Beitrag

B. Reform der Videoverhandlung in der Zivil- und Fachgerichtsbarkeit

Verfasserin: Isabelle Désirée BiallaßRichterin am Amtsgericht, Essen
I.

Einleitung

Am 23.11.2022 legte das Bundesministerium der Justiz den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vor. Dieser enthält grundlegende Änderungen des § 128a ZPO.

§ 128a ZPO wurde durch Art. 2 Abs. 1 Nr. 18a des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001 eingeführt und trat zum 1.1.2002 in Kraft. Durch Art. 2 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.4.2013 wurde er mit Wirkung zum 1.11.2013 neugefasst und setzt seitdem keine Zustimmung der Parteien mehr voraus. Die Möglichkeit zur Verhandlung oder Vernehmung mit Videokonferenztechnik findet sich auch in den § 91a FGO, § 110a SGG, § 102a VwGO. In § 32 Abs. 3 FamFG wird für geeignete Fälle die entsprechende Anwendung des § 128a ZPO angeordnet. Für Ehesachen und Familienstreitsachen gilt § 128a ZPO über § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG unmittelbar.

Diese Vorschriften fristeten bis zum Beginn der Corona-Pandemie ein Schattendasein. Um Verfahren, die nicht im schriftlichen Verfahren entschieden werden konnten, während der Pandemie weiterbetreiben zu können, gewann § 128a ZPO an Popularität. Auch nach Ende der Kontaktbeschränkungen besteht diese ungebrochen fort. Richter und Rechtsanwälte haben sich an diese neue Form der Verhandlung gewöhnt und erachten sie in bestimmten Szenarien auch weiterhin als sinnvoll.

In dem nachstehenden Beitrag wird die Situation de lege lata den Plänen des Gesetzgebers gegenübergestellt.

II.

Die Videoverhandlung

1.

Die Entscheidung über die Videoverhandlung

Aktuell kann das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 ZPO den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. In diesem Fall wird die Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen, § 128 Abs. 1 S. 1 ZPO. Seit dem 5.10.2021 stellt § 278 Abs. 2 Satz 4 ZPO klar, dass auch die Güteverhandlung per Videoverhandlung stattfinden kann. Zuvor wurde i.d.R. mit einer analogen Anwendung von § 128a ZPO gearbeitet. Die Entscheidung erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen. Es ist streitig, ob eine prozessleitende Verfügung ausreichend ist oder ob ein Beschluss ergehen muss.

In § 128a ZPO-E wird in Absatz 1 das Wort „Videoverhandlung“ ausdrücklich verwendet und klargestellt, dass die mündliche Verhandlung als solche stattfinden kann. In Absatz 1 Satz 2 wird definiert, was eine „Videoverhandlung“ ist. Eine solche liegt vor, wenn die mündliche Verhandlung an den Aufenthaltsort mindestens eines Verfahrensbeteiligten und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Sodann wird in Satz 3 klargestellt, wer Verfahrensbeteiligter i.S.d. Vorschrift ist (die Parteien, die Nebenintervenienten, ihre Bevollmächtigten, Vertreter und Beistände).

§ 128a Abs. 2 S. 1 ZPO-E soll künftig die verbindliche Anordnung der Videoverhandlung ermöglichen. Sie soll für jeden Termin gesondert durch Vorsitzendenverfügung erfolgen. Im Regelfall soll die Videoverhandlung gegenüber allen Verfahrensbeteiligten angeordnet werden. Sie soll aber auch auf einige Verfahrensbeteiligte beschränkt werden können (hybride Videoverhandlung).

Gemäß § 185 Abs. 1a GVG-E kann der Vorsitzende künftig anordnen, dass der Dolmetscher sich während der Verhandlung, Anhörung oder Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. De lege lata kann er dies nur gestatten.

2.

Beschwerdemöglichkeit

De lege lata ist gemäß § 128a Abs. 3 Satz 2 ZPO eine isolierte Anfechtung der Entscheidungen nach § 128a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht möglich. Davon unberührt bleibt die Überprüfung der zugrunde liegenden Ermessensentscheidung wie auch die Art und Weise der Durchführung im Rechtsmittelverfahren.

