Beitrag

Absehen von der Anordnung eines Fahrverbots beim Rotlichtverstoß

1. Inbegriffsrüge und Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung.

2. Verpflichtung zur Darstellung eines potenziell rügefeindlichen Umstands.

3. Von der Anordnung eines Fahrverbots beim Rotlichtverstoß kann abgesehen werden, wenn ein atypischer Fall vorliegt, bei dem der Erfolgsunwert verringert ist, insbesondere wenn jede konkrete Gefährdung ausgeschlossen gewesen ist oder eine Verkehrssituation vorliegt, welche die Unaufmerksamkeit des Betroffenen und seine Sorgfaltswidrigkeit im Sinne eines so genannten Augenblicksversagens in einem signifikant milderen Licht erscheinen lassen könnten.

4. Ein Augenblicksversagen kann bei einem „Frühstart“ oder „Mitzieheffekt“ vorliegen. Kein Augenblicksversagen ist anzunehmen, wenn ein ortskundiger Taxifahrer bei Dunkelheit mit unverminderter Geschwindigkeit eine bereits seit Längerem Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage überfährt, weil er diese überhaupt nicht wahrgenommen hat.

(Leitsätze des Gerichts)

KG, Beschl. v. 21.4.20223 Ws (B) 64/22 – 162 Ss 21/22

I. Sachverhalt

Fahrverbot angeordnet

Das AG hat den Betroffenen nach Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruchwegen eines (qualifizierten) Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Seine Rechtsbeschwerde wurde als unbegründet verworfen.

II. Entscheidung

Verfahrensrüge

Soweit dem Vortrag eine Verfahrensrüge insoweit zu entnehmen sein sollte, dass das Vorbringen der Verteidigung in der Hauptverhandlung (insbesondere zu einem etwaigen atypischen Verstoß wegen einer Rotlichtzeit von circa 20 Sekunden, zum Fall des Augenblicksversagens beim Übersehen der Linksabbiegerampel und zu der neuen beruflichen Tätigkeit des Betroffenen) nicht berücksichtigt worden sei, habe diese Rüge keinen Erfolg. Zwar könne mit der sog. Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) grundsätzlich gerügt werden, dass im Urteil ein Beweismittel verwertet worden sei, das nicht in dieser Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gezählt habe, und dass das Tatgericht nicht den gesamten Inbegriff in seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt habe. Einer durch das Rechtsbeschwerdegericht vorzunehmenden Überprüfung des behaupteten Verteidigervorbringens stehe jedoch das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung entgegen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 261 Rn 42). Auch eine Aufklärungsrüge griffe nicht durch, da sie nicht in einer nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Form erhoben und daher unzulässig ist. In zulässiger Form sei die Aufklärungsrüge nur dann erhoben, wenn die Rechtsbeschwerde die Tatsache, die das Gericht zu ermitteln unterlassen hat, und das Beweismittel bezeichnet, dessen sich der Tatrichter hätte bedienen sollen. Ferner müsse bestimmt und konkret angegeben werden, welche Umstände das Gericht zu weiteren Ermittlungen drängen mussten (BGH NStZ 1999, 45) und welches Ergebnis von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre (BGH NStZ-RR 2010, 316). Daran fehle es hier. Im Übrigen würden im Hinblick auf das behauptete und mit dem Übersehen der Linksabbiegerampel begründete Augenblicksversagen wesentliche Umstände verschwiegen, was zur Unzulässigkeit der Rüge führt: Denn in einem Schreiben des Betroffenen begründe er sein behauptetes Augenblicksversagen mit Unaufmerksamkeit wegen der Ablenkung durch einen Fahrgast bei stressiger Adressensuche und gerade nicht mit einem etwaigen Übersehen der Linksabbiegerampel. Zu der Darstellung eines solchen potenziell rügefeindlichen Umstands sei der Rechtsmittelführer aber verpflichtet (BVerfG NJW 2005, 1999 m.w.N.).

Fahrverbot

Die Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots begegne keinen rechtlichen Bedenken. Ein Absehen von der Anordnung eines Fahrverbotes komme nur in ganz besonderen Ausnahmefällen in Betracht; namentlich, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen so erheblich von dem Regelfall abweicht, an den der Gesetzgeber gedacht hat, dass er als Ausnahme zu werten ist, so dass auf ihn die Regelbeispieltechnik des Bußgeldkataloges nicht mehr zutrifft, oder wenn die Maßnahme für den Betroffenen eine außergewöhnliche Härte darstellt. Wegen des Wegfalls des Erfolgs- oder Handlungsunwerts könne ein Absehen von der Anordnung eines Fahrverbots nur dann erfolgen, wenn entweder besondere Ausnahmeumstände in der Tat oder in der Persönlichkeit der Betroffenen offensichtlich gegeben sind und deshalb erkennbar nicht der von § 4 BKatV erfasste Normalfall vorliegt. Das Tatgericht habe ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass zugunsten oder zum Nachteil des Betroffenen Abweichungen vom Regelfall vorlägen, und dass die vom Betroffenen begangene Ordnungswidrigkeit besonders schwer wiege und weder aus Augenblicksversagen noch auf besonders leichte Fahrlässigkeit zurückzuführen sei. Damit zeigten die Urteilsfeststellungen keine Verkehrssituation auf, welche die Unaufmerksamkeit des Betroffenen und seine Sorgfaltswidrigkeit im Sinne eines so genannten Augenblicksversagens in einem signifikant milderen Licht erscheinen lassen könnten. Zuvörderst seien die Ausführungen der Rechtsbeschwerde zu der Rotlichtzeit von circa 20 Sekunden und zu dem Übersehen der Linksabbiegerampel urteilsfremd und damit für das Rechtsbeschwerdegericht unbeachtlich. Zudem ließe die lange Rotlichtzeit allein auch nicht auf ein Augenblicksversagen bei einem „Frühstart“ oder „Mitzieheffekt“ schließen: Hierfür hätte der Betroffene angehalten und zu früh angefahren haben bzw. anderen Fahrzeugführern folgen müssen. Auch das behauptete Übersehen der Linksabbiegerampel hätte in der vorliegenden Fallkonstellation kein Absