ist es inzwischen – auch zum neuen Recht –, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers zumindest in Verfahren in Betracht kommt, in denen der Antrag auf gerichtliche Beiordnung vor Verfahrensabschluss gestellt wurde und die Voraussetzungen des § 140 StPO vorgelegen haben (vgl. u.a. LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020 – 12 Qs 78/20; Beschl. v. 21.7.2020 – 13 Qs 14/20; LG Bochum NStZ-RR 2020, 352; LG Bonn, Beschl. v. 28.4.2020 – 1 Qs 25/20; LG Bremen, Beschl. v. 17.8.2020 – Qs 221/20, StraFo 2020, 454; LG Detmold, Beschl. v. 5.5.2020 – 23 Qs 31/20; LG Duisburg, Beschl. v. 6.8.2020 – 33 Qs 37/20; LG Erfurt, Beschl. v. 11.11.2020 – 7 Qs 199/20; Beschl. v. 16.6.2021 – 7 Qs 120/21; LG Gera, Beschl. v. 31.3.2021 – 11 Qs 96/21 und 11 Qs 97/21; LG Hamburg, Beschl. v. 26.3.2021 – 604 Qs 6/21; Beschl. v. 21.5.2021 – 601 Qs 18/21; LG Halle, Beschl. v. 11.8.2020 – 10a Qs 62/20; Beschl. v. 25.3.2021 – 3 Qs 32/21; Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/12; Beschl. v. 20.4.2021 – 10a Qs 42/21; Beschl. v. 20.4.2021 – 10a Qs 43/21; LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020 – 3 Qs 35/20; LG Koblenz, Beschl. v. 21.8.2020 – 14 Qs 54/20; LG Köln, Beschl. v. 6.4.2021 – 323 Qs 19/21; LG Leipzig, Beschl. v. 25.3.2021 – 8 Qs 26/21; LG Magdeburg, Beschl. v. 20.2.2010 – 29 Qs 2/20; Beschl. v. 10.6.2021 – 23 Qs 39/21; LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 – 7 Qs 11/20, StRR 5/2020, 24; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2020 – JK II Qs 15/20 jug; Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53720; Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53720; Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 22/21; LG Passau, Beschl. v. 15.4.2020 – 1 Qs 38/20; LG Regensburg, Beschl. v. 30.12.2020 – 5 Qs 188/20; LG Stendal, Beschl. v. 8.7.2021 – 501 Qs 50/21; AG Bad Kreuznach, Beschl. v. 29.10.2020 – 43 Gs 1054/20; AG Bottrop, Beschl. v. 6.5.2020 – 33 Gs 64/20 [36 Js 1050/18]; AG Chemnitz, Beschl. v. 30.7.2020 – 1 Gs 2108/20; AG Düsseldorf, Beschl. v. 9.11.2020 – 152 Gs 1822/20; AG Erfurt, Beschl. v. 26.2.2021 – 45 Gs 378/21 jug; AG Essen, Beschl. v. 21.8.2020 – 66 Gs 454/20; AG Frankfurt a.M., Beschl. v. 30.3.2020 – 3610 Js 242150/19 – 931 Gs; AG Hagen, Beschl. v. 16.2.2021 – 67 Gs 115/21 (600 Js 456/20); AG Karlsruhe, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 Gs 3/20; AG Koblenz, Beschl. v. 27.11.2020 – 30 GS 8361/20; AG Magdeburg, Beschl. v. 8.3.2021 – 5 Gs 262 Js 44534/20 (384/21); AG Stuttgart, Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20; AG Naumburg, Beschl. v. 31.3.2021 – 9 Gs 408/20; AG Tiergarten, Beschl. v. 10.6.2020 – 348 Gs 1453/20; Beschl. v. 30.6.2020 – 350 Gs 1352/20; Beschl. v. 8.10.2020 – (329 Gs) 282 Js 599/20 (49/20); AG Wuppertal, Beschl. v. 1.2.2021 – 20 Gs 12/21). Das LG Wiesbaden weist ausdrücklich darauf hin, dass die dem Beschuldigten durch die Einräumung eines Rechtsmittels gegen eine Beiordnung kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit ihm nicht dadurch entzogen werden darf, dass das Gericht schlicht untätig bleibt und der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Abtrennung des Verfahrens oder Einstellung des Verfahrens überholt wird (LG Wiesbaden, Beschl. v. 4.3.2020 – 1 Qs 8/20 u. 1 Qs 10/20; LG Halle, Beschl. v. 10.8.2020 – 10a Qs 84/20) oder der Beschuldigte nicht alles für eine zeitgerechte Bestellung getan hat (LG Halle, Beschl. v. 7.10.2020 und 18.11.2020 – 3 Qs 109720). Von den OLG haben das OLG Bamberg (Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21) und das OLG Nürnberg (Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20, StraFo 2021, 71 = StV 2021, 153 = StRR 1/2021, 21) eine rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen.

