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Feige oder weise?

Es beginnt in einem nüchternen, anonymen Treppenhaus eines Kreditinstituts. Ich komme gerade aus einer langen Besprechung dort, plane gedanklich schon die nächsten Schreiben, Telefonate, Wiedervorlagen … da fällt mir auf, dass meine Handschuhe fehlen. Kein Problem, einfach umdrehen, wieder hochgehen, aus dem Raum holen, wieder gehen. Trotzdem stehe ich einfach nur da.

Es „ist ja Corona“. Da geht keine*r einfach wieder irgendwohin zurück, wenn er/sie einmal durch das mit „Ausgang“ beschriftete Türchen geschlüpft ist. Nicht mit gutem Gewissen, nicht ohne aufzufallen, ohne andere zu belasten: mit neuer Desinfektion, mit dem Ärger der Nachfolgenden, weil ja Personenzahlbeschränkungen gelten und sie warten müssen, und so weiter.

Kurz: Ich überlege ernsthaft, meine geliebten Handschuhe vorläufig dranzugeben und draußen zu frieren. Dann wird mir bewusst, dass ich langsam anfange zu spinnen.

Außer Kontrolle geraten

Ich bin kein Angsthase, kein Feigling, scheue auch Konflikte nicht. Das wäre in meinem Beruf sicher kontraproduktiv. Aber in den letzten Wochen ist meine Scheu größer geworden, „aus dem Rahmen zu fallen“. Die Menschen sind dünnhäutiger geworden, sagt die eigene Erfahrung, und die Wissenschaft bestätigt sie. Depression und Aggression nehmen zu und damit auch der Druck, sich „richtig“ zu verhalten. Zu unabsehbar heute, was sich früher in einem vorhersehbaren Spektrum bewegte: die Reaktion(en) des Gegenübers.

„Richtig“ ticken um jeden Preis

Selbst die Welt der Hochglanzmagazine hat das Thema erreicht. In aktuellen Ausgaben berichten mehrere von ihnen über Seiten hinweg darüber, wie stark der Druck, alles „richtig“ zu machen, zuletzt geworden sei. Digitale und reale Welt bildeten da eine Wechselbeziehung.

Auch das deckt sich mit meiner beruflichen und privaten Erfahrung dieser Tage: Selbst aus der anonymisierten Welt des digitalen Lebens ziehen sich immer mehr moderat Denkende zurück, um nichts „falsch“ zu machen, nicht „falsch“ zu denken oder, in meinem Fall, etwas „Falsches“ zu schreiben. Zu unabsehbar, wen die Reaktionen treffen und wie sie ausfallen.

Ich bin also beileibe nicht allein, wenn ich mich aus Facebook-Meinungsverschiedenheiten dezent-versöhnlich zurückziehe. Dabei vielleicht manchmal sogar ein bisschen Vergebung für etwas heische, was ich gar nicht ernsthaft meine, getan zu haben. Oder, besser noch, wenn ich einfach gar nichts mehr kommentiere.

Feigheit oder Ausweg?

Was ich früher als „feige“ empfunden hätte, nenne ich heute eher „Appeasement“ – Befriedung, Beruhigung also. Angesichts der Welle realer und digitaler Ereignisse, die ich zu Beginn des Jahres mit einem einzigen, moderat kritischen Post in einer Gruppe ausgelöst habe, vielleicht kein schlechter Ansatz. Diplomatie lebt davon, nicht den Stolz, sondern das Ergebnis zu messen. Und meine alte Messlatte von „feige“ über „höflich“ bis „weise“ will dieser Tage nicht mehr so recht passen, als sei sie auf ein veraltetes Wertesystem geeicht.

Aber vielleicht ist es auch nur ein so altes Wertesystem, dass wir es etwas vergessen haben, zu leben. Alte Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens, bei denen es Sinn macht, sie sich ihrer in der derzeitigen Ausnahmelage noch einmal zu erinnern: Einen Individualismus-Schritt zurückmachen, jeden Jeck anders schön sein lassen, einmal drüber schlafen, Fünfe gerade sein lassen. Dann passt sie plötzlich wieder, die alte Messlatte von „feige“, über „höflich“ zu „weise“.

Schein-Problem mit Aussagekraft

Meine Handschuhe habe ich übrigens doch geholt. Habe an der Türe vorsichtig auf mich aufmerksam gemacht, gefragt, ob ich nochmal reindarf, gewartet, bis es möglich war, mich herzlich bedankt, dass es ging. Das war ein völlig eingebildetes Problem – aber das ich eins sah, wo keins war, sagt ja auch schon etwas aus.

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