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Urteil ohne Beweise: Der Halo-Effekt

Die neue Mandantin betritt den Besprechungsraum und sie sehen schon: Einen Haufen Unterlagen hat sie mit – und zwar in einer Tüte des örtlichen Supermarktes, gefaltete und ungefaltete Blätter, saubere und solche mit Kaffeeflecken. Ihnen ist klar: Eine chaotische Person, kommt auch im Gespräch von Hütchen auf Stöckchen, ist ungenau und unstrukturiert und wird nie irgendetwas pünktlich bringen, das Sie für die Fristbearbeitung benötigen, hat wohl eher praktische Fähigkeiten und kein Geld – es wird anstrengend.

Wir haben die Tendenz, anderen Menschen aufgrund irgendeines Merkmales, das wir an ihnen wahrnehmen, noch sehr viele andere Eigenschaften zuzuschreiben. Auch wenn wir über diese anderen Merkmale gar nichts wissen und noch keine Gelegenheit hatten, hierzu überhaupt etwas zu beobachten. In der Psychologie wird dieses Phänomen Halo-Effekt genannt.

Der Effekt funktioniert auch umgekehrt: Die neue Mandantin betritt den Besprechungsraum und Sie bemerken sofort ihre perfekte Frisur und das geschmackvolle Kostüm der von Ihnen favorisierten Designerin. Ihnen ist klar: Das ist eine zuverlässige, intelligente und eloquente Person, sie wird nur dann anrufen, wenn es wirklich etwas zu besprechen gibt und die notwendigen Entscheidungen für das taktische Vorgehen aufgrund der von Ihnen geleisteten Beratung selbstverantwortlich und zeitnah treffen – die Zusammenarbeit wird eine Freude.

Ohne Grund schließen wir von einem Merkmal auf das andere

In beiden Fällen schreiben wir einer Person Eigenschaften zu, über die wir rein gar nichts wissen. Wir hatten noch keine Gelegenheit, etwas zur Arbeitsweise der Person wahrzunehmen, wenn wir sie das erste Mal sehen. Aber wir haben Assoziationen, die sofort in uns beginnen zu arbeiten. Wir schreiben einer Person mit einem für uns positiven Merkmal sofort weitere positive Merkmale zu, auch wenn wir über diese keinerlei Informationen haben. So wird die Person uns auch direkt immer sympathischer, selbst wenn wir sie kaum kennen. Oder unsympathischer, weil wir einem von uns wenig geschätzten Merkmal innerlich automatisch sofort weitere unsympathische Eigenschaften hinzufügen.

Ein Experiment

In einem klassischen psychologischen Experiment hat Salomon Asch seinen Probanden Beschreibungen von zwei Menschen vorgelegt und sie gebeten, die jeweiligen Persönlichkeiten zu beurteilen. Lesen Sie sich die folgenden beiden Beschreibungen durch und schauen spontan: Was halten Sie von Alan und Ben?

Alan: intelligent – fleißig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch

Ben: neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – fleißig – intelligent

Die meisten Probanden hatten von Alan eine deutlich positivere Meinung als von Ben. Wie ging es Ihnen selbst beim Durchlesen der Eigenschaften?

Der erste Eindruck wirkt sich nachhaltig aus

Die ersten von uns wahrgenommenen Merkmale wirken sich darauf aus, wie wir die später entdeckten bewerten. Wenn wir einen Menschen auf den ersten Blick als sympathisch wahrnehmen wie die Mandantin mit der genau unserem Geschmack entsprechenden Kleidung, schreiben wir ihr lauter weitere aus unserer Sicht positive Eigenschaften zu. Und wenn dann später eine Eigenschaft auftaucht, die wir eigentlich gar nicht mögen, nehmen wir selbst diese positiv gefärbt wahr. Aus der nervig unstrukturierten Chaotin wird dabei schnell eine charmant freigeistige Kreative.

Urteilssprünge vermeiden

Es ist bei einem einzelnen Mandat möglicherweise zu verschmerzen, wenn wir uns von dem ersten Eindruck haben täuschen lassen, wir sind dann um eine Erfahrung reicher. Sich jedoch den Halo-Effekt einmal bewusst zu machen hilft, aufmerksam zu bleiben und das ist auch in anderen Bereichen unserer Arbeit sehr nützlich. Der Kollege oder die Kollegin auf der Gegenseite ist Ihnen als arrogant und destruktiv bekannt? Verpassen Sie nicht die gute Idee, die plötzlich in einem der Schriftsätze auftaucht. Sie suchen eine neue Mitarbeiterin oder einen neuen Mitarbeiter? Bedenken Sie, dass ein gepflegtes Äußeres und gute Rhetorik in Wahrheit nichts über die Zuverlässigkeit bei der Fristenkontrolle oder die Nervenstärke an trubeligen Tagen aussagen.

Unser Gehirn möchte es uns einfach machen. Sind wenig Informationen über ein Thema vorhanden, ergänzt es von selbst, jedenfalls mit dem unbewussten Anteil. Dieser Anteil urteilt dann sehr gern direkt. Jedenfalls zum Teil können wir ihn aber einfangen.

Unsere gedanklichen Schubladen helfen uns, den Alltag zu gestalten und oft können wir aufgrund unserer Erfahrungen aus den vergangenen Mandaten gut einschätzen, wie die Sache vermutlich verlaufen wird. Gleichzeitig bringen wir uns vielleicht um eine tolle Zusammenarbeit oder könnten umgekehrt so einige Nerven sparen, wenn wir bei unserem ersten Eindruck daran denken, dass er nur ein Teil der Wahrheit ist. Und ob Sie dann Unterlagen in Tüten generell nicht akzeptieren oder von Fall zu Fall entscheiden, können Sie immer noch festlegen.

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