Anderer Ansicht sind hingegen zum Teil einige (andere) OLG (vgl. KG, Beschl. v. 4.9.2020 – Ws 217/19; OLG Brandenburg , Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20 u. 1 Ws 20/20, NJW 2020, 625 = StRR 12/2020, 25; OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21; OLG Bremen, Beschl. v. 23.9.2020 – 1 Ws 120/20, NStZ 2021, 253 = StRR 12/2020, 25; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20, StraFo 2020, 486). Nach ihrer Auffassung soll eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommen. Das soll auch dann gelten, wenn das Verfahren insgesamt noch nicht abgeschlossen ist bzw. in den Fällen des § 154 Abs. 2 StPO (ähnlich zum neuen Recht a. LG Ansbach, Beschl. v. 9.11.2020 – 3 Qs 48/20; LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 12.8.2020 – 2 Qs 93/20; LG Berlin, Beschl. v. 17.11.2020 – 539 Qs 25/20; LG Bielefeld, Beschl. v. 16.4.2021 – 2 Ws 138/21; LG Bonn, Beschl. v. 18.5.2021 – 63 Qs 41/21; LG Düsseldorf, Beschl. v. 21.4.2021 – 12 Qs 9/21; LG Hamburg, Beschl. v. 28.4.2020 – 616 Qs 12/21; LG Stralsund, Beschl. v. 24.11.2020 – 23 Qs 22/20 jug.; LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20; LG Osnabrück, Beschl. v. 16.11.2020 – 1 Qs 47/20; zum alten Recht noch LG Münster, Beschl. v. 29.10.2019 – 8 Qs 60/19).

13. Entpflichtung/Auswechselung, Allgemeines

Der Gesetzgeber verfolgt mit § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO das Ziel, zwei von der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte Fälle des Rechts auf Verteidigerwechsel zu normieren. Insofern kann für die Frage, wann im Einzelnen eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu bejahen ist, auf die in dieser Rechtsprechung dargelegten Grundsätze zurückgegriffen werden. Danach ist insoweit die Sicht eines verständigen Angeklagten ausschlaggebend und eine solche Störung von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen (BGH, Beschl. v. 26.2.2020 – StB 4/20, StraFo 2020, 199 = StRR 4/2020, 15 = NStZ-2021, 60; s.a. BT-Drucks 19/13829, S. 48; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws 200/21). Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen daher nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden (BGH, Beschl. v. 11.3.2020 – 4 StR 68/20, StRR 6/2020, 4 [Ls.]). Die Verhinderung des Pflichtverteidigers an fast allen bei dem hinzugezogenen forensisch-psychiatrischen Sachverständigen für die Durchführung der Hauptverhandlung zur Verfügung stehenden Terminen kann in einer Haftsache auch gegen den Willen des Angeklagten die Entpflichtung des Rechtsanwalts gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO rechtfertigen, wenn die Terminskollision nicht aufgelöst werden kann und eine Verlegung der Hauptverhandlung zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung führen würde (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.5.2021 – 1 Ws 132/21).