De lege ferenda soll die Anordnung der Videoverhandlung auf Antrag oder von Amts wegen im pflichtgemäßen Ermessen erfolgen. Übereinstimmende Anträge der Parteien auf Durchführung einer Videoverhandlung sollen gemäß § 128a Abs. 2 S. 2 ZPO-E zu einer Ermessensreduzierung führen. Eine Ablehnung des Antrags soll nach § 128a Abs. 2 S. 3 ZPO-E durch (rechtzeitigen) gerichtlichen Beschluss erfolgen. Dieser muss gemäß § 128a Abs. 2 S. 4 ZPO-E individuell begründet werden.

§ 128a Abs. 7 ZPO-E sieht vor, dass gegen die Ablehnung eines Antrags auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung die sofortige Beschwerde zulässig sein soll. Diese Beschwerdemöglichkeit stellt einen Fremdkörper in der Zivilprozessordnung dar. Es besteht die Gefahr, dass die sofortige Beschwerde genutzt wird, um den Prozess zu verzögern. Ähnlich wie eine „Flucht ins VU“ wäre künftig auch eine „Flucht in die Beschwerde gegen die Ablehnung der Videoverhandlung“ zu befürchten. Des Weiteren besteht die Gefahr, dass Richter, die für ihre Entscheidung einen persönlichen Eindruck von der Partei erlangen wollten, durch die Beschwerdeinstanz zu einer Videoverhandlung gezwungen werden. Sie müssten eine Entscheidung treffen und begründen, ohne dass alle Faktoren vorlagen, die sie für ihre Entscheidung als notwendig ansahen. Dies könnte einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit darstellen. Ob eine Videoverhandlung zu Unrecht abgelehnt wurde, sollte – wie es auch sonst bei prozessleitenden Entscheidungen der Fall ist – nicht isoliert angreifbar sein, sondern im Rahmen der Überprüfung der Endentscheidung geklärt werden.

3.

Antrag auf Teilnahme in Präsenz

Aktuell besteht keine Pflicht zur Teilnahme an einer Verhandlung per Videokonferenz. Die persönliche Anwesenheit ist weiterhin zulässig. Gegen den nicht erschienenen Beteiligten kann bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein Ordnungsgeld verhängt werden. Dies gilt sowohl dann, wenn die Videokonferenz gestattet worden ist, der Beteiligte sich aber unentschuldigt nicht zugeschaltet hat, als auch, wenn der Beteiligte die Videokonferenz nur beantragt hatte, die Gestattung aber abgelehnt worden ist. Es darf kein Versäumnisurteil ergehen, wenn eine Partei an der nach § 128a Abs. 1 ZPO im Wege der Bild- und Tonübertragung durchgeführten Verhandlung nicht teilnimmt, weil die Übertragung aus ihr nicht zuzurechnenden ungeklärten technischen Gründen nicht zustande kommt.

Künftig soll das Gericht nach § 128a Abs. 2 S. 1 ZPO-E die Teilnahme per Bild und Tonübertragung anordnen können. Gemäß § 128a Abs. 3 S. 1–2 ZPO-E können Verfahrensbeteiligte beantragen, von der Teilnahme per Bild- und Tonübertragung ausgenommen zu werden. Gemäß § 377 Abs. 2 Nr. 4 ZPO-E muss der Antrag innerhalb einer von dem Gericht gesetzten Frist gestellt werden. Er ist jedoch an keine weitergehenden Voraussetzungen geknüpft. Hierdurch wird trotz der Anordnungsmöglichkeit des Gerichts den Bedürfnissen der Parteien – insbesondere auch der anwaltlich nicht vertretenen Naturalparteien – hinreichend Rechnung getragen.

Der Referentenentwurf scheint jedoch (noch) nicht darauf optimiert zu sein, auch im Falle der Anordnung der Videoverhandlung durch effiziente Abläufe eine beschleunigte Verfahrenserledigung herbeizuführen. Hier besteht noch weiterer Anpassungsbedarf. Auf Gerichtsseite besteht Interesse daran, bereits bei der Terminierung zu wissen, ob die Videoverhandlung wie ein Verkündungstermin aus dem Büro geführt werden kann oder ob Verfahrensbeteiligte in Präsenz teilnehmen werden, so dass ein Sitzungsraum zur Verfügung stehen muss, der über die für die Durchführung einer hybriden Videoverhandlung notwendige Technik verfügt. Die in dem Referentenentwurf geplante Vorgehensweise macht im Fall eines Antrags auf Teilnahme in Präsenz wahrscheinlich in der Regel eine Neuterminierung notwendig, da ein anderer Saal benötigt wird.

§ 253 Abs. 3 Nr. 4 ZPO-E bzw. § 277 Abs. 1 S. 2 ZPO-E sehen vor, dass bereits in der Klageschrift bzw. in der Klageerwiderung mitgeteilt werden soll, ob Bedenken gegen die Durchführung einer Videoverhandlung bestehen. Wird zu diesem Zeitpunkt die Bereitschaft zur Videoverhandlung bejaht, wäre es aus hiesiger Sicht sinnvoll, wenn anwaltlich vertretenen Parteien keine Frist mehr gesetzt werden muss, um nach der Terminierung der Videoverhandlung zu widersprechen. Stattdessen sollte die Anordnung der Videoverhandlung für sie verbindlich sein.

4.

Der andere Ort

§ 128a ZPO ermächtigt die Prozessbeteiligten auch am „anderen Ort“ zu allen Verfahrenshandlungen, die sie auch an Gerichtsstelle vornehmen könnten. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Teilnahme von jedem beliebigen Ort aus erlaubt ist, der die Durchführung einer geregelten, ordnungsgemäßen und der Würde des Gerichts angemessenen mündlichen Verhandlung zulässt. Die Prozessleitung des Vorsitzenden nach § 136 ZPO und die Sitzungspolizei gem. § 176 GVG erstrecken sich dabei auch auf den „anderen Ort“. Nach wohl herrschender Meinung besteht Robenpflicht, da die Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung ein Auftreten „vor Gericht“ im Sinne des § 20 BORA ist. Gleiches gilt auch für weitere Formalien, z.B. das Aufstehen während der Urteilsverkündigung.

In der Gesetzesbegründung des Referentenentwurfs wird nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass Aufenthaltsort der Parteien jeder beliebige Ort, von dem aus eine stabile störungsfreie Übertragung möglich ist, sein kann. Ebenfalls in der Gesetzesbegründung wird festgestellt, dass weiterhin Robenzwang besteht. Wie auch bislang vertreten, bleibt die Verantwortung für prozessleitende und sitzungspolitische Maßnahmen weiterhin bei dem Vorsitzenden.

5.

Keine technischen Vorgaben

Die aktuelle Fassung des § 128a ZPO enthält keine technischen oder organisatorischen Vorgaben. Die nunmehr geltenden Prinzipien mussten durch die Praxis entwickelt werden. Aktuell gibt es z.B. keine standardisierten Vorgaben dazu, wann, an wen und in welcher Form der Einladungslink zur Videoverhandlung versandt werden muss. Ein Beispiel für eine transparente Vorgehensweise liefert ein Beschluss des LG Köln. Dort heißt es „Die Übersendung der Einwahldaten für die Videokonferenz wird rechtzeitig per E-Mail erfolgen. Hierfür werden, soweit nicht andere E-Mail-Adressen der Prozessbevollmächtigten bekannt sind, die aus Briefkopf oder Internetauftritt der Prozessbevollmächtigten ersichtlichen E-Mail-Adressen verwendet.“.

Aktuell noch diskutiert wird, welcher Bildausschnitt bei einer Videoverhandlung zu sehen sein muss. Unstreitig ist, dass alle Parteien und die Richterbank sichtbar sein müssen. Gleiches gilt für Zeugen und Sachverständige, die vernommen werden. Eine Kameraaufnahme des Zuschauerraums ist wohl nicht notwendig.

Im Falle einer rügelosen Einlassung drohen bei schlechter Bild- und Tonverbindung oder bei Mängeln der Gestattung der Teilnahme per Videokonferenz keine Fehlerfolgen. Die Beteiligten können bei technischen Schwierigkeiten vollständig auf die Bildübertragung verzichten bzw. sich auch insoweit rügelos einlassen.

