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Besonderheiten bei der Bildung der Haftungsquote bei Kollisionen zwischen einem Kfz und einer Straßenbahn

Die Grundsätze der Bildung einer Haftungsquote bei der Kollision zwischen zwei Pkw sind allgemein bekannt – ereignet sich aber die Kollision zwischen einem Pkw und einer Straßenbahn ist eine Vielzahl an Besonderheiten zu berücksichtigen, die mit dem vorliegenden Beitrag darstellt werden. Zugunsten des Fahrzeugführers einer Straßenbahn können dabei insbesondere die Vorgaben des § 2 Abs. 3 StVO sowie des § 9 Abs. 1 S. 3 StVO, namentlich der dort normierte „Vorrang des Schienenverkehrs“ zu berücksichtigen sein.

I.

Vorrang der Straßenbahn auf Schienen gegenüber dem Linksabbieger

Nach § 9 Abs. 1 S. 3 StVO darf sich derjenige, der links abbiegen will, auf verlegten Schienen nur einordnen, wenn dadurch kein Schienenfahrzeug behindert wird. Entscheidend dafür ist der Zeitpunkt des Entschlusses, auf den Schienenkörper einzufahren. Zu diesem Zeitpunkt darf zum einen keine Straßenbahn sichtbar herankommen und zum anderen darf auch unter Berücksichtigung der Verkehrslage mit ausreichender Wahrscheinlichkeit nicht damit zu rechnen sein, dass eine Straßenbahn herankommen könnte (KG NZV 2005, 416). Ansonsten muss sich der Linksabbieger rechts neben den Schienen einordnen (OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 9.5.1996 – 1 U 285/94). Ein Einordnen im Profilbereich einer Straßenbahn wird beispielsweise aber dann gestattet, wenn zum Zeitpunkt des Einordnens keine Straßenbahn in Sicht ist, ein längerer Streckenteil überblickt werden kann und währenddessen mit keiner erheblichen Wartezeit des Abbiegers zu rechnen ist. Ist dagegen die zu überschauende Strecke nur kurz, wird im Zweifelsfall das Gleis freizubleiben haben und bei einer Einfahrt darf sich der Linksabbieger nicht behindernd auf die Schienen stellen. Keinesfalls darf der Fahrzeugführer unvermittelt vor der Straßenbahn auf die Gleise fahren.

Es gilt jedenfalls der Grundsatz, dass der Straßenbahn stets ein ausreichender Raum zum Durchfahren des ihr zugewiesenen Schienenkörpers verbleiben muss (grundlegend BGH DAR 1976, 271). Der Linksabbieger muss jedenfalls grundsätzlich dem Gleisbereich so fernbleiben, dass keine Kollision zu befürchten ist. Der Straßenbahnführer darf sich dagegen im Regelfall darauf verlassen, dass niemand kurz vor der fahrenden Bahn noch das Gleis besetzt.

II.

Durchfahrtsrecht der Straßenbahn

Gemäß § 2 Abs. 3 StVO müssen Fahrzeugführer, die in Längsrichtung einer Schienenbahn verkehren, diese Bahn so weit wie möglich durchfahren lassen. In diesem Bereich steht einer Straßenbahn in der Regel ein Vorrangrecht, nicht aber ein Vorfahrtsrecht im Sinne von § 8 StVO vor anderen Verkehrsteilnehmern zu, da es sich bei ihr um ein fahrplanabhängiges, schienengebundenes Massenverkehrsmittel mit einem langsamen Bremsweg handelt. Vor diesem Hintergrund muss ein Straßenbahnführer auch nicht damit rechnen, dass ein vor ihm auf der rechten Seite fahrendes Kfz trotz eines gesetzten Blinkers unmittelbar vor ihm auf die Gleise fährt. Vielmehr bleibt es dabei: Wenn die Straßenbahn heranfährt, muss der Bahn zur Durchfahrt ein genügender Raum eingeräumt werden und andere Fahrzeuge müssen dafür gegebenenfalls und wenn möglich dicht an den Bordstein heranfahren. Wird für den Kfz-Führer die Fahrbahn durch parkende Fahrzeuge verengt, muss er im Zweifelsfall seine Weiterfahrt zurückstellen und der Straßenbahn ein Vorrangrecht einräumen. Diese Grundsätze geltend sogar auch bei Fahrbahnverengungen (OLG Karlsruhe VersR 1997, 333).

