Bei versäumten Fristen bemängeln Gerichte häufig die Kanzleiorganisation. Abseits von den Klassikern wie fehlenden Anweisungen oder Kontrollen im Büro können sogar Ablage- und Sortiersysteme ins Visier der Gerichte geraten. Zum Beispiel, wenn eine Kanzlei ungeeignete Fristenmappen verwendet, so der BGH (Beschl. v. 18.03.2025, Az. VIa ZR 803/22). Wir stellen die Entscheidung vor und zeigen anhand ähnlicher Rechtsprechung, in welche Fallen Kanzleien dabei tappen können.
Plötzlich „verrutscht“. Wer mit schlichten Postmappen arbeitet, begünstigt Verwechslungen oder dass Dokumente falsch zugeordnet werden.
Im vorliegenden Fall hatte der Anwalt seinen Posteingang in der Kanzlei so organisiert, dass er alle beA-Posteingänge allein liest, anschließend ausdruckt und in eine rote Posteingangsmappe steckt, die er dann seiner Angestellten übergibt. Diese war angewiesen, die jeweiligen Fristen sofort im Fristenkalender zu notieren, die Dokumente in die Handakten einzusortieren und ggf. an die Mandantschaft weiterzuleiten.
Am besagten Tag lagen fünf Posteingänge in dieser Mappe, darunter ein Gerichtsbeschluss, an dem sich ein Fehler entzündete: Der Beschluss war doppelseitig bedruckt und hinter ein 22-seitiges Urteil einer anderen Angelegenheit gerutscht, sodass er schließlich in der falschen Handakte landete. Der genaue Grund hierfür (fehlerhafte Verklammerung, Unaufmerksamkeit) ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Einmal falsch abgeheftet, blieb der Beschluss und die mit ihm laufende Begründungsfrist unentdeckt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte der BGH schließlich ab (Beschl. v. 18.03.2025, Az. VIa ZR 803/22).
Fristalarm in allen Farben? Verschiedene Mappen und Fächer sind sinnvoll, ersetzen aber nicht die Kontrolle bei Büroschluss
Schon in der Zeit vor der aktiven beA-Pflicht genügte es dem BGH nicht, wenn Schriftsätze in Eil- und Fristsachen lediglich in farblich auffälligen Mappen steckten („Rotmappen-Beschluss“; Beschl. v. 04.11.2014, Az. VIII ZB 38/14). Er verlangte eine allabendliche Ausgangskontrolle, bei der gecheckt wird, ob alle fristgebundenen Schriftsätze als erledigt markiert und verschickt sind. Wer Eilpost in separaten, verschiedenfarbigen Mappen erfasst, hätte auch sicherzustellen, dass keine fristgebundenen Sachen in die normale Post rutschen und dadurch Abgleiche mit dem Fristenkalender Probleme machen.
Zurück zu der aktuellen Entscheidung: Auch hier wurden Dokumente ausgedruckt und sortiert bzw. priorisiert – automatisch steigen dann die Sorgfaltspflichten, was Umgang und Kenntlichmachung angeht. Wo werden die Schriftstücke gelagert oder sortiert – und identifiziert das Personal schnell eilbedürftige Unterlagen? Macht sich eine Kanzlei hier zu wenig Gedanken, mögen das Gerichte gar nicht und schauen genauer hin, was sich so auf den Anwaltsschreibtischen tut.
Hier habe der Anwalt angesichts der verwendeten einzelnen Fristenmappe, die zudem keinerlei Unterfächer hatte, eine „sich realisierende Gefahr geschaffen“, dass Dokumente unterschiedlicher Angelegenheiten durcheinander bzw. in falsche Akten gerieten. Einmal dort gelandet, bleiben sie logischerweise verborgen, außer die Kanzlei hat das Glück, dass jene Akte zufälligerweise kurz darauf bearbeitet und die darin irrtümlich abgehefteten Dokumente noch rechtzeitig vor Fristablauf entdeckt werden. Die Mitarbeiterin hatte am besagten Tag keinen Einblick in das beA-Postfach des Anwalts und wusste nicht, wie viele Fristsachen am Tag eingegangen waren. Ein Abgleich mit dem Fristenkalender fand nicht statt.
Papierpost gibt es immer noch. Wie mit ihr umgegangen wird, regelt die Kanzlei zwar selbst. Geht etwas schief, wollen Gerichte aber Abläufe und Arbeitsschritte wissen
Kein Gericht kann Anwälten vorschreiben, wie sie ihre Dokumentenablage und -aufbewahrung in der Tagesorganisation gestalten. Ohnehin rauscht ein großer Teil fristgebundener Post papierlos durch die beA-Leitung.
