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Einwand eines hypothetisch alternativen Fahrzeugerwerbs: Darlegungs- und Beweislast

1. Der Fahrzeughersteller hat darzulegen und zu beweisen, dass der Geschädigte in jedem Fall zur Schadenminderung ein bestimmtes hypothetisches alternatives Fahrzeug erworben hätte, und muss insoweit vortragen, welches Fahrzeug er sich anstelle des tatsächlich erworbenen angeschafft hätte, zu welchen Konditionen dies möglich gewesen wäre und dass dies mit Sicherheit ohne den Erwerb des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung manipulierten Fahrzeugs geschehen wäre.

2. Es existiert kein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, dass sich der durch eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung zum Abschluss eines ungewollten Fahrzeugkaufvertrages gebrachte Geschädigte ohne das haftungsbegründende Verhalten ein vergleichbares Fahrzeug zu gleichen Finanzierungsbedingungen angeschafft hätte.

3. Der Schädiger ist mit dem Einwand eines hypothetischen Alternativerwerbs hinsichtlich der Finanzierungskosten ausgeschlossen, wenn er sich zugleich auf die Anrechnung der von dem Geschädigten gezogenen Nutzungen im Wege des Vorteilsausgleichs beruft. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Celle, Urt. v. 9.11.20227 U 299/22

I. Sachverhalt

Gebrauchtwagenkauf

Der Kläger erwarb am 8.3.2013 von einem Autohändler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten VW Sharan 2.0 TDI mit einer Laufleistung von 14.000 km zu einem Kaufpreis von 34.700 EUR. Zuletzt betrug der Kilometerstand 186.006 km. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger.

Rückabwicklung?

Das Fahrzeug war mit einem Dieselmotor der Beklagten des Typs EA 189 ausgestattet, der über eine Prüfstandserkennung zur Abgassteuerung verfügte. Mit Urt. v. 28.10.2020 (7 U 215/19) stellte der Senat fest, dass die Beklagte dem Kläger zum Schadensersatz für Schäden verpflichtet ist, die daraus resultieren, dass das Fahrzeug des Klägers eine prüfstandsbezogene Abschalteinrichtung enthielt.

Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 22.11.2021 verlangte der Kläger von der Beklagten Schadensersatz in Form der Rückabwicklung des Kaufvertrages, wobei er für die Berechnung des Nutzungsersatzes eine Gesamtlaufleistung von 350.000 km zugrunde gelegt hatte. Die Beklagte hatte die Entstehung eines kausalen Schadens verneint, zumal der Kläger nicht von seinem verbrieften Rückgaberecht Gebrauch gemacht habe. Die Zahlung der Finanzierungskosten wurde mit Nichtwissen bestritten und darüber hinaus seien die Kosten der Darlehensfinanzierung auch mit dem Erwerb eines gleichwertigen Alternativfahrzeugs entstanden.

Klage

Erstinstanzlich wurde der Klage im Wesentlichen stattgegeben, wobei das Gericht für die anzurechnenden Nutzungsvorteile eine erwartete Gesamtlaufleistung von 250.000 km zugrunde gelegt hatte. Die aus Sicht des Gerichts tatsächlich aufgebrachten Finanzierungskosten seien ebenfalls zu erstatten und für einen hypothetischen alternativen Fahrzeugerwerb habe die Beklagte keinen Vortrag oder Beweisangebote aufgezeigt. Einer Feststellung des Annahmeverzuges stehe die überhöhte Gesamtlaufleistung (350.000 km statt 250.000 km) in dem Aufforderungsschreiben nicht entgegen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

II. Entscheidung

OLG bestätigt

Das OLG bestätigt die Entscheidung des LG, mit Ausnahme des Zeitpunkts der Feststellung des Annahmeverzuges.

Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 BGB gegen die Beklagte hinsichtlich der Finanzierungskosten zu, da der Kläger so zu stellen sei, als wäre es nicht zu dem Fahrzeugerwerb gekommen. Hiervon seien neben dem gezahlten Kaufpreis auch die mit dem Erwerb verbundenen Finanzierungskosten erfasst. Mit ihrem Einwand, dass der Kläger nicht dargelegt habe, dass ihm die Finanzierungskosten bei einem hypothetischen alternativen Erwerb nicht entstanden wären, vermochte die Beklagte nicht durchzudringen. Denn die Beklagte habe als insoweit darlegungs- und beweisbelastete Partei weder hinreichenden Vortrag gehalten noch Beweis angeboten.