Auch der Referentenentwurf verzichtet auf technische und organisatorische Vorgaben. Es ist bekannt, dass das BMJ parallel an einem Projekt zur Schaffung eines bundeseinheitlichen Videoportals der Justiz arbeitet. Aus dessen Umsetzung wird sich impliziert ergeben, welche technischen Standards das BMJ für notwendig bzw. nicht notwendig hält. Es wäre trotzdem begrüßenswert gewesen, wenn das BMJ zumindest in der Gesetzesbegründung Ausführungen zu Mindeststandards gemacht hätte. Beispielsweise gibt es Videokonferenzsoftware, die es nur erlaubt, eine begrenzte Anzahl Teilnehmer gleichzeitig zu sehen. Um Unklarheiten zu vermeiden, wäre eine Stellungnahme dazu hilfreich gewesen, ob es ausreichend ist, wenn die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, sich die Kacheln der aus ihrer Sicht wichtigsten Teilnehmer anzeigen zu lassen oder ob es notwendig ist, dass die Kacheln aller Teilnehmer stets parallel angezeigt werden. Des Weiteren wäre sinnvoll gewesen, die Videoverhandlung mit den bestehenden Möglichkeiten des elektronischen Rechtsverkehrs zu kombinieren. So sollte klargestellt werden, dass an Personen, die einen sicheren Übermittlungsweg eröffnet haben, der Zugangslink über diesen übersendet wird. Ebenso sollte in diesem Fall die SAFE-ID zur Authentifizierung bei der Videokonferenz genutzt werden.

Unklar ist auch, wie im Falle einer vollvirtuellen Verhandlung Bild- oder Tonprobleme an den Vorsitzenden kommuniziert werden. Der bisher übliche Anruf im Sitzungssaal dürfte vielfach daran scheitern, dass nicht alle Richter, die sich im Home-Office befinden, ihr Telefon umstellen und eine Rufumleitung auf private Geräte teilweise technisch gar nicht möglich ist. Auch ohne eine Regelung durch den Gesetzgeber wird die Praxis Lösungen finden. Eine einheitliche Regelung wäre jedoch begrüßenswert gewesen.

III.

Die „vollvirtuelle Verhandlung“ und die Gerichtsöffentlichkeit

De lega lata befindet sich der Richter bzw. der Spruchkörper bei der virtuellen Verhandlung im Sitzungssaal. Die Öffentlichkeit gem. § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG wird wie bei der Präsenzverhandlung gewahrt. Ihr muss die tatsächliche Möglichkeit eröffnet werden, der Verhandlung beizuwohnen und ihren wesentlichen Inhalt wahrzunehmen. Dies macht bei der Teilnahme (mindestens) einer Partei per Bild und Tonübertragung entsprechende technische Maßnahmen notwendig.

Nach § 128a Abs. 4 ZPO-E soll künftig auch Mitgliedern eines Spruchkörpers die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung gestattet werden können. Die Entscheidung darüber trifft der Vorsitzende. Es besteht kein Anspruch der Mitglieder des Spruchkörpers. Es muss für die Verfahrensbeteiligten möglich sein, alle Mitglieder des Spruchkörpers wahrzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren.

Gemäß § 128a Abs. 5 S. 1–2 ZPO-E darf auch der Vorsitzende sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufhalten (Dienstzimmer oder Wohnort). Dies wird als vollvirtuelle Videoverhandlung bezeichnet. Bei der vollvirtuellen Videoverhandlung wird gemäß § 128a Abs. 5 S. 3 ZPO-E diese zur Wahrung der Öffentlichkeit zusätzlich in einen öffentlich zugänglichen Raum bei Gericht übertragen. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass die Übertragung mehrerer Verhandlungen in einen Raum denkbar sei. Es könnten Kopfhörer genutzt werden und entweder mehrere Monitore in dem Raum angebracht sein oder Endgeräte, beispielsweise Tablets, ausgegeben werden. Das Geschehen unterliegt dem Hausrecht des Präsidenten oder Direktors des jeweiligen Gerichts. Dieses soll laut Gesetzesbegründung durch die Gerichtswachtmeister durchgesetzt werden, z.B. soll ein Verbot des Mitführens elektronischer Geräte sichergestellt werden.

Für die Ausstattung des öffentlich zugänglichen Raums dürften erhebliche Kosten anfallen. Neben den Monitoren oder Tablets müssten, wenn mehrere Verhandlungen über einen Raum verfolgt werden, auch Kopfhörer ausgegeben werden. Diese müssten wiederverwertbar sein. Hierzu müssten sie zuvor hygienisch gereinigt werden. Wie dies organisiert werden soll und welche Kosten hierfür entstehen, ist ungeklärt. Es dürfte nicht zulässig sein, Personen, die einer öffentlichen Verhandlungen folgen möchten, auf die Nutzung eigener Kopfhörer zu verweisen.

Zudem besteht in der Berufsgruppe der Wachtmeister in der Justiz ein erheblicher Personalmangel. Es ist sehr schwer abschätzbar, wie viel Personal zur Sicherstellung der Öffentlichkeit benötigt wird. Aktuell besteht praktisch ein sehr geringes bis nicht existentes Interesse der Öffentlichkeit an dem Besuch von Zivilsitzungen. Trotzdem müsste ein hinreichendes Personal verfügbar sein, um jederzeit in jeder vollvirtuellen Verhandlung eine Teilnahme der Öffentlichkeit zu ermöglichen und eine Wahrung des Hausrechts, insbesondere zur Vermeidung von Aufzeichnungen, sicherzustellen. Zudem muss für jede einzelne vollvirtuell durchgeführte Videoverhandlung von Beginn bis zum Ende sichergestellt werden, dass die Übertragung in den öffentlich zugänglichen Raum funktioniert. Kommt es in dem Raum zu technischen Problemen, muss eine Rückmeldung an den Vorsitzenden erfolgen, damit die Verhandlung bis zur Wiederherstellung der Öffentlichkeit unterbrochen werden kann. Es bestehen somit Zweifel, ob diese Form der Herstellung der Gerichtsöffentlichkeit tatsächlich praktikabel ist. Auch gegen die Schaffung einer digitalen Gerichtsöffentlichkeit gibt es erhebliche Bedenken, nicht zuletzt die Gefahr der Veröffentlichung und Verbreitung von Aufzeichnungen. Eine Suche nach einer Lösung für diese riesige Herausforderung an eine digitale Justiz würde den Umfang dieses Beitrags sprengen.

IV.

Videobeweisaufnahme

Gemäß § 128a Abs. 2 ZPO kann das Gericht Zeugen, Sachverständigen oder einer Partei auf Antrag gestatten, sich während der Vernehmung an einem anderen Ort aufzuhalten. Es ist streitig, ob der Augenscheins- und Urkundenbeweis per Videokonferenz geführt werden kann. Die wohl herrschende Meinung geht davon aus, dass sich ein Urkundenbeweis im Rahmen einer Videokonferenz nicht führen lässt. Die Inaugenscheinnahme etwa von Objekten, Fotografien oder auch Dokumenten wird jedoch gem. § 371 Abs. 1 ZPO bzw. mit Einverständnis der Parteien gem. § 284 S. 2 ZPO überwiegend für zulässig erachtet.

Die Regelungen zur Videobeweisaufnahme wurden in dem Referentenentwurf systematisch richtig von § 128a ZPO in § 284 Abs. 2 ZPO-E verschoben. Im Gegensatz zur Videoverhandlung erfolgt die Entscheidung über Videobeweisaufnahme durch das Gericht (nicht nur den Vorsitzenden) durch Beschluss. Das Gericht kann anordnen, dass sich die zu vernehmende Person (Parteien und Zeugen) in einem vom Gericht näher zu bestimmenden Gerichtsgebäude aufhalten muss, § 377 Abs. 2 ZPO. Eine Partei kann nicht gegen die vom Gericht angeordnete Vernehmung eines Zeugen per Bild- und Tonübertragung vorgehen. Es ist zu erwarten, dass diese Regelung – sollte sie tatsächlich so in Kraft treten – auf große Ablehnung in der Anwaltschaft stoßen wird. Ihnen wird eine Steuerungsmöglichkeit wichtig sein, ob sie eine für sie wichtige Zeugenvernehmung in Präsenz oder „nur“ per Videokonferenz erleben.

Aus § 284 Abs. 2 S. 2 ZPO-E ergibt sich, dass die Erhebung des Urkundenbeweises in der Videoverhandlung weiterhin ausgeschlossen ist. Im Gegenschluss bedeutet dies, dass eine Inaugenscheinnahme per Videobeweisaufnahme möglich ist. Diese Klarstellung ist begrüßenswert.