Eingangspost auf Papier, ausgedruckte Schriftsätze oder eingereichte fristgebundene Dokumente sind allerdings so zu erfassen und zu ordnen, dass weder Verlust noch Verwechslung drohen. Dabei helfen Sicherungsmechanismen wie Schaulöcher in Postausgangsmappen, Ablagesysteme mit transparenten und gegliederten Fächern, sodass darin liegende Dokumente jederzeit sichtbar sind. Vor allem gehört die abendliche Ausgangskontrolle dazu, die auch den Blick über sensible Ablageplätze und -flächen einschließt. Werden bei versäumten Fristen tiefergehende Details verlangt, sollte das Gericht durch fehlervermeidende, organisatorische Strukturen im Büro überzeugt werden können.
„Haufenweise“ Chaos, steile Aktengebirge und falsches Sortieren. Wer Fehlerquellen Nahrung gibt, füttert Zweifel der Gerichte
In einem Fall vor dem FG München beispielsweise tobte ein Kampf über korrekte Eingangsstempel (Urt. v. 30.03.2023, Az. 12 K 758/20). Der Bevollmächtigte erklärte, Bescheide seines „Fristenkontroll-Stapel[s]“ wären möglicherweise mit neu eingegangenen Bescheiden in einem Haufen auf einem anderen Schreibtisch vermischt worden. Ferner verhedderte er sich, wo genau die Eingangspost geöffnet wurde. Zunächst gab er an, dies geschehe in einem anderen Raum, später erklärte er, gelegentlich auch Post in seinem Arbeitszimmer zu öffnen und zu stempeln. Zu bunt gemischt für das FG, es sei unklar, ob die Eingangspost derart immer korrekt erfasst wird. Dasselbe Problem in einem weiteren Fall vor demselben LG (Urt. v. 22.11.2021, Az. 7 K 1778/20), in dem die „Unterschriftsmappe“ mit der „Ablagemappe“ vertauscht wurde. Hier wurden ebenso keine Kontrollmechanismen erläutert, wie falsche Einsortierungen rechtzeitig bemerkt und korrigiert werden.
Wie sieht die korrekte Ausgangskontrolle aus? Klug aufgeteilt heißt nicht immer auch ausreichend. Viele Mappen verderben den (Fristen-)Brei.
Selbst wenn sich Anwälte Zeit nehmen und ausführlicher ihre internen Vorkehrungen schildern, sind sie nicht automatisch auf der sicheren Seite: Manchen Gerichten sind die Schilderungen zu fragmentarisch, wenn die Kanzleiorganisation zwar arbeitsteilig, aber die Abgrenzung der Zuständigkeiten nicht klar genug sind (KG Berlin, Beschl. v. 23.08.2021, Az. 22 U 42/21). Dann genügt es nicht, wenn selbst jeder Mitarbeiter über eine Dokumentenmappe verfügt mit Schriftsätzen darin, die dem Anwalt täglich eine Stunde vor Büroschluss zwecks Kontrolle vorgelegt werden. Ist ein Anwalt dann noch in Eile und wird vergessen, den Eintrag einer Frist im Kalender zu kontrollieren, geht dies zulasten der Kanzlei (Anwaltsverschulden).
Grundsätzlich gelten orientierend folgende Leitlinien:
- Bestehen einer klaren – am besten schriftlich dokumentierten – Arbeitsanweisung, dass Fristen stets zuerst im Fristenkalender notiert werden, erst dann Vermerk auf Dokumenten/in Handakte/für den Anwalt, dass Frist notiert wurde. Hierauf darf sich der Anwalt verlassen (so sehen es höchstrichterlich sowohl der BGH als auch [seit kurzem] das BAG).
- Wird Wiedereinsetzung beantragt? Präzise Angabe, wie Kanzlei sicherstellt, dass im Fristenkalender als erledigt gekennzeichnete fristgebundene Schriftsätze tatsächlich versandt worden und bei Gericht eingegangen sind. Die simple Angabe, es werde erneut kontrolliert, ob „alle Fristsachen erledigt“ sind, genügt nicht (BGH verlangt „ausdrücklichen Vortrag“; Beschl. v. 25.02.2025, Az. VI ZB 36/24).
- Nutzung von Ablage- bzw. Postfächern, Mappen etc. für die temporäre Aufbewahrung fristgebundener Schriftstücke am Arbeitstag: Einführung sorgfältigen Systems mit klaren Zuständigkeiten, das Verlust und Verwechslung entgegenwirkt. Das System ist jederzeit leicht zu überblicken und wird in die abendliche Schlusskontrolle einbezogen.