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Neues zur Überstundenvergütung

Die Frage der Vergütung von Überstunden gehört zu den Klassikern des Arbeitsrechts. Überstunden liegen dann vor, wenn ein Arbeitnehmer über die für sein Beschäftigungsverhältnis geltende Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Ist kein Arbeitszeitkonto vereinbart, liegen Überstunden bereits dann vor, wenn der Arbeitnehmer die vertraglich oder tariflich vorgesehene Wochenarbeitszeit überschreitet. Die Frage der Vergütung von Überstunden bietet häufig Anlass zum Streit, wie dutzende höchstrichterliche Entscheidungen des BAG zeigen. Neuere Urteile der Instanzgerichte zeigen, dass weiterhin Bewegung in der rechtlichen Bewertung besteht. In diesem Beitrag bieten wir einen Überblick über die laufenden Entwicklungen:

I.Vergütungserwartung bei „Besserverdienern“

Nach (bislang) ständiger Rechtsprechung des BAG besteht kein allgemeiner Rechtssatz, nach dem jede Mehrarbeit oder jede dienstliche Anwesenheit außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zu vergüten ist (BAG, Urt. v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10). Für den unbefangenen Betrachter ist diese Aussage zunächst erstaunlich, sollte doch der Arbeitsvertrag i.V.m. § 611 BGB auf den ersten Blick eine ausreichende Anspruchsgrundlage für die Vergütung von Überstunden bieten. Das BAG geht hingegen davon aus, dass für die Vergütung von Überstunden eine gesonderte Anspruchsgrundlage bestehen muss. Wenn diese sich nicht bereits aus dem Arbeitsvertrag oder einem anwendbaren Tarifvertrag ergebe, könne ein Anspruch auf Überstundenvergütung lediglich aus § 612 BGB folgen. Eine Vergütung gilt hiernach als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. Immerhin, das BAG geht davon aus, dass eine derartige Vergütungserwartung in weiten Teilen des Arbeitslebens gegeben sei (BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 5 AZR 765/10). Sie soll jedoch insbesondere bei „Diensten höherer Art“ fehlen oder dann, wenn eine deutliche herausgehobene Vergütung gezahlt werde (BAG, a.a.O.). Eine solche herausgehobene Vergütung soll regelmäßig dann vorliegen, wenn das Entgelt die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung überschreitet, also derzeit 7.100 EUR brutto monatlich. Wer ein solches Entgelt beziehe, gehöre zu den „Besserverdienern“, die nach der Verkehrsanschauung nach der Erfüllung ihrer Arbeitsaufgaben und nicht eines Stundensolls beurteilt würden. Bei ihnen fehle regelmäßig eine objektive Vergütungserwartung für die über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit.

Aus Arbeitgebersicht ist diese Rechtsprechung äußerst praktisch. In Arbeitsverträgen mit „Besserverdienern“ konnte bislang gefahrlos die (intransparente) Klausel vorgesehen werden, dass mit dem Gehalt sämtliche Überstunden mit abgegolten sind. Auch in Verträgen mit „Besserverdienern“ ist diese Klausel zwar unwirksam (BAG, Urt. v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10), dies bleibt jedoch folgenlos, da eine Vergütungserwartung nicht besteht.

Wer im Vertrauen auf diese scheinbar eindeutige Rechtsprechung in Arbeitsverträgen von Besserverdienern auf eine transparente Regelung zur Vergütung von Überstunden verzichtet hat, könnte gleichwohl ein böses Erwachen erleben. In einer Entscheidung vom 17.10.2018 – 5 AZR 553/17 hat das BAG nämlich (ohne dies selbst so zu sehen) einen Paradigmenwechsel vollzogen. Die Entscheidung betraf zwar nicht die Vergütung von Überstunden, sondern die Vergütung von Reisezeiten außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit. Auch Reisezeiten hatte das BAG zuvor nicht anders behandelt als Überstunden. Reisezeiten außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit waren nach bisheriger Rechtsprechung nur dann zu vergüten, wenn dies ausdrücklich vereinbart oder eine Vergütung den Umständen nach zu erwarten war (BAG, Urt. v. 3.9.1997 – 5 AZR 428/96). Hier wie dort bestand das BAG also auf eine gesonderten Anspruchsgrundlage und prüfte im Falle des Fehlens einer ausdrücklichen (tarif-) vertraglichen Regelung das Bestehen einer objektiven Vergütungserwartung. Dies jedenfalls dann, wenn das Reisen nicht die Hauptleistung des Arbeitnehmers (also die „eigentliche“ Arbeit) darstellte, wie etwa bei Berufskraftfahrern. Zur Überraschung der Fachwelt gab das BAG diese Rechtsprechung jedoch im Urt. v. 17.10.2018 – 5 AZR 553/17 kommentarlos auf. Erforderliche Reisezeiten seien vielmehr, soweit nichts anderes vereinbart sei, „wie Arbeit“ zu vergüten. Anspruchsgrundlage hierfür soll unmittelbar § 611 BGB sein, denn zu den vergütungspflichtigen „versprochenen Diensten“ im Sinne dieser Vorschrift zähle nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhänge. Etwas griffiger formuliert: Jedes im Interesse des Arbeitgebers aufgewendete Freizeitopfer nach § 611 BGB ist zu vergüten.