Nähert sich allerdings eine Straßenbahn erst in größerer Entfernung von hinten, muss ein solches Vorrangrecht nicht zwingend eingeräumt werden. Dies gilt erst recht, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit bei dem betroffenen Zeitraum keine Bahn nachfolgt und das Rechtsfahrgebot soweit wie möglich beachtet wird. Verlaufen dabei die Straßenbahngleise über eine längere Strecke geradeaus, kommt es entscheidend auf die frühe Sichtbarkeit einer Bahn und ihre Entfernung sowie ggf. ihre Geschwindigkeit an – wobei der Moment maßgeblich ist, in dem sich der Kfz-Führer zu einem Wechsel auf den Schienenkörper entscheiden muss.

III.

Grundsätze der Quotenbildung

Unter Beachtung dieser Besonderheiten bietet sich folgendes Bild mit entsprechenden Fallgruppen bei der Bildung einer Haftungsquote bei einem Unfall zwischen einem Kfz einerseits und einer Straßenbahn andererseits.

1. Unfallursächliche Betriebsgefahren

Der Halter eines Kfz hat für die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges gemäß § 7 StVG der Betriebsunternehmer einer Straßenbahn nach § 1 Abs. 1 Haftpflichtgesetz für die Betriebsgefahr der Straßenbahn einzustehen. Kollidieren diese beiden Fahrzeuge, sind die jeweiligen Verursachungsbeiträge der Beteiligten nach den §§ 17, 18 Abs. 3 StVG bzw. § 13 Abs. 2 HPflG abzuwägen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist und dabei können lediglich zugestandene oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden, die sich unfallursächlich ausgewirkt haben (OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.12.2017 – I-1 U 33/17). Dabei hat jeder Halter die Umstände sowie ihre Unfallursächlichkeit zu beweisen, die zu einer erhöhten Haftungsquote oder einem Verschulden der jeweiligen Gegenseite führen sollen und aus denen er die nach der Abwägung günstigen Rechtsfolgen herleiten möchte (grundlegend bereits BGH, Urt. v. 13.2.1996 – VI ZR 126/95).

2. Kriterien der Quotenbildung

Bei der Kollision zwischen einer Straßenbahn und einem Pkw ist dabei innerhalb der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge mit den jeweiligen Betriebsgefahren die höhere Betriebsgefahr der Straßenbahn zu berücksichtigen. Eine Straßenbahn ist nämlich grundsätzlich schwerer und schwerfälliger als ein Pkw, kann nicht ausweichen und ist nur eingeschränkt bremsfähig (anschaulich LG Potsdam, Urt. v. 1.6.2018 – 6 O 382/17). Insoweit gilt aber auch, dass sich diese Umstände unfallursächlich ausgewirkt haben müssen – ist dies gerade nicht der Fall, kann ebenso wie beispielsweise bei einem Lkw eine grundsätzlich höhere Betriebsgefahr nicht als zusätzlicher Abwägungsfaktor bei der Quotenbildung berücksichtigt werden: So ist eine Erhöhung der Betriebsgefahr nicht gerechtfertigt, wenn sich in der Kollision keine auf vergleichbaren Faktoren basierende besondere Gefahr eines Lkw oder einer Straßenbahn ausgewirkt haben (OLG Köln, Beschl. v. 19.3.2012 – 16 U 169/11).

