Eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist unverhältnismäßig, wenn sie mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt und die bisherige Sachbehandlung durch die Ermittlungsbehörde und das Gericht zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt. (Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Zunächst 13 Monate keine vorläufige Entziehung
In einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) – Tatzeit war der 2.6.2022 – geschieht im Hinblick auf eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nichts. Am 20.6.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.6.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis geschieht nichts. Der Verteidiger äußert sich am 10.7.2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.7.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.
Zwei Tage nach Einspruchseinlegung erfolgt Entziehung
Zwei Tage später, am 19.7.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und führt aus: Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.
Dagegen legt die Angeklagte Beschwerde ein, die beim LG Erfolg hat:
II. Entscheidung
„Dringende Gründe“ fraglich
Zwar sei, so das LG, die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheine auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben seien.
Keine ausreichend Abwägung der Umstände
Das AG habe sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen. Unberücksichtigt geblieben sei der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten habe. Darüber hinaus habe das Amtsgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3.6.2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das zuständige Polizeirevier begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt habe.
Wahrscheinlich Ausnahmefall
Angesichts dieses Ablaufs spreche einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung sei anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht komme, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich gewesen sei oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt habe und tätige Reue deshalb ausscheide (vgl. LG Aurich NZV 2013, 53; LG Gera StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 – Qs 31/03; AG Bielefeld NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 142 Rn 30).
Nach 13 Monaten Entziehung jedenfalls unverhältnismäßig
Jedenfalls unterliegt der Beschluss nach Auffassung des LG aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt sei, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig sei und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstoße. Zwar könne die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiere nicht. Erfolge die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung sei jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handele, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen. Von diesen Maßstäben ausgehend sei die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis festgestanden habe und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufgedrängt habe, sei das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben worden. Das zuständige Polizeipräsidium habe der Staatsanwaltschaft die Verkehrsunfallanzeige am 18.8.2022 vorgelegt. In der Folge sei der Verteidigung Akteneinsicht gewährt worden, woraufhin mit Schriftsatz vom 23.92022 eine Stellungnahme erfolgt sei. Anschließend sei auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt worden. Dieser habe die Akten am 13.10.2022 zurückgereicht.
In den folgenden acht Monaten sei nichts geschehen. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der Angeklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür seien nicht ersichtlich. Insoweit unterscheide sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom AG zitierten Entscheidung des OLG Stuttgart (Beschl. v. 22.10.2021 – 1 Ws 153/21, StRR 7/2022, 26 = VRR 12/2021, 19) zugrunde gelegen habe. Denn dort hätten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht. Vorliegend hätten hingegen die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht habe. In der Folge sei eine weitere Sacheinlassung erfolgt. Verzögerungshandlungen seien demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.
Weitere positive Umstände
Dies gebiete – so das LG – t die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukomme, dass die Angeklagte nicht vorbestraft sei, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden seien und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt habe, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen habe und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfahren sei.“
III. Bedeutung für die Praxis
Zutreffend
1. M.E. zutreffend. Denn 13 Monate nach der Tat wird man die vorläufige (!) Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO schon gründlicher begründen müsse, als es das AG hier getan hat.
Keine Retourkutschen
2. Soweit, schon mal so gut. Das LG hat aber „noch einen drauf gesetzt“ und dem AG mit auf den Weg gegeben: „Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller MeyerGoßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a, Rn 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“
Das ist m.E. sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. „Retourkutschen“ halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine „Retourkutsche“ war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchslegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg