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BAG: Erneute Vorlage des 2. Senats an den EuGH in Massenentlassungsverfahren

I. Der 2. Senat ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß § 267 AEUV um die Beantwortung folgender Fragen:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 4 MERL genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablauf der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die zweite und die dritte Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitgeber zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

II. Das Anfrageverfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

[Amtliche Leitsätze]

BAG, Beschl. v. 1.2.20242 AS 22/23 (A)

I. Der Fall

Kündigung ohne Massenentlassungsanzeige

Die Parteien streiten über die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung, die der Beklagte im Dezember 2020 zum 31.3.2021 erklärt hat. Eine nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige hatte er nicht erstattet. Er hat sie auch vor dem 31.3. 2021 nicht nachgeholt.

Verfahrensgang

Für die Entscheidung des Verfahrens ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesarbeitsgerichts dessen Sechster Senat zuständig, der die Kündigungsschutzklage des Klägers vollumfänglich abweisen möchte. Daran sieht sich der Sechste Senat – wie er in einem Beschl. v. 14.12.2023 (6 AZR 157/22 [B]) im Einzelnen dargelegt hat – aus Gründen des nationalen Verfahrensrechts gehindert.

unterschiedliche Auffassungen des 2./6. Senats

Der Zweite Senats des Bundesarbeitsgerichts hat bisher angenommen, dass eine ohne notwendige vorherige Massenentlassungsanzeige erklärte Kündigung nichtig (unwirksam) ist und das Arbeitsverhältnis deshalb nicht beenden könne. Demgegenüber möchte der Sechste Senat künftig die Auffassung vertreten, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung über die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Vielmehr soll sowohl das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige als auch deren Fehlerhaftigkeit gänzlich folgenlos bleiben. Es obliege dem deutschen Gesetzgeber, eine „Sanktion“ für Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen zu normieren. Diese dürfe nicht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, sondern müsse allein auf dem Gebiet des Arbeitsförderungsrechts liegen (BAG v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 [B], Rn 7, 22, 32 und vor allem Rn 35).

Divergenzanfrage

Das nationale Verfahrensrecht sieht ein besonderes Verfahren bei bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Senaten des Bundesarbeitsgerichts vor. Nach § 45 Abs. 2 und Abs. 3 ArbGG darf ein Senat des Bundesarbeitsgerichts nur dann von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen, wenn dieser auf eine entsprechende Anfrage seine Rechtsauffassung aufgegeben hat, oder – widrigenfalls – der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts eine Entscheidung über die zutreffende Beantwortung der zugrunde liegenden Rechtsfrage getroffen hat. Der Sechste Senat hat daher mit Beschl. v. 14.12.2023 (6 AZR 157/22 [B]) an den Zweiten Senat die folgende Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG gerichtet:

„Wird an der seit dem Urt. v. 22.11.2012 (2 AZR 371/11) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt?“

II. Der Praxistipp

Hintergrund

Wir hatten bereits im Infobrief Arbeitsrecht 01-­2024 über eine vermutlich bevorstehende Wende im Massenentlassungsverfahren berichtet. Der Hintergrund der vorliegenden Entscheidung ist in Kürze folgender: Das BAG hatte ursprünglich stets entschieden, dass Fehler bei der Anzeige von Massenentlassung an die Agentur für Arbeit zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen (vgl. nur BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16). Der 6. Senat des BAG hegte Zweifel an dieser Rechtsprechung und legte dem EuGH die Frage vor, ob die Verletzung der Stellung der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führe. Der EuGH führte daraufhin aus, dass die Übermittlungspflicht des Arbeitgebers an die Agentur für Arbeit nicht dem Individualschutz diene (EuGH, Urt. v. 13.7.2023 – C-134/22). Der 6. Senat des BAG, der die Anfrage an den EuGH gestellt hatte, will deshalb seine Rechtsprechung ändern. Da auch der 2. Senat sich mit der Frage der Stellung der Massenentlassungsanzeige beschäftigt hatte und ebenfalls davon ausging, dass eine fehlerhaft gestellte Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung führte, musste der 6. Senat eine Divergenzanfrage an den 2. Senat stellen. Konkret sollte der 2. Senat sich dazu äußern, ob er die bisherige Rechtsprechung, dass Fehler bei der Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung führen, aufgebe. Der 2. Senat hat sich allerdings nun nicht kommentarlos der Auffassung des 6. Senats angeschlossen, sondern stellt europarechtlich relevante Fragen zu § 18 KSchG auf. Nach § 18 KSchG können anzeigepflichtige Entlassungen nämlich frühestens nach Ablauf eines Monats nach Eingehen der Anzeige bei der Agentur für Arbeit oder aber mit Zustimmung der Agentur für Arbeit wirksam werden. Folgerichtig befragte der 2. Senat vor einer abschließenden Äußerung in der Divergenzanfrage noch einmal den EuGH.

Sorgfalt geboten

Da die Frage, wie sich Fehler in der Massenentlassungsanzeige auf die Wirksamkeit der Kündigung auswirken, nach wie vor im Fluss ist, empfiehlt es sich, Massenentlassungsanzeigen mit großer Akribie zu erstellen. Bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit wird noch einige Zeit vergehen. Die Ergebnisse sind nicht zu prognostizieren. Arbeitgeber sind deshalb gut beraten, die Massenentlassungsanzeige weiterhin sorgsam zu erstellen und die Massenentlassungsanzeige vor Zugang der Kündigung der Agentur für Arbeit zuzustellen. Hingewiesen sei zudem darauf, dass sich die vorgenannten Entscheidungen ausschließlich auf die Fälle der Massenentlassungsanzeige, nicht aber auf die Frage der Konsultationspflicht nach § 17 Abs. 2 KSchG beziehen. Existiert ein Betriebsrat oder eine andere Arbeitnehmervertretung, ist die Konsultation in jedem Falle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung.

Dr. Marcus Michels, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, michels@michelspmks.de

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