V.

Aufzeichnung

De lege lata ist eine Aufzeichnung der Videoverhandlung nicht zulässig. Der Gesetzesentwurf des Bundesrats eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 24.3.2010 sah noch vor, dass § 128a Abs. 3 S. 2 ZPO-E vorsieht, dass die Aufzeichnung einer Aussage oder Anhörung angeordnet werden kann, wenn zu besorgen ist, dass der Zeuge, der Sachverständige oder die Partei in einer weiteren mündlichen Verhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist. In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses wurde jedoch eine Streichung dieser Regelung vorgeschlagen.

§ 128a Abs. 6 ZPO-E lässt die Aufzeichnung der Videoverhandlung durch den oder die Vorsitzende zum Zweck der vorläufigen Protokollaufzeichnung, § 160a ZPO-E, zu. Anhand dieser Daten wird dann das schriftliche Sitzungsprotokoll erstellt. Die in § 160a ZPO-E vorgesehene vorläufige Protokollaufzeichnung soll mutmaßlich der Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten audiovisuellen Dokumentation der Beweisaufnahme dienen. Die Bild- und Tonaufzeichnung soll nicht das Protokoll ersetzen, sondern die Grundlage für eine Verschriftlichung des Protokolls sein. Angaben zu der hierbei einzusetzenden Technik werden in dem Gesetzesentwurf nicht gemacht. Es ist von einer bewusst technikoffenen Formulierung die Rede. Dies heißt jedoch zugleich, dass der Gesetzgeber keine Vorschläge zu der höchst problematischen Umsetzung dieser Regelung macht.

Gemäß § 160a Abs. 1 S. 2 ZPO haben die Parteien bei einem Streitwert von mehr als 5.000 EUR ein Recht darauf, eine Audio- oder audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung zu beantragen. Diese Regelung führt dazu, dass sämtliche Gerichte die hierfür notwendigen Voraussetzungen schaffen müssen. Insbesondere sollte berücksichtigt werden, dass die Regelung in ihrer aktuellen Ausgestaltung wegen der streitwertunabhängigen Zuständigkeit des Amtsgerichts nach § 23 Abs. 2 GVG auch notwendig machen würde, dass sämtliche Amtsgerichte entsprechend ertüchtigt werden. Von der Stattgabe soll nur in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden können. In der Gesetzesbegründung wird als Beispiel der Schutz der Persönlichkeitsrechte der zu vernehmenden Person genannt. Die Entscheidung über die Stattgabe oder Ablehnung eines Antrags ist nicht anfechtbar.

Gemäß § 160a Abs. 2 S. 2 – 4 ZPO-E können die Aussagen von Zeugen, Sachverständigen oder Parteien sowie die Ergebnisse des Augenscheins in Ton oder in Bild und Ton vorläufig aufgezeichnet werden. Auf Antrag ist eine Transkription nötig, so dass im Ergebnis ein Wortlautprotokoll vorliegt, das auch Anmerkungen zur Körpersprache enthalten soll. Der Gesetzesentwurf verhält sich nicht dazu, wie diese Transkription erfolgen soll. Ist zusätzlich das wesentliche Ergebnis der Aussagen vorläufig aufgezeichnet worden, so kann gemäß § 160a Abs. 3 S. 2 ZPO-E nur eine Protokollergänzung und keine vollständige Transkription verlangt werden. Zudem kann gemäß § 160a Abs. 5 ZPO angeordnet werden, dass Aufzeichnungen, wenn sie noch in einem anderen Verfahren benötigt werden, bis zum Ende der Aktenaufbewahrungsfrist aufbewahrt werden.

Die technischen Herausforderungen zur Umsetzung der Vorgaben des § 160a ZPO-E dürfen keinesfalls unterschätzt werden. Zu Recht wird in dem Bericht der Expertinnen- und Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung darauf hingewiesen, dass eine Verpflichtung zur Integration von Aufzeichnungstechnik in die Infrastruktur der Gerichte den Zeitplan für die Einführung der elektronischen Verfahrensakte gefährden würde. Gleiches dürfte für die Aufzeichnung in Zivilsachen gelten. Eine vollständig automatisierte Transkription dürfte zum jetzigen Zeitraum technisch nicht möglich sein. Somit müsste die Transkription manuell erfolgen oder manuell nachbearbeitet werden. Das hierfür notwendige, entsprechend geschulte Personal gibt es in der Justiz aktuell nicht.

Die vorläufigen Aufzeichnungen gehören zur Prozessakte und unterliegen dem Akteneinsichtsrecht aus § 299 ZPO. Grundsätzlich erfolgt die Bereitstellung der Akten zum Abruf über das Akteneinsichtsportal, § 299 Abs. 3 S. 1 ZPO. Dieses müsste entsprechend ertüchtigt werden. Es würden erheblich größere Datenmengen als bisher ausgetauscht. Fraglich ist somit, wie schnell diese Arbeiten erfolgen sollten. Alternativ kann eine Einsichtnahme in den Diensträumen, § 299 Abs. 3 S. 2 ZPO, oder eine Übermittlung eines Datenträgers, § 299 Abs. 3 S. 3 ZPO, erfolgen. Dies wäre allerdings voraussichtlich mit erheblich erhöhtem Arbeitsaufwand auf den Service-Einheiten verbunden.

VI.

Digitale Rechtsantragstelle und Abnahme der Vermögensauskunft

1.

Digitale Rechtsantragstelle

Der Gesetzesentwurf lässt nunmehr die Abgabe von Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle per Bild- und Tonübertragung zu, § 129a ZPO-E. Die in der Gesetzesbegründung genannten Anwendungsfälle sind die §§ 44, 109, 117, 118, 129 Abs. 2, 248, 381, 386, 389, 406, 486, 496, 569, 571, 573, 920, 924 ZPO. Um eine Aufnahme durch den Rechtspfleger zu ermöglichen, wird an § 117 Abs. 4 ZPO ein neuer Satz 2 angefügt. Bei der Frage, ob eine Abgabe von Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle per Bild- und Tonübertragung gestattet wird, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle.

Die Schaffung einer vollvirtuellen Rechtsantragstelle, bei der sich der Rechtspfleger nicht in den Räumen der Rechtsantragstelle, sondern in seinem Dienstzimmer oder im Homeoffice aufhält, soll gestattet werden. Die Identitätsprüfung des Antragstellers soll niedrigschwellig per Video-Ident erfolgen, d.h. der Personalausweis wird über die Kamera für den Urkundsbeamten sichtbar gemacht. Eine Aufzeichnung soll nicht erfolgen. Fraglich ist, ob das Video-Identverfahren, insbesondere ohne zumindest seine Durchführung durch eine Aufzeichnung zu dokumentieren, tatsächlich ein hinreichender Identitätsnachweis ist, an den Kostenfolgen geknüpft werden können.

2.

Digitale Abnahme der Vermögensauskunft

Von der Rechtsprechung wird bereits de lege lata vereinzelt die digitale Abnahme der Vermögensauskunft nach § 128a ZPO analog für zulässig erachtet. Der Referentenentwurf lässt nunmehr in § 802f ZPO-E die Abnahme der Vermögensauskunft per Bild- und Tonübertragung ausdrücklich zu. Die Entscheidung über Ort und Art des Termins liegt im Ermessen des Gerichtsvollziehers. Auch hier bestehen Bedenken gegen die Nutzung des Video-Identverfahrens.

VII.

Fazit

Die Resonanz auf den Gesetzesentwurf war durchwachsen. So stellte Benedikt Windau auf seinem ZPO Blog die Frage „Ein Gesetz zur Förderung oder Verhinderung von Videoverhandlungen?“. An anderer Stelle hieß es „Der Entwurf weist wesentliche Schwächen auf“ bzw. „Gut gemeint, schlecht gedacht?“. Diese harsche Kritik hat der Referentenentwurf jedoch nicht verdient. Die Erfahrungen aus der Pandemie haben gezeigt, dass § 128a ZPO überarbeitungsbedürftig ist. Die Interessen der Verfahrensbeteiligten, in welche Richtung die Überarbeitungen gehen sollen, laufen jedoch auseinander. An den Schwerpunkten der Stellungnahmen zu dem Gesetzesentwurf und in der Literatur kann man nunmehr gut erkennen, wo das Bedürfnis nach einer weiteren wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung besteht. Auf deren Ergebnis dürfen wir gespannt sein.

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