Grundsätzlich hätten hypothetische Ereignisse, die zu einem späteren Zeitpunkt aus anderem Anlass eingetreten wären und die gleichen Kosten ausgelöst hätten, außer Betracht zu bleiben. Nachträglich auftretende Umstände könnten nur berücksichtigt werden, wenn sie als Schadensanlage im Zeitpunkt der Schädigung binnen kurzem denselben Schaden herbeigeführt hätten. Soweit sich der Schädiger auf eine nur gedachte, ganz anders gelagerte Fallgestaltung als die konkret verwirklichte berufe, sei erforderlich, dass sich eine solche Fallgestaltung im Sinne einer überholenden Kausalität in jedem Falle verwirklicht hätte.

Beweislast für hypothetisches Geschehen

Dabei habe derjenige, der für den Schaden in Anspruch genommen werde, die Beweislast für eine eingewendete hypothetische Geschehenskette, soweit diese überhaupt erheblich sei. So müsse hier der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen, der Geschädigte in jedem Fall zur Schadenminderung ein bestimmtes hypothetisches alternatives Fahrzeug erworben hätte. Es oblag somit der Beklagten vorzutragen, welches Fahrzeug sich der Kläger anstelle des tatsächlich erworbenen angeschafft hätte, zu welchen Konditionen dies möglich gewesen wäre und dass dies ohne den Erwerb des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung manipulierten Fahrzeugs mit Sicherheit geschehen wäre.

Dem sei die Beklagte nicht nachgekommen, da sie weder näheren Vortrag gehalten noch – nach den tatbestandlichen Feststellungen des LG – Beweis angeboten habe.

Der erstinstanzliche und im Berufungsverfahren wiederholte Vortrag der Beklagten, wonach sich der Kläger bei Kenntnis der Manipulation ein anderes Fahrzeug angeschafft und finanziert hätte und bei lebensnaher Betrachtung ein Fahrzeug dieser Preiskategorie hätte erwerben wollen, weil Autokäufe in aller Regel keine Impulskäufe seien, sondern ihnen – insbesondere hinsichtlich der Kaufpreisvorstellung – ein längerer Entscheidungsprozess, insbesondere bei einer Kaufpreisfinanzierung, vorausgehe, sei zu pauschal und durfte durch den Kläger einfach bestritten werden. Es habe der Beklagten nunmehr oblegen, die konkreten Umstände darzulegen, die ihres Erachtens zu dem alternativen Fahrzeugerwerb geführt hätten. Erst diese Umstände wären einem Beweis zugänglich gewesen und erst dann wäre der Kläger gehalten gewesen, seinerseits ebenso konkret zu erwidern.

Entgegen der Ansicht der Beklagten biete die Lebenserfahrung keinen Anhalt dafür, dass der Kläger sich in jedem Fall ein Ersatzfahrzeug aus dieser Preiskategorie noch überhaupt ein anderes Fahrzeug angeschafft hätte. Ein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, dass sich der durch eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung zum Abschluss eines ungewollten Fahrzeugkaufvertrages gebrachte Geschädigte ohne das haftungsbegründende Verhalten ein vergleichbares Fahrzeug zu gleichen Finanzierungsbedingungen angeschafft hätte, existiere nicht. Der Beklagten könne zwar darin gefolgt werden, dass dem Kauf eines Fahrzeugs, insbesondere bei einer Finanzierung, ein längerer Entscheidungsprozess vorausgehe. Das belege jedoch gerade, dass die Entscheidung für den Erwerb eines bestimmten Fahrzeugs, zumal eines Gebrauchtfahrzeugs wie hier, auf einem individuellen Entschluss beruhe, bei dem die persönliche und finanzielle Situation des Erwerbers sowie seine dem Kauf zugrunde liegenden Motive ebenso wie die Vielgestaltigkeit der zur Verfügung stehenden Angebote im Allgemeinen sowie in Bezug auf das zu erwerbende Fahrzeug, seine Leistungsmerkmale und Ausstattung im Besonderen, Möglichkeiten einer Inzahlunggabe und die Beziehung zu dem jeweiligen Händler zu bedenken seien.

Selbst bei einem unterstellten ausreichenden Vortrag der Beklagten wäre sie mangels Beweisangebots gleichwohl beweisfällig geblieben, nachdem sie im erstinstanzlichen Verfahren keinen Beweis angeboten hatte. Ihr Antrag auf Parteivernehmung des Klägers in der Berufungsbegründung sei prozessual unbeachtlich.

Keine Beweisangebote

Im Tatbestand des Ersturteils, zu dem auch die tatsächlichen Festgestellungen in den Entscheidungsgründen gehörten, habe das LG mit Bindungswirkung nach § 314 ZPO festgestellt, dass die Beklagte für einen hypothetischen alternativen Fahrzeugerwerb keine Beweisangebote aufgezeigt habe. Nachdem die Beklagte zudem keine Tatbestandsberichtigung beantragt habe, sei davon auszugehen, dass der zunächst in der Klageerwiderung gestellte Antrag auf Parteivernehmung in der mündlichen Verhandlung fallen gelassen worden sei, ohne anderweitig Beweis anzubieten.

