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Pflichtverteidiger im Ermittlungsverfahren

Macht ein unter Verbrechensverdacht stehender Beschuldigter vom Schweigerecht Gebrauch, liegen die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren nicht vor. (Leitsatz des Verfassers)

AG Detmold,Beschl.v.6.3.2020 –2 Gs 514/20

I. Sachverhalt

Gegen den Beschuldigten wird ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung geführt. Er macht bislang vom Schweigerecht Gebrauch. Seinen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat das AG zurückgewiesen.

II. Entscheidung

Zwar bestehe, so das AG, gegen den Beschuldigten der Verdacht der Begehung eines Verbrechens; mithin sei im Falle der Anklageerhebung ein Beiordnungsgrund nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 und auch nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gegeben. Der Beschuldigte sei jedoch bereits anwaltlich vertreten.

Auch stehe aktuell keine Vernehmung oder Gegenüberstellung oder weitere Untersuchungshandlung an. Da der Beschuldigte erklärt habe, an einer Vernehmung nicht teilzunehmen, lägen die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO aktuell nicht vor. Eine Beiordnung sei nicht mehr veranlasst, wenn eine erste Beschuldigtenvernehmung nicht mehr zu erwarten ist. Sollte sich der Verdacht erhärten bzw. der Beschuldigte in Haft kommen, wäre ab diesem Zeitpunkt eine Beiordnung zu beschließen.

III. Bedeutung für die Praxis

Der Beschluss lässt den Leser fassungslos zurück. Er ist nicht nur in mehrfacher Hinsicht grob falsch, sondern jedenfalls in Teilen eines Rechtsstaats unwürdig.

Das AG missachtet schon den erklärten Willen des Gesetzgebers, mit der am 13.12.2019 in Kraft getretenen Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung den Beiordnungszeitpunkt nach vorne zu verlegen. Insoweit sollte ein Perspektivenwechsel vollzogen werden: weg von der Hauptverhandlung, hin zum Ermittlungsverfahren. Dementsprechend liegt ein Beiordnungsgrund nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. nunmehr, anders als das anscheinend noch im alten Recht verhaftete AG meint, mitnichten erst dann vor, wenn Anklage erhoben wird, sondern bereits dann, wenn die Anklageerhebung mindestens zum Schöffengericht zu erwarten ist. Diese eindeutige Intention ignoriert das AG, wenn es den Beschuldigten darauf vertröstet, er werde schon noch einen Verteidiger bekommen, sollte er inhaftiert oder angeklagt werden. Dies ist nach dem nunmehr geltenden Recht unzulässig, zumal der Verbrechensverdacht vom Gericht selbst überhaupt nicht in Abrede gestellt wird (vgl. auch LG Saarbrücken StRR 3/2020, 22).

Darüber hinaus ist es auch verfehlt, wenn das AG darauf abstellt, dass der Beschuldigte doch bereits anwaltlich vertreten sei. Der Antrag des Wahlverteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält nach gefestigter Rechtsprechung die Erklärung, die (Wahl-)Verteidigung solle mit der Beiordnung enden. Auch hierüber setzt sich das AG hinweg.

Doch es geht noch schlimmer: Das Gericht versteigt sich nämlich sogar dazu, die gebotene Beiordnung unter Hinweis darauf zu verweigern, dass der Beschuldigte mitgeteilt habe, für eine Vernehmung nicht zur Verfügung zu stehen. Damit wird letztlich die Inanspruchnahme eines der zentralen und selbstverständlichsten Beschuldigtenrechte mit einem „Pflichtverteidigerentzug“ sanktioniert. Mit einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren hat dies nichts mehr zu tun.

Ins Bild passt dann auch, dass das AG auf „die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO“ abstellt, obwohl diese Vorschrift nach der Neuregelung lediglich das Beiordnungsverfahren, nicht aber das „Ob“ einer Beiordnung regelt. Dies richtet sich ausschließlich nach § 140 StPO n.F., und dessen Voraussetzungen liegen wegen des Verdachts eines Verbrechens hier vor.

Überdies findet die Annahme des AG, man könne mit der Beiordnung zuwarten, wenn sich der Beschuldigte auf sein Schweigerecht beruft und es deshalb jedenfalls vorerst zu keiner Vernehmung kommt, im Gesetz ebenfalls keine Stütze. Vielmehr geht aus § 141 Abs. 1 StPO eindeutig hervor, dass die Beiordnung, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen, unverzüglich (!) erfolgen soll, wenn der Beschuldigte dies beantragt. Dies gilt über den Wortlaut hinaus nicht nur, wenn er noch keinen Verteidiger hat, sondern auch dann, wenn, wie hier, der Wahlverteidiger seine Beiordnung beantragt (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 36). Ein Zuwarten, insbesondere bis zu einem den Ermittlungsbehörden genehmen Zeitpunkt, ist hingegen im Gesetz nicht vorgesehen, und erst recht ist nicht vorgesehen, den Beschuldigten durch ein „Zurückhalten“ der Beiordnung dazu zu bringen, sich zum Tatvorwurf einzulassen.

Richter am LandgerichtThomas Hillenbrand, Stuttgart

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