Wenn jedoch auch bei Reisezeiten sowie bei Umkleidezeiten (vgl. BAG, Urt. v. 19.9.2012 – 5 AZR 678/11) es nicht mehr auf eine objektive Vergütungserwartung ankommt, sondern diese im Interesse des Arbeitgebers erfolgte Tätigkeit ohne gesonderte Anspruchsgrundlage vergütungspflichtig ist, stellt sich die Frage, wieso bei der Frage der Vergütung von Überstunden eine objektive Vergütungserwartung erforderlich sein soll. Es leuchtet nicht ein, dass der in der Business Class eines Interkontinentalflugs schlafende Arbeitnehmer Vergütung beanspruchen kann, nicht jedoch derjenige Arbeitnehmer, der nach Dienstschluss noch eine dringliche Angelegenheit zu Ende bearbeitet. Zugegeben: Gegenstand der Entscheidung des BAG v. 17.10.2018 war kein „Besserverdiener“. Es stellt sich gleichwohl die Frage, wie das BAG den Fall entschieden hätte, wenn die Vergütung des betroffenen Arbeitnehmers etwas höher gelegen hätte. Wenn es bei Reisezeiten nicht auf die Vergütungserwartung ankommt, sondern diese Zeiten ohne Weiteres „wie Arbeit“ nach § 611 BGB zu vergüten sind, muss dies auch für „Besserverdiener“ gelten. Die Rechtsprechung führt dann aber zu kaum lösbaren Wertungswidersprüchen (vgl. Salamon/Groffy, NZA 2020, 159).

Mit Spannung durften also die nächsten Entscheidungen zum Thema Überstundenvergütung erwartet werden. Gelegenheit hierzu hatte der 5. Senat des BAG bereits in einem Urt. v. 26.6.2019 – 5 AZR 452/18. Da die Parteien dort jedoch arbeitsvertraglich ausdrücklich die Vergütung von Überstunden vereinbart hatten, kam es auf die Vergütungserwartung gerade nicht an. Kurz darauf hatte jedoch das LAG Düsseldorf in einem Urt. v. 23.9.2020 – 14 Sa 296/20 über die Überstundenvergütung eines „Besserverdieners“ zu entscheiden. Das Gericht bestätigte indes die bisherige Rechtsprechung und wies die Klage mangels objektiver Erwartung einer Vergütung von Überstunden ab. Die Kammer erwähnte zwar die Rechtsprechung zur Vergütung von Reisezeiten, meinte jedoch, dass diese zu keiner anderen Bewertung führe. In dieser Entscheidung sei eine Vergütungserwartung nach § 612 BGB zwar nicht ausdrücklich erwähnt, eine solche sei allerdings auch nicht problematisch gewesen. Überzeugend ist dieses Argument nicht. Wenn die Vergütungserwartung nicht problematisch war, erschließt sich gleichwohl nicht, wieso das BAG dann § 611 BGB und nicht § 612 BGB als Anspruchsgrundlage heranzieht. Auch einen Wertungswiderspruch sieht das LAG Düsseldorf nicht. Bei einem Besserverdiener würden Reisezeiten nur dann vergütet werden, wenn diese innerhalb seiner regulären Arbeitszeit liegen. Nicht auflösbar ist jedoch der Widerspruch zum Diktum des BAG im Urt. v. 17.10.2018, wonach Reisezeiten auch außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zu den „versprochenen Diensten“ im Sinne des § 611 BGB zählen. Dies lässt wenig Interpretationsspielraum zu. Sollte das LAG Düsseldorf Recht haben, würde bei einem Besserverdiener diese Definition nicht mehr gelten. Wie dieses dogmatische Kunststück gelingen soll, bleibt unklar.

Es bleibt demnach weiterhin spannend. Das LAG Düsseldorf hat die Revision im Hinblick auf die nicht abschließend geklärten Rechtsfragen zur Vergütungserwartung zugelassen.

II.Darlegungs- und Beweislast bei Überstunden

Auch bei der Frage der Darlegungs- und Beweislast von Überstunden im Prozess sind neue Entwicklungen ersichtlich. Im Grundsatz besteht Einvernehmen, dass der Arbeitnehmer als Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast für alle Tatsachen hat, aus denen sich der Anspruch auf Überstundenvergütung ergeben soll. Je nachdem muss der Arbeitnehmer darlegen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder zumindest zur Erledigung der übertragenden Aufgaben notwendig gewesen sind (BAG, Urt. v. 10.4.2013 – 5 AZR 122/12). Die Rechtsprechung billigt dem Arbeitnehmer jedoch gewisse Beweiserleichterungen zu. Im ersten Schritt genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast für die Leistung von Überstunden, wenn er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann gearbeitet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat (BAG, Urt. v. 21.12.2016 – 5 AZR 362/16). Eine explizite Anordnung der Überstunden muss der Arbeitnehmer nicht nachweisen, wenn er Aufgaben übertragen bekommen hat, die er nur unter Leistung von Überstunden ausführen kann. Im Urt. v. 21.12.2016 – 5 AZR 362/16 hatte das BAG insofern angenommen, dass der Arbeitgeber in diesem Fall darlegen muss, dass die übertragenen Aufgaben auch innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit hätten erledigt werden können. Die Entscheidung betraf einen Berufskraftfahrer, der unstreitig bestimmte Routen zu fahren hatte. Eine Billigung von Überstunden kann schließlich darin liegen, dass der Arbeitgeber die Arbeitszeiterfassung des Arbeitnehmers abzeichnet (BAG, Urt. v. 26.6.2019 – 5 AZR 452/18).

Die Darlegung, dass Überstunden überhaupt geleistet wurden, dürfte bald einfacher werden. Bekanntlich hat der EuGH im Urt. v. 14.5.2019 – C-55/18 dem deutschen Gesetzgeber auferlegt, eine Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen. Sobald eine derartige Zeiterfassung flächendeckend eingeführt ist, dürfte es schon nach den aktuellen Grundsätzen zur Darlegungs- und Beweislast dem Arbeitnehmer deutlich leichter fallen, Überstundenvergütung einzuklagen. Jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber die Zeiterfassung selbst vornimmt oder die Erfassung des Arbeitnehmers „billigt“, dürfte von einer de facto Umkehrung der Darlegungslast auszugehen sein. Der Arbeitgeber kann dann regelmäßig nicht mehr bestreiten, dass die Überstunden geleistet wurden. Ihm bleibt der Einwand, dass die Arbeit auch in kürzerer Zeit hätte erledigt werden können.

Einen Schritt weiter geht die 2. Kammer des ArbG Emden. Im Urt. v. 20.2.2020 – 2 Ca 94/19 nahm das Gericht an, dass bereits aktuell eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht besteht, das vom EuGH verlangte objektive, verlässliche und zugängliche System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Diese vertragliche Nebenpflicht folge mittelbar aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtscharta. Fehle es an einer solchen Arbeitszeiterfassung, sei dem Arbeitgeber der Einwand abgeschnitten, dass die vom Arbeitnehmer behaupteten Überstunden nicht geleistet worden seien. Der Vortrag des Arbeitnehmers gelte insofern prozessual als zugestanden. Der Arbeitnehmer muss dann nur behaupten, Überstunden geleistet zu haben, ohne dass dem Arbeitgeber die Möglichkeit verbleibt, dem etwas entgegenzusetzen.

Das Urteil des ArbG Emden – das zwischenzeitlich durch die Berufungsinstanz aufgehoben wurde, vgl. LAG Niedersachsen, Urt. v. 6.5.2021 – 5 Sa 1292/20 – wird zurecht kritisiert. Zutreffend weist das LAG Rheinland-Pfalz im Urt. v. 19.2.2021 – 8 Sa 169/20 darauf hin, dass Art. 31 Abs. 2 Grundrechtscharta dem Gesundheitsschutz dient und nicht dem Arbeitnehmer die Nachweisführung im Vergütungsprozess erleichtern soll. Das ArbG Emden nehme insofern eine „überschießende“ Umsetzung des europäischen Rechts vor, welches dem Gesetzgeber vorbehalten sei. Die Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz ist auch in anderer Hinsicht erfreulich für Arbeitgeber. Das Gericht ist bemüht, die Darlegungs- und Beweislast wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Fall bot sich diesbezüglich an. Geklagt hatte ein Techniker im Außendienst, der seine beim Kunden auszuübenden Tätigkeiten im Wesentlichen selbst einteilen konnte. Es drängte sich der Eindruck auf, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit ohne äußeren Anlass „aufgebläht“ hat, was ihm durch die im Außendienst fehlende Kontrolle erleichtert wurde. Dem Gericht fehlte es insofern an einer nachvollziehbaren Darlegung, wieso der Arbeitnehmer nach Ablauf seiner regulären Arbeitszeit nicht seine Tätigkeit beendet hat und diese am nächsten Tag fortgeführt hat, zumal weder vom Arbeitgeber Zeitvorgaben gesetzt worden waren noch diese sich aus der Natur der Sache ergaben.

Das Urteil des LAG Rheinland-Pfalz zeigt, dass auch mit Einführung der flächendeckenden Arbeitszeiterfassung – die in erster Linie dem Gesundheitsschutz dient – nicht jede nachgewiesene Überstunde zwangsläufig vergütungspflichtig ist. Je freier der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit gestalten kann und je weniger Vorgaben er hierbei unterliegt, desto mehr muss der Arbeitnehmer hinsichtlich einer Anordnung oder zumindest Billigung der Überstunden vortragen. Wer selbstbestimmt arbeitet, soll auch künftig keinen Freibrief erhalten, durch selbstgewählte Dehnung seiner Arbeitszeit Überstundenvergütung zu generieren.

Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

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