§ 143 Abs. 2 S. 1 StPO durchbricht den Grundsatz, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers regelmäßig erst mit der Rechtskraft der das Strafverfahren abschließenden Entscheidung endet (KG, Beschl. v. 15.5.2020 – 5 Ws 65/20). Zuständig für die Zurücknahme der Bestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ist der Vorsitzende des jeweils zur Entscheidung berufenen Gerichts (KG a.a.O.). Die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Ein Ermessensspielraum besteht auch in den Fällen des § 143 Abs. 2 S. 2 StPO (KG a.a.O.). Die als Ausnahme hierzu konzipierten Soll-Vorschriften in § 143 Abs. 2 S. 3 und S. 4 StPO gelten für die Sonderfälle einer Entlassung des Beschuldigten nach einem Freiheitsentzug gemäß §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 3 StPO oder nach einer Vorführung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO und sind einer erweiternden Auslegung regelmäßig nicht zugänglich (KG a.a.O.). Den Beschlussgründen muss zu entnehmen sein, dass sich das Gericht des ihm eröffneten Ermessensspielraums bewusst war und dass es sein Ermessen unter Berücksichtigung der im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte ausgeübt hat. Bei der Ermessensentscheidung nach § 143 Abs. 2 S. 2 StPO ist zu prüfen, ob die früheren, mit der Inhaftierung verbundenen Einschränkungen des Beschuldigten hinsichtlich seiner Verteidigungsmöglichkeiten fortbestehen oder (ausnahmsweise) entfallen sind. Für die Ermessensentscheidung können insbesondere die Dauer der Inhaftierung, der zur Vorbereitung der Verteidigung zur Verfügung stehende Zeitraum und die im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigenden Umstände eine Rolle spielen (KG a.a.O.). Dem Beschuldigten ist bei Aufhebung der Bestellung genügend Zeit zu lassen, sich gegebenenfalls um einen Wahlverteidiger zu bemühen (KG a.a.O.). Vor der Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung sind die Staatsanwaltschaft sowie der Angeklagte und sein Verteidiger anzuhören (KG a.a.O.).

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist (BGH, Beschl. v. 26.2.2020 – StB 4/20, StraFo 2020, 199 = StRR 4/2020, 15; Beschl. v. 24.3.2021 – StB 9/21; Beschl. v. 16.2.2021 –3 StR 424/20; Beschl. v. 17.5.2021 – 4 StR 654/19). Der Gesetzgeber hat in der sukzessiven Verteidigung von mehreren derselben Tat beschuldigten Personen keine die Verteidigung im Allgemeinen hindernde Interessenkollision gesehen; dies gilt jedenfalls dann, wenn die frühere Verteidigung eines Zeugen und die nunmehrige Verteidigung des Angeklagten nicht ersichtlich gegenläufige Interessen berühren (BGH, Beschl. v. 26.2.2020 – StB 4/20, StraFo 2020, 199 = StRR 4/2020, 15). Das Vertrauensverhältnis zwischen einem Beschuldigten und seinem Pflichtverteidiger wird auch nicht allein dadurch nachhaltig und endgültig erschüttert, dass sich der Beschuldigte in Abkehr von der bisherigen Verteidigungsstrategie dazu entschließt, ein Geständnis abzulegen (BGH, Beschl. v. 5.3.2020 – StB 6/2020, NJW 2020, 1534 = StRR 4/2020, 16). Das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem ist i.S.d. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 1 StPO endgültig zerstört, wenn die Staatsanwaltschaft gegen den Verteidiger ein Ermittlungsverfahren wegen Parteiverrat einleitet, gestützt auf den Vorwurf, der Verteidiger habe die Interessen des Beschuldigten verletzt (LG Hamburg, Beschl. v. 2.3.2020 – 628 Qs 4/20, wonach die Neuregelung die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für den Pflichtverteidigerwechsel aus wichtigem Grund nicht geändert hat; zur verneinten Entpflichtung des Pflichtverteidigers wegen eines gestörten Vertrauensverhältnisses a. noch OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.2.2021 – 3 Ws 85/21).

Es liegt grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers, in welchem Umfang und auf welche Weise er mit dem Beschuldigten Kontakt hält (BGH, Beschl. v. 15.6.2021 – StB 24/21). Das Vertrauensverhältnis zwischen Pflichtverteidiger und seinem Mandanten ist aber zerstört, wenn der Verteidiger seinen Mandanten trotz eines schwerwiegenden Vorwurfs über fünf Monate nicht in der JVA besucht (LG München I, Beschl. v. 13.7.2020 – 12 Qs 9/20; vgl. aber auch BGH, Beschl. v. 24.3.2021 – StB 9/21, wonach es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers liegt, wie oft er seinen Mandanten besucht). Ist der Beschuldigte Heranwachsender, der deutschen Sprache nicht mächtig und befindet er sich nach einem Suizidversuch durch seine Querschnittslähmung in Untersuchungshaft in einer Extremsituation, rechtfertigt der Umstand, dass der Verteidiger fast vier Monate keinen Kontakt zu ihm hatte, die Annahme einer tiefgreifenden Erschütterung des Vertrauensverhältnisses (LG Oldenburg, Beschl. v. 29.10.2020 – 1204 Js 37922/20).

Die längerfristige Erkrankung des bisherigen Pflichtverteidigers kann ein Grund i.S.v. § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO sein, aus dem keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist und der die Rücknahme der Bestellung rechtfertigt (OLG Hamm, Beschl. v. 31.3.2020 – III-4 Ws 59/20).

14. Entpflichtung/Umbeiordnung

Auch nach dem neuen Recht der Pflichtverteidigung kommt eine (einvernehmliche) Umbeiordnung unter der Voraussetzung, dass für die Staatskasse keine Mehrkosten entstehen, nur in Betracht, wenn der neue Pflichtverteidiger ausdrücklich ggf. einen Verzicht auf beim alten Pflichtverteidiger bereits entstandene Gebühren erklärt hat (LG Braunschweig, Beschl. v. 3.9.2020 – 4 Qs 180/20, AGS 2021, 112; LG Darmstadt, Beschl. v. 18.2.2020 – 2 Qs 14/20, RVGreport 2020, 319 = StRR 5/2020, 22; vgl. a. BGH, Beschl. v. 12.11.2020 – StB 39/20). Sind jedoch bei der Bestellung des ersten Pflichtverteidigers Fehler gemacht worden, so dass dieser schon aus Fairnessgründen hätte entpflichtet und der vom Beschuldigten gewünschte Rechtsanwalt beigeordnet werden müssen, ist umbeizuordnen, ohne dass es hierbei auf die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel ankommt (LG Darmstadt a.a.O.). Zur Entscheidung über den Pflichtverteidigerwechsel ist nach Anklageerhebung ausschließlich der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zuständig; nicht erledigte Beschwerden gegen insoweit ergangene Beschlüsse des Ermittlungsrichters sind ihm deshalb zur weiteren Entscheidung vorzulegen (BGH, Beschl. v. 12.11.2020 – StB 34/20).

15. Mehrere Pflichtverteidiger

Die Vorschrift des § 144 StPO dient lediglich der Kodifizierung der bereits höchstrichterlich anerkannten Praxis zur Bestellung weiterer Pflichtverteidiger; mithin gelten die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Bestimmung der Erforderlichkeit der Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers weiter (OLG Hamburg, Beschl. v. 13.1.2020 – 2 Ws 3/20, StraFo 2020, 154; zur Bestellung weiterer Verteidiger Pätzel, NStZ 2021, 257). § 144 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens wenn auch nicht unerlässlich, so jedoch notwendig sein muss. Dessen unbestimmter Rechtsbegriff „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens ist enger auszulegen als der der „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ in § 140 Abs. 2 StPO; liegt der Grund für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers in der voraussichtlich langen Dauer der Hauptverhandlung und damit einhergehend in einer eventuellen Verhinderung des Verteidigers, muss diese Verhinderung nicht lediglich möglich sein, erforderlich ist vielmehr i.S. einer konkreten Gefahr, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dahingehend besteht, dass sich die Gefahr in absehbarer Zeit auch verwirklicht (OLG Celle, Beschl. v. 11.5.2020 – 5 StS 1/20, StraFo 2020, 289 = StRR 6/2020, 3 [Ls.]; vgl. dazu auch BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20, StraFo 2020, 455). Handelt es sich um einen überschaubaren Verfahrensgegenstand mit in der Rechtsprechung vielfach entschiedenen Problemstellungen, dessen Bearbeitung durch einen Pflichtverteidiger ohne qualitative Einbußen für die Verteidigung der Angeklagten gewährleistet werden kann, kommt die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht in Betracht (BGH, Beschl. v. 13.4.2021 – StB 12/21).

Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält (BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20, a.a.O.).

16. Nichterscheinen in der Hauptverhandlung

Maßnahmen nach § 145 Abs. 1 StPO können nur angeordnet werden, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht verteidigt ist. Hat der Angeklagte mehrere Verteidiger genügt es, wenn einer von ihnen die Verteidigung in der Hauptverhandlung führt (OLG Dresden, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 Ws 120/20; StRR 6/2020, 17).

