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Nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers

1. Die durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer des Angeklagten entfällt nicht nachträglich dadurch, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde.

2. Aus dem ausdrücklichen Wortlaut des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, der auf § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO, nicht jedoch auf § 141 Abs. 1 StPO verweist, wie auch aus der systematischen Stellung innerhalb des Abs. 2 der Vorschrift ergibt sich, dass das Absehen von der Beiordnung nur für die Fälle der von Amts wegen, nicht jedoch auf die auf Antrag des Beschuldigten vorzunehmende Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommt. Eine analoge Anwendung scheidet aus. (Leitsatz des Gerichts)

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20

Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung hat dann zu erfolgen, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum Zeitpunkt der Antragstellung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte. (Leitsatz des Gerichts)

AG Stuttgart, Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20

I. Sachverhalte

Gegen die Beschuldigten waren Ermittlungsverfahren anhängig. Im Fall des LG Nürnberg ist das Verfahren gegen den Beschuldigten gem. § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Im Fall des AG Stuttgart erfolgte die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO. Das AG Nürnberg hat die nachträgliche Beiordnung des Verteidigers des Beschuldigten als Pflichtverteidiger abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte Erfolg. Das AG Stuttgart hat den Rechtsanwalt nachträglich als Pflichtverteidiger beigeordnet.

II. Entscheidungen

Das LG hat die sofortige Beschwerde des Beschuldigten (§ 142 Abs. 7 StPO) als zulässig angesehen. Insbesondere sei die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingehalten. Zwar sei dem Verteidiger der angefochtene Beschluss bereits. am 3.7.2020 zugestellt worden, wohingegen die sofortige Beschwerde erst am 27.8.2019 eingegangen sei. Beschwerdeführer sei jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Angeklagte; ohnehin komme dem Verteidiger kein eigenes Beschwerderecht zu. An den Angeklagten sei der angefochtene Beschluss lediglich formlos herausbegeben worden; eine Zustellung samt konkretem Zustellungsdatum liege nicht vor. Die Zustellung an den Verteidiger sei für die Ingangsetzung der Wochenfrist vorliegend nicht ausreichend, da sich keine Vollmacht bei den Akten befinde (§ 145a StPO).

Ebenso sei die grundsätzlich durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer nicht nachträglich dadurch entfallen, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde. Zwar sei die Frage einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung auch nach der mit Wirkung zum 13.12.2019 erfolgten Gesetzesänderung zur Pflichtverteidigerbestellung durchaus umstritten. Die Kammer verstehe die Intention des Gesetzgebers, insbesondere unter Berücksichtigung des Hintergrunds der Umsetzung der sog. „PKH-Richtlinie“, dahingehend, dass nunmehr für die Frage der Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr allein die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung im Vordergrund stehe, sondern dass auch die Bedürfnisse mittelloser Beschuldigter in den Blick zu nehmen seien (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 142 Rn 19 f.). Zu berücksichtigen sei, dass auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht des Beschuldigten genannt sei, bei Mittellosigkeit den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ebenso sei bezogen auf den konkreten Fall zu beachten, dass es sich bei der erfolgten Verfahrenseinstellung um eine vorläufige handele und daher eine Wiederaufnahme und ein Fortgang des Verfahrens nicht als völlig unwahrscheinlich erscheinen. Aus den Gründen schließe sich die Kammer der Rechtsauffassung an, dass eine nachträgliche Bestellung jedenfalls dann möglich sei, wenn ein Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt worden sei. Eine rechtzeitige Anbringung des Antrags liege vor, da die Sache bei Eingang des Antrags aufgrund des überschaubaren Umfangs entscheidungsreif gewesen sei.

Das LG hat auch die Bestellungsvoraussetzungen bejaht. Gem. § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO werde dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantrage. Der Angeklagte, dem der Tatvorwurf im Ermittlungsverfahren bereits eröffnet worden sei, sei nicht völlig ohne Verteidiger, da sich RA … ursprünglich als Wahlverteidiger angezeigt und sein Mandat anwaltlich versichert hatte. Dem unverteidigten Beschuldigten stehe jedoch insoweit der Beschuldigte mit Wahlverteidiger gleich, der für den Fall der Beiordnung die Niederlegung seines Mandats ankündigt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., Rn 4). Eine solche Ankündigung der Niederlegung des Mandats sei zwar in keinem der in der Akte enthaltenen Schriftsätze des Verteidigers erfolgt; die Erklärung sei jedoch konkludent aus dem Begehren der Beiordnung zu entnehmen (vgl. KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 141 Rn 1, MüKo-StPO, 1 Aufl. 2014, § 141 Rn 4 m.w.N.).

Vorliegend sei ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben, da der Angeklagte sich in anderer Sache seit 11.3.2020 in Untersuchungshaft befand. Die vormalige zeitliche Beschränkung auf Fälle einer Unterbringungsdauer von mindestens drei Monaten sei mit der bereits angeführten Gesetzesänderung entfallen.

Es habe seit 7.4.2020 ein ausdrücklicher Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger vorgelegen. Zwar sei in diesem Zeitpunkt bereits ausdrücklich in der Akte dokumentiert, dass sowohl von Seiten des Gerichts (Anregung an die Staatsanwaltschaft am 1.4.2020) als auch von Seiten der Strafverfolgungsbehörden (Antrag der Staatsanwaltschaft vom 6.4.2020) eine umgehende Verfahrenserledigung nach § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt gewesen sei. Tatsächlich wurde das Verfahren bereits mit Beschluss vom 9.4.2020 und damit gerade einmal zwei Tage nach Eingang des Pflichtverteidigerantrags eingestellt, ohne dass es vorher zu weiteren Maßnahmen gekommen wäre. Gleichwohl dringe der Verteidiger mit dem Argument, dass die in § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO enthaltene Möglichkeit, nach der eine Bestellung als Pflichtverteidiger in den Fällen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, vorliegend nicht zur Anwendung kommen könne, durch. Denn aus dem ausdrücklichen Wortlaut, der auf § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO, nicht jedoch auf § 141 Abs. 1 StPO verweise, wie auch aus der systematischen Stellung innerhalb des Abs. 2 der genannten Vorschrift, ergebe sich, dass das Absehen von der Beiordnung nur für die Fälle der von Amts wegen, nicht jedoch auf die auf Antrag des Beschuldigten vorzunehmende Pflichtverteidigerbestellung in Betracht komme. Eine analoge Anwendung scheide insofern aus. Die Ablehnung der Beiordnung könnte daher durch das AG nicht unter Verweis darauf abgelehnt werden, dass die Einstellung des Verfahrens bereits unmittelbar bevorstand (vgl. auch LG Magdeburg StRR 9/2020, 23; LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20; LG Dessau-Roßlau StRR 10/2020, 20).

Das AG Stuttgart argumentiert ähnlich: Grundsätzlich sei die Bestellung eines Pflichtverteidigers zwar stets auf die Zukunft gerichtet. Bereits nach der vor dem 13.12.2020 geltenden Rechtslage wurde aber die rückwirkende Bestellung als Pflichtverteidiger nach Verfahrensabschluss von Teilen der Rechtsprechung jedenfalls dann als zulässig angesehen, wenn der Antrag rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen, der Beschuldigte von seinem Verteidiger tatsächlich Beistand erhalten hat und eine Entscheidung über die Beiordnung unterblieben war

Dies müsse seit der mit Wirkung vom 13.12.2019 durch Gesetz vom 10.12.2019 erfolgten Neufassung der §§ 140 ff. StPO erst recht gelten. Bereits nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 19/13829, S. 3) solle „die Beiordnung in zeitlicher Hinsicht künftig maßgeblich durch die Antragstellung des Beschuldigten bestimmt werden“. Entsprechend sei dem Beschuldigten auf seinen Antrag hin gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO „unverzüglich“ ein Verteidiger zu bestellen. Auch § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO, wonach der Antrag des Beschuldigten „unverzüglich“ durch die Staatsanwaltschaft dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen sei, verdeutliche das durch die Neuregelungen verfolgte Ziel einer frühzeitigen Verteidigerbestellung auf Antrag des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren. Ferner sei zu sehen, dass die Neuregelungen der §§ 140 ff. StPO der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 in das nationale Recht dienen, durch welche geradewegs die Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren gestärkt werden sollen. Des Weiteren sei eine rückwirkende Bestellung erforderlich, um sicherzustellen, dass sich eine unterlassene Bescheidung des Antrags auf Verteidigerbeiordnung nicht letzten Endes zu Lasten des Beschuldigten auswirkt. Denn wenn der Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung sowie einer rechtzeitigen Antragstellung befürchten müsse, letztendlich keine Vergütung zu erhalten, so sei naheliegend, dass dieser vor formaler Bestellung zum Pflichtverteidiger nicht in gleichem Maße für seinen Mandanten tätig werde, wie dies ein Wahlverteidiger für einen solventen Mandanten würde. Mithin sei eine rückwirkende Bestellung auch zur Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens notwendig (vgl. zur gesamten Thematik auch LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020 – 3 Qs 35/20; LG Mannheim StRR 5/2020, 24).

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidungen reihen sich ein in die Vielzahl von Entscheidungen von AG und LG, die inzwischen die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers bejahen. Der Verteidiger sollte insbesondere die „Kostenargumente“ des LG Nürnberg-Fürth und des AG Würzburg verwenden und zur Untermauerung seiner Anträge/Beschwerden anführen, wenn es um das OLG-Argument geht: Pflichtverteidigerbestellung erfolgt nicht im Kosteninteresse des Rechtsanwalts.

2. Ich frage mich im Übrigen angesichts der beiden schön und sorgfältig begründeten Beschlüsse: Warum geht bei LG und AG, was bei OLG offenbar nicht geht (vgl. OLG Brandenburg und OLG Bremen StRR 12/2020, 25)? Will man nicht und klebt an den alten Textbausteinen? Oder kann man nicht? Dann bitte Nachhilfe bei den Instanzgerichten nehmen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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