Beitrag

BAG: Darlegungs- und Beweislast bei Überstundenvergütung

Verlangt der Arbeitnehmer Überstundenvergütung, hat er im Prozess die Leistung solcher und deren Veranlassung durch den Arbeitgeber darzulegen. Vom Erfordernis der arbeitgeberseitigen Veranlassung ist nicht wegen der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit (EUGH v. 14.5.2019 – C-55-18 [CCOO]) abzurücken.

[Amtlicher Leitsatz]

BAG, Urt. v. 4.5.20225 AZR 359/21

I. Der Fall

348 Überstunden eines Auslieferungsfahrers elektronisch erfasst

Der Kläger war vom 1.10.2014 bis zum 30.6.2019 bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer für Lebensmittelbestellungen beschäftigt. Die Arbeitszeiterfassung erfolgt bei der Beklagten mittels technischer Zeitaufzeichnung. Die Mitarbeiter erfassen Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit. Eine Möglichkeit, Pausenzeiten zu erfassen, bestand für den Kläger als Auslieferungsfahrer nicht. Für den Zeitraum vom 4.1.2016 bis zum 16.7.2018 wies die Auswertung der Zeitaufzeichnung des Klägers einen positiven Saldo von 348 Stunden aus. Die Beklagte rechnete im Monat Juni 2019 78,25 Überstunden ab.

Auskunfts- und Zahlungsklage

Der Kläger hat zunächst Klage auf Auskunft über die von ihm geleisteten Überstunden unter Vorlage der Zeitaufzeichnung erhoben. Das ArbG Emden hat dieser Klage für die Zeit von Januar 2016 bis Oktober 2018 stattgegeben. Dieses Teilurteil ist rechtskräftig. Die Beklagte hat dem Kläger die Zeitaufzeichnung vorgelegt, weshalb der Kläger Vergütung für 348 in der Zeit vom 4.1.2016 bis zum 16.7.2018 geleistete Überstunden verlangt. Nach Auffassung des Klägers ergebe sich die Zahl der Überstunden aus dem positiven Saldo der Zeitaufzeichnungen. Er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet, Pausen habe er nicht gemacht. Dies sei nicht möglich gewesen, weil er die Auslieferungsaufträge andernfalls nicht hätte abarbeiten können. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Ihrer Meinung nach werde durch die Zeitaufzeichnungen nicht die zu vergütende Arbeitszeit dokumentiert. Der Kläger sei angewiesen worden, arbeitstägliche Pausen zu nehmen und habe solche auch gemacht.

Verfahrensgang

Das ArbG Emden hatte der Klage fast vollständig stattgegeben (Urt. v. 20.2.2020 – 2 Ca 94/19). Das LAG Niedersachsen hat das erstinstanzliche Urteil weitgehend abgeändert und die Beklagte lediglich zur Abgeltung von 78,25 Überstunden verurteilt (Urt. v. 6.5.2021 – 5 Sa 1292/20). Mit der vom LAG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Zahlungsklage auf Überstundenvergütung weiter.

II. Die Entscheidung

Klage unbegründet

Die Revision blieb erfolglos. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat nach Auffassung des BAG keinen Anspruch auf Vergütung von weiteren Überstunden nach § 611a Abs. 2 BGB oder § 612 Abs. 1 BGB.

Leistung der geltend gemachten Überstunden ausreichend dargelegt

Der Kläger hat die Leistung der geltend gemachten Überstunden nach Auffassung des BAG auf der ersten Stufe zwar ausreichend dargelegt. Nach ständiger Rechtsprechung hat der Arbeitnehmer, der die Vergütung von Überstunden verlangt, darzulegen und – im Bestreitensfall – zu beweisen, dass er Arbeit in einem die normale Arbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang verrichtet hat. Dem genügt der Arbeitnehmer, wenn er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet hat. Mit dem Vortrag, zu bestimmten Zeiten gearbeitet zu haben, behauptet der Arbeitnehmer regelmäßig, während der gesamten Zeit die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben. Das ist für die erste Stufe der Darlegung ausreichend. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber substantiiert erwidern und vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugwiesen hat, und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – nicht – nachgekommen ist. Trägt der Arbeitgeber nichts vor oder lässt sich nicht substantiiert ein, gelten die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitsstunden gem. § 138 Abs. 2 ZPO als zugestanden. Diesen Anforderungen genügt – so das BAG – der Vortrag des Klägers. Er habe mit der Auflistung der Arbeitszeiten angegeben, von wann bis wann er gearbeitet haben will. Dass der Kläger behauptet habe, keinerlei Pausen gemacht zu haben, mag für das LAG zwar „lebensfern“ sein, gleichwohl habe der Kläger in ausreichenderweise behauptet, dass sämtliche von ihm angegebene Zeiten Arbeitszeiten im vergütungsrechtlichen Sinne seien. Von der Substantiierung des Tatsachenvortrages zu trennen sei dessen Glaubhaftigkeit und die Glaubwürdigkeit des Klägers. Diesen Fragen musste das LAG jedoch nicht nachgehen, weil die Stundenzahl von der Beklagten nicht bestritten wurde.

Kläger hat die Veranlassung der Überstunden durch die Beklagte nicht dargelegt

Der Kläger hat aber die Veranlassung der Überstunden durch den Arbeitgeber nach Auffassung des BAG auf der zweiten Stufe nicht dargelegt. Der Arbeitgeber ist nach § 611a Abs. 2 BGB zur Gewährung der vereinbarten Vergütung für die vereinbarte Arbeitsleistung verpflichtet. Erbringt der Arbeitnehmer Arbeit in einem die normale Arbeitszeit übersteigendenden zeitlichen Umfang, ist der Arbeitgeber zu deren Vergütung nur verpflichtet, wenn er die Leistung für die Überstunden veranlasst hat oder sie ihm zumindest zuzurechnen ist. Er muss sich Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen. Der Arbeitnehmer kann seinen Vergütungsanspruch nicht durch überobligatorische Mehrarbeit selbst bestimmen. Daher muss der Arbeitnehmer neben der Leistung der Überstunden darlegen und – im Bestreitensfalle – beweisen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sind.

Erfordernis der arbeitgeberseitigen Veranlassung von Überstunden bleibt bestehen

An dieser Rechtsprechung ist – so das BAG – auch nach der Entscheidung des EuGH zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einreichung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit (EUGH v. 14.5.2016 – C-55/18 – [CCOO]) festzuhalten. Die Pflicht zur Messung der Arbeitszeit habe keine Auswirkung auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Einordung als Arbeitszeit sei zu unterscheiden. Die unionsrechtlichen Regelungen aus der Arbeitszeitrichtlinie fänden grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung von Arbeitnehmern. Selbst wenn man mit der Auffassung des ArbG davon ausginge, aus Art. 31 Abs. 2 GRC ergebe sich unmittelbar die Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeitaufzeichnung, hätte diese unionsrechtliche Verpflichtung keine Auswirkungen auf das System der abgestuften Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Die vom BAG entwickelten Regeln zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zur Vergütung von Überstunden sei nicht als Durchführung unionsrechtlicher Normen anzusehen, sodass Art. 31 Abs. 2 GRC nicht anwendbar sei. Die Regelung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG konkretisiere nur das Recht aus Art. 31 Abs. 2 GRC und sei nicht so auszulegen, dass sie auf die Vergütung der Arbeitnehmer anzuwenden sei. Zweck der Arbeitszeitrichtlinie sei kein vergütungsrechtlicher, dieser liege vielmehr allein in den Belangen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes begründet. Dass zwischen dem durch das Unionsrecht verbürgten Gesundheitsschutz und der Überstundenvergütung kein Zusammenhang besteht, werde auch dadurch deutlich, dass der Anspruch auf Überstundenvergütung auch dann entsteht, wenn die Höchstarbeitszeit überschritten wird.

Vortrag des Klägers wird der ihm obliegenden Darlegungslast nicht gerecht

Der Kläger hat die Veranlassung der geltend gemachten Überstunden nach Auffassung des BAG nicht ausreichend dargelegt. Zu einer ausdrücklichen Anordnung der Überstunden hat der Kläger nicht vorgetragen. Auch eine Billigung der Überstunden durch den Arbeitgeber hat der Kläger nicht dargelegt. Insofern genügt es nicht, dass sich der Kläger allein auf die Zeitaufzeichnungen beruft. Unstreitig konnte der Kläger lediglich Kommt- und Gehtzeiten buchen, die Zeiterfassung jedoch nicht für etwaige Pausenzeiten unterbrechen. Die Nichtvornahme einer Korrektur durch die Beklagte stelle jedoch keine Billigung der Überstunden dar, weil die bloße Erfassung von Kommt- und Gehtzeiten keinen Erklärungsbedarf dahingehend beinhalte, ob der Kläger Pausen machen konnte. Des Weiteren liegt auch keine Duldung der Überstunden vor. Allein die technische Aufzeichnung der Kommt- und Gehtzeiten des Klägers begründe keine Kenntnis der Beklagten von einer bestimmten Überstundenleistung. Erst wenn der Kläger die Beklagte darüber informiert hätte, dass die Inanspruchnahme von Pausen nicht möglich gewesen sei, wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, dem nachzugehen und gegen nicht gewollte Überstunden einzuschreiten. Schließlich lasse der Vortrag des Klägers auch nicht erkennen, dass die geltend gemachten Überstunden zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig waren.

III. Der Praxistipp

Arbeitgeber können aufatmen – Geltendmachung von Überstundenvergütung bleibt schwierig

Die Entscheidung ist überzeugend. Durch elektronische Erfassung sichtbar gewordene Arbeitszeit „verpufft“ zwar nicht, ist aber dank der klaren Entscheidung des BAG auch zukünftig nicht zwangsläufig zu vergüten (vgl. Maiß, ArbRAktuell 2021, 687 ff.). Arbeitgeber können also ein wenig aufatmen. Allein die elektronisch vom Arbeitnehmer erfassten Kommt- und Gehtzeiten führen ohne weitere Darlegung des Arbeitnehmers zur arbeitgeberseitigen Veranlassung der Überstunden zu keinem Vergütungsanspruch. Für Arbeitnehmer bleibt es dagegen weiter schwierig, eine Vergütung von Überstunden gerichtlich durchzusetzen. Wollen Sie die Vergütung von Überstunden erfolgreich durchsetzen, müssen Sie trotz elektronisch erfasster Arbeitszeiten substantiiert darlegen und – im Bestreitensfalle – beweisen, auf welche Art und Weise der Arbeitgeber die entstandenen Überstunden veranlasst hat. Dies wird, worauf auch das BAG zu Recht hinweist, insbesondere dann schwierig, wenn ein Arbeitnehmer einen längeren Zeitraum abwartet und keine aussagekräftigen Unterlagen (mehr) in Händen hält, um den Anspruch auf Überstundenvergütung zu begründen. Ungeachtet dessen stehen dem ohnehin regelmäßig arbeitsvertragliche Ausschlussklauseln entgegen.

Dr. Tilman Isenhardt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, isenhardt@michelspmks.de

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…