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Haftzuschlag; Schwurgerichtsgebühren statt Strafkammergebühren

1. Ein sog. (Haft-)Zuschlag kommt nicht in Betracht, wenn sich der Beschuldigte nicht (unfreiwillig) „nicht auf freiem Fuß“ i.S.d. Vorbemerkung 4 Abs. 4 VV RVG befindet, sondern er sich freiwillig in einer geschlossenen stationären Wohneinrichtung aufhält.

2. Der Verteidiger kann nicht deswegen anstelle der Strafkammergebühren die Gebühren für eine Verhandlung vor dem Schwurgericht nach Nrn. 4119–4121 VV RVG verlangen, wenn eine Strafkammer aufgrund eines rechtlichen Hinweises und der zeitlichen Schranke des § 6a Abs. 2 StPO funktionell als Schwurgericht verhandelt. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Dresden,Beschl.v.5.11.2019–2 Ws 445/19

I. Sachverhalt

Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger des Angeklagten. Dieser hat sich vor dem Erlass eines Unterbringungsbefehls und der Festnahme am ersten Hauptverhandlungstag freiwillig in einer geschlossen stationären Wohneinrichtung aufgehalten.

Die Strafkammer hat den Angeklagten, dem zunächst nur eine Körperverletzung zur Last gelegt worden ist, nach dessen Vernehmung zur Sache einen rechtlichen Hinweis (§ 265 StPO) dahin erteilt, dass auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags in Betracht komme. Der Rechtsanwalt hat (auch) für die vor der Festnahme des Angeklagten entstandenen Gebühren einen Zuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG geltend gemacht. Er hat zudem die Schwurgerichtsgebühren abgerechnet. Diese sind vom LG nicht festgesetzt worden. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Pflichtverteidigers hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Das OLG hat das Entstehen eines Zuschlags nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG verneint. Ein Zuschlag für die vor dem Erlass des Unterbringungsbefehls und der Festnahme des Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag entstandenen Verfahrensgebühren komme nicht in Betracht, weil sich der Angeklagte bis dahin nicht (unfreiwillig) „nicht auf freiem Fuß“ i.S.d. Vorbemerkung 4 Abs. 4 VV RVG befand, sondern freiwillig in einer geschlossenen stationären Wohneinrichtung aufgehalten habe.

Der Verteidiger könne auch nicht deswegen Gebühren für eine Verhandlung vor dem Schwurgericht nach Nrn. 4118 ff. VV RVG verlangen, weil die Strafkammer ab ihrem rechtlichen Hinweis nach Vernehmung des Angeklagten zur Sache in der Hauptverhandlung, dass für die Tat des Angeklagten auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags in Betracht komme, „von Rechts wegen“ als Schwurgerichtskammer verhandelt habe. Vielmehr sei die an sich unzuständige Strafkammer deswegen, weil der Angeklagte – wie hier – bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung den Einwand der funktionellen Unzuständigkeit des Gerichts nicht nach § 6a Abs. 2 StPO erhoben habe, von Rechts wegen (funktionell) zuständig geworden (vgl. BGH NStZ 2009, 404 = StraFo 2009, 155). Gegen den Angeklagten sei mithin vor der (großen) Strafkammer und nicht vor dem Schwurgericht verhandelt worden. Nur an diesen – formalen – Umstand knüpfen die Gebührentatbestände der Nrn. 4118 ff. VV RVG an. Ob die Sache inhaltlich schwieriger war als durchschnittliche Verhandlungen vor einer großen Strafkammer, sei für die Gebührenfestsetzung unerheblich.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung ist m.E. in beiden Punkten unzutreffend.

1. Hinsichtlich der Frage „Zuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG entstanden?“ entspricht die Entscheidung allerdings der h.M. in der Rechtsprechung (vgl. OLG Bamberg RVGreport 2008, 225 = StRR 2007, 283 [Ls.]; OLG Hamm StraFo 2008, 222; OLG München, Beschl. v. 8.1.2008 – 1 Ws 1/08; LG Berlin AGS 2007, 562; LG Wuppertal StraFo 2009, 532; AGS 2010, 16 = JurBüro 2009, 532 = Rpfleger 2009, 697; AG Koblenz AGS 2007, 138 = JurBüro 2007, 82; AG Neuss, Beschl. v. 25.8.2008 – 7 Ds 30 Js 1509/07 [263/07]; AG Osnabrück AGS 2008, 229), der sich das OLG ohne eigene Begründung angeschlossen hat. Diese h.M. ist aber mit dem Sinn und Zweck der Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG nicht zu vereinbaren. Durch die Gewährung eines (Haft-)Zuschlags nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG sollen die beim Verteidiger dadurch entstehenden Erschwernisse, dass sich der Mandant nicht auf freiem Fuß befindet, abgegolten werden (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4 VV Rn 103). Die entstehen aber auch in den Fällen der freiwilligen stationären Therapie, da sich der Mandant ebenfalls nicht frei bewegen kann und sich der Verteidiger, wenn er ihn besucht, strengen Kontrollen – wie in der JVA – unterziehen muss. Dass der Mandant die Therapie ggf. jederzeit abbrechen kann, spielt eine untergeordnete Rolle (Gerold/Schmidt/Burhoff, VV Vorbem. 4 Rn 46).

2. M.E. hätten auch die Schwurgerichtsgebühren festgesetzt werden müssen. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. NStZ 2009, 404 = StraFo 2009, 155) verhandelt nämlich in den Fällen, in denen eine Verweisung der Sache wegen der zeitlichen Schranke an das Schwurgericht nicht mehr möglich ist „als Schwurgericht“. Damit sind dann auch Schwurgerichtsgebühren festzusetzen.

RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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