Bei dem im Rahmen des Berufungsverfahrens wieder aufgegriffenen Beweisangebot auf Parteivernehmung des Klägers handele es sich um neues Vorbringen im Sinne von § 531 Abs. 2 ZPO, für das weder dargelegt noch sonst ersichtlich sei, warum es zuzulassen sein sollte. Mangels „Anbeweises“ habe es dem Gericht auch keinen Anlass gegeben, eine Parteivernehmung von Amts wegen (§ 448 ZPO) anzuordnen. Andere Erkenntnismittel, die vor der Annahme einer Beweisfälligkeit auszuschöpfen wären, seien hier nicht ersichtlich.

Ungeachtet dessen komme die Berücksichtigung eines hypothetischen alternativen Fahrzeugerwerbs hier nicht in Betracht. Soweit die Beklagte keine Finanzierungskosten erstatten wolle, vermenge sie in unzulässiger Weise verschiedene hypothetische Kausalverläufe.

Die Beachtlichkeit des Einwands unterstellt, trete im Rahmen der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung rechnerisch an die Stelle des tatsächlich bzw. des hypothetisch alternativ erworbenen Fahrzeugs der jeweilige Restwert. Beim sog. großen Schadensersatz finde die Schadensabwicklung derart statt, dass der hypothetisch ersparte Wertverlust des Alternativfahrzeugs von dem Schadensersatzbetrag (dem Kaufpreis) in Abzug gebracht werde. Ein Vorteilsausgleich für gezogene Nutzungen scheide in diesem Fall aus, weil er voraussetze, dass der Kauf eines Ersatzwagens nicht als Reserveursache in Betracht komme). Denn die Nutzungen hätte der Geschädigte auch aus dem Alternativfahrzeug gezogen, so dass sie ihm schadensrechtlich verblieben.

Danach könne hier ein hypothetischer Alternativerwerb der Schadensbemessung nicht zugrunde gelegt werden, weil das LG bei der Berechnung des Schadensersatzes einen Vorteilsausgleich unter Berücksichtigung der von dem Kläger gezogenen Nutzungen in Höhe von 25.290,71 EUR vorgenommen habe. Die Bemessung dieses Schadensersatzbetrages greife die Beklagte mit der Berufung nicht an. Der Ersatz von Finanzierungskosten scheide daneben aus. Würden die Finanzierungskosten neben den gezogenen Nutzungen in Abzug gebracht, würden mehrere hypothetische Kausalverläufe zum Nachteil des Geschädigten kombiniert, die sich jedoch gegenseitig ausschlössen.

Im Ergebnis habe auch die Feststellung des Annahmeverzuges Bestand.

Annahmeverzug

IGrundsätzlich schließe die Forderung eines nicht nur unerheblich höheren als des geschuldeten Betrags ein ordnungsgemäßes Angebot der Zug-um-Zug zu erbringenden Leistung aus. Der für diese Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt sei der Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz. Zwar sei das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Ansatz einer Gesamtlaufleistung von 350.000 km in dem außergerichtlichen Schreiben, die der Kläger auch in erster Instanz aufrechterhalten hatte, nur unerheblich gewesen sei. Die Differenz zwischen der Forderung des Klägers und dem zuerkannten Betrag belief sich auf immerhin 7.527 EUR. Indem der Kläger jedoch in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren beantragt habe, die Berufung zurückzuweisen und sich damit die von dem Landgericht zuerkannte Schadenshöhe zu eigen gemacht habe, habe er die erstinstanzliche Zug-um-Zug-Verurteilung verteidigt und hierdurch ein entsprechendes wörtliches Angebot gemacht.

III. Bedeutung für die Praxis

Anforderungen hoch

IDie Anforderungen an den Vortrag der Beklagten als Schädigerin sind in der hier vorliegenden Konstellation mit einer eingewandten hypothetischen Geschehenskette sehr hoch. Hier lag neben einem zu pauschalen Vortrag schon kein prozessual relevanter Beweisantritt vor, was der Beklagtenseite aber offensichtlich erst im Rahmen des Berufungsverfahrens aufgefallen war. In den engen Grenzen des § 531 Abs. 2 ZPO blieben ihr Vortrag und insbesondere der im Berufungsverfahren erfolgte Beweisantritt daher unberücksichtigt. Auch wenn sich das fehlende Beweisangebot im Ergebnis nicht ursächlich auswirkt hatte: Die Berücksichtigung der zivilprozessualen Basics darf auch bei Massenverfahren nicht außer Acht gelassen werden.

RA Markus Schroeder, FA für VerkehrsR, Velbert

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