Ordnet sich der Fahrer eines Pkw, obwohl sich für ihn sichtbar von hinten eine Straßenbahn im Gleiskörper nähert oder mit dem Heranfahren einer Straßenbahn in der konkreten Verkehrssituation gerechnet werden muss, im Gleiskörper ein und verstößt dadurch gegen den Durchfahrtsvorrang des Schienenverkehrs, kann die von – der Straßenbahn ausgehende erhöhte Betriebsgefahr hinter dem Verschulden des Pkw-Fahrers vollständig zurücktreten, wenn für den Fahrer der Straßenbahn erst in der letzten Phase der Annäherung erkennbar ist, dass der Gleiskörper durch den Pkw (geringfügig) blockiert wird (OLG Hamm NJW-RR 2005, 817). In diesen Fällen kann eine unklare Verkehrslage, die eine Berücksichtigung der von der Straßenbahn ausgehenden Betriebsgefahr rechtfertigt, zu verneinen sein (OLG Hamm VersR 1974, 1228).

IV.

Besondere Fälle bei der Quotenbildung

Weitere Besonderheiten können bei Kollisionen im Abbiegevorgang oder einem Auffahrvorgang auftreten.

1. Abbiegeunfälle

Kommt es bei dem Abbiegen eines Kfz nach links zur Kollision mit einer Straßenbahn, haftet erst einmal der Abbiegende grundsätzlich alleine. Hier wird im Wege des Anscheinsbeweises ein Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht des § 9 Abs. 1 S. 4 StVO zulasten des Abbiegenden berücksichtigt und hinzu kann auch ein Verstoß gegen das Vorrangrecht der Straßenbahn gemäß § 9 Abs. 3 S. 1 StVO kommen (OLG Celle, Urt. v. 27.11.2018 – 14 U 59/18). Verfügt der Abbiegende dabei auch noch zusätzlich über einen Anhänger, muss er den Abbiegevorgang so lange zurückstellen, bis er sicher ist, dass er keinen anderen Verkehrsteilnehmer, insbesondere durch ein Ausschwenken des Anhängers, hierbei gefährdet. Er handelt insbesondere dann sorgfaltswidrig, wenn er sich nicht unmittelbar vor dem Abbiegen durch eine zweite Rückschau versichert, ob sich ein anderer Verkehrsteilnehmer nähert.

Weiß der Abbiegende, dass ihm eine Straßenbahn im gleichgerichteten Verkehr nachfolgt, darf er sich nicht auf den Gleisen zum Abbiegen einordnen, sondern ist verpflichtet, entweder nach rechts auf den neben dem Gleiskörper befindlichen Fahrstreifen zu fahren oder, soweit ihm dies möglich ist, seine Abbiegeabsicht aufzugeben und geradeaus weiterzufahren (OLG Hamm, Urt. v. 20.3.1981 – 9 U 171/80).

Der Fahrer einer Straßenbahn darf dagegen grundsätzlich darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer auf seinen Vorrang gem. §§ 2 Abs. 3, 9 Abs. 3 StVO Rücksicht nehmen (OLG Hamm, Urt. v. 22.11.2004 – 13 U 131/04; OLG Celle, Urt. v. 27.11.2018 – 14 U 59/18). Er braucht nicht damit zu rechnen, dass ein vor ihm fahrendes Fahrzeug in einer Entfernung, die die Gefahr eines Zusammenstoßes in sich schließt, in den Gleiskörper einfährt und dort zum Halten kommt. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der andere Fahrer sein Abbiegeabsicht rechtzeitig angezeigt hat (OLG Dresden, Urt. v. 16.10.1995 – 2 U 268/95). Dem Fahrer der Straßenbahn ist es mit Rücksicht auf das Wohl der Fahrgäste auch nicht zuzumuten, eine Vollbremsung durchzuführen, sobald in einiger Entfernung ein Pkw in den Gleiskörper einfährt (OLG Hamm, Urt. v. 5.3.1991 – 9 U 106/90). Erst in dem Moment, in dem die Räumung des Gleiskörpers unwahrscheinlich ist oder sich die Straßenbahn einer unklaren Verkehrssituation nähert, entfällt die Berechtigung des Straßenbahnführers, auf seinen Vorrang zu vertrauen, mit der Folge, dass er zur Einleitung einer Gefahrenbremsung verpflichtet ist (OLG Hamm, Urt. v. 22.11.2004- 13 U 131/04).

2. Auffahrunfälle

Der Straßenbahnführer muss auch auf vor ihm befindliche Fahrzeuge achten, soweit eine entsprechende Reaktionsaufforderung besteht. Fährt eine Straßenbahn trotzdem auf ein fahrendes oder vor der Bahn stehendes Fahrzeug auf, kann, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, auch nach der allgemeinen Lebenserfahrung im Wege des Anscheinsbeweises ein Rückschluss auf den Ursachenzusammenhang sowie auf das Verschulden des Straßenbahnführers gezogen werden (OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.12.2017 – I-1 U 33/17).

Zwar spricht grundsätzlich bei einem typischen Auffahrunfall der Beweis des ersten Anscheins gegen den von hinten Auffahrenden. Anders als bei einem Auffahrunfall zwischen zwei Pkw vermag alleine das Auffahren einer Straßenbahn auf ein in ihrem Gleiskörper befindliches Kfz aber einen Anschein für ein Verschulden des Straßenbahnfahrers nicht begründen (OLG Düsseldorf VersR 1976,499; OLG Dresden VersR 1987, 332; OLG Hamm NZV 1991,331). Der typische Geschehensablauf bei einem Auffahrunfall einer Straßenbahn unterscheidet sich von demjenigen, der sich bei dem Auffahren eines Kfz ergibt und im Regelfall zu einem Anscheinsbeweis zu Lasten des auffahrenden Fahrzeugführers führen kann: So lässt sich zum Beispiel nach dem Wechsel eines Pkw auf die Fahrspur der Straßenbahn der von dem Straßenbahnführer einzuhaltende Sicherheitsabstand nach § 4 Abs. 1 StVO erst nach viel längerer Zeit eines Hinterherfahrens aufbauen, als dies beispielsweise einem Pkw-Fahrer möglich ist. Wegen der Schienengebundenheit und der geringen Bremsverzögerung der Straßenbahn sind daher Rückschlüsse auf ein Verschulden des Straßenbahnführers nur dann möglich, wenn er genügend lange Zeit hatte, sich auf ein für ihn erkennbares Hindernis einzustellen (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.7.1993 – 1 U 162/93; Urt. v. 5.2.2017 – I-1 U 33/17; OLG Karlsruhe OLG-Report 1999,86).

Ebenso wie bei einem Auffahren eines Pkw auf ein anderes Kfz ist derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft, verpflichtet, die Tatsachen aus denen sich der typische Geschehensablauf ergibt, in vollem Umfang darzulegen und zu beweisen. Ein Mitverschulden des Straßenbahnfahrers kommt danach nur in Betracht, wenn dessen Unfallgegner der Nachweis gelingt, dass der Abstand zwischen der Straßenbahn und dem vorausfahrenden Fahrzeug so groß war, dass unter normalen Umständen eine räumliche Vermeidung des (Auffahr-)Unfalls durch das Abbremsen der Straßenbahn möglich war (OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.12.2017 – I-1 U 33/17). Bei der Bestimmung des anzusetzenden Zeitraums ist zu berücksichtigen, dass der Straßenbahn aufgrund der Vorschrift des § 2 Abs. 3 StVO ein Vorrangrecht zukommt. Dies führt dazu, dass eine Reaktion des Straßenbahnfahrers erst in dem Augenblick verlangt wird, in dem sich die Gefahr einer Kollision zeigt und eine rechtzeitige Räumung des Gleisbereichs durch den Pkw vor ihm unwahrscheinlich ist bzw. sich zumindest eine unklare Verkehrssituation aufdrängt. Zulasten des Straßenbahnführers muss dabei zusätzlich auch feststehen, dass der Abstand zwischen Straßenbahn und Pkw zum Zeitpunkt der gebotenen Reaktionseinleitung noch so groß war, dass unter normalen Umständen eine räumliche Vermeidung des Unfalls durch ein Abbremsen der Straßenbahn möglich gewesen wäre.

RA Dominik Russell, FA für Verkehrsrecht, und RA Dr. Michael Nugel, FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, jeweils Essen

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