17. Rechtsmittel, Allgemeines

Einem Pflichtverteidiger steht gegen die Aufhebung seiner Bestellung kein eigenes Beschwerderecht zu (BGH, Beschl. v. 18.8.2020 – StB 25/20, NJW 2020, 3331 = StRR 10/2020, 11; dazu Beulke, JZ 2021, 403 ff.). Der Pflichtverteidiger, der sich gegen die Ablehnung der von ihm beantragten Rücknahme seiner Beiordnung wendet, ist beschwerdeberechtigt i.S.v. § 304 Abs. 2 StPO (BGH, Beschl. v. 5.3.2020 – StB 6/2020, NJW 2020, 1534 = StRR 4/2020, 16). Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ist nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO auch in den Fällen statthaft, in denen die erstmalige Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (Sicherungsverteidigers) abgelehnt wurde (BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20; a.A. OLG Hamm, Beschl. v. 5.5.2020 – 4 Ws 94/20, StRR 6/2020, 3 [Ls.]). Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet gem. § 143 Abs. 1 StPO erst mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens und dauert daher auch in der Beschwerdeinstanz fort. Eine Ablehnung eines erst nach Abschluss des ersten Rechtszugs gestellten Antrags auf Auswechslung des Pflichtverteidigers kann den Sicherungsverwahrten folglich beschweren, soweit sie die noch nicht abgeschlossene Beschwerdeinstanz betrifft (KG, Beschl. v. 9.4.2020 – 2 Ws 30-31/20).

Gegen Beschlüsse über die Aufhebung der Bestellung oder die Auswechslung des Pflichtverteidigers ist seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung nach § 143a Abs. 4 StPO die sofortige Beschwerde statthaft (§ 142 Abs. 7 StPO). Damit sind entsprechende Entscheidungen nach § 336 S. 2 StPO der revisionsrechtlichen Kontrolle entzogen (BGH, Beschl. v. 4.5.2021 – 3 StR 49/21). Der Ausschluss der sofortigen Beschwerde gegen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gem. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO kommt nur in denjenigen Konstellationen zum Tragen, in denen das Rechtsschutzziel des Beschuldigten auf Auswechslung eines bestellten Verteidigers gegen einen bestimmten anderen Verteidiger gerichtet ist (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.7.2021 – 4 Ws 97/21).

Ob die teils durch unbestimmte Rechtsbegriffe („kurze Frist“; „wichtiger Grund“) formulierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gegeben sind, hat das zunächst nach § 142 Abs. 3 StPO zuständige Gericht bzw. – nach Anklageerhebung – dessen Vorsitzender (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) zu beurteilen. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, zur Beurteilung der Statthaftigkeit (§ 142 Abs. 7 S. 2 StPO) einer auf Auswechslung eines beigeordneten Verteidigers gerichteten sofortigen Beschwerde sämtliche Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO vollständig und abschließend zu prüfen und damit erstmalig über das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen der Norm zu befinden (OLG Hamburg, Beschl. v. 4.5.2021 – 2 Ws 37/21).

Werden erst mit der Beschwerde die deren Erfolg begründenden Tatsachen vorgetragen, trägt der Beschuldigte seine notwendigen Auslagen selbst (hier: erfolgreiche Beschwerde gegen die Nichtbestellung eines Pflichtverteidigers; LG Braunschweig, Beschl. v. 8.10.2020 – 1 Qs 203/20).

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Fortbestand der Pflichtverteidigerbestellung für einen Mitangeklagten ist mangels Beschwer unzulässig (KG, Beschl. v. 1.11.2019 – 2 Ws 165/19). Das OLG Bremen geht davon aus, dass eine Beschwerde gem. § 304 StPO gegen die Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG unzulässig sein soll (Beschl. v. 23.4.2020 – 1 Ws 9/20, RVGreport 2020, 298 = StRR 10/2020, 35). Die Entscheidung ist falsch (vgl. meine Anm. in RVGreport bzw. StRR, jeweils a.a.O.). Der Pflichtverteidigungsfragen betreffende Beschluss erwächst nach Ablauf der Wochenfrist des § 147 Abs. 7 StPO in Rechtskraft. Das bedeutet, dass der Beschuldigte nach Ablehnung seines Antrags auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht einen neuen inhaltsgleichen Antrag stellen kann (BGH, Beschl. v. 21.4.2021 – StB 17/21, StraFo 2021, 288; Beschl. v. 17.5.2021 – 4 StR 654/19) und das Rechtsmittel gegen dessen Ablehnung unzulässig ist.

18. Wiederaufnahmeverfahren

Nach § 143 Abs. 1 StPO n.F. wirkt die Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr für das Wiederaufnahmeverfahren fort (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 6.3.2020 – 1 Ws 29/20, StRR 5/2020, 21 = RVGreport 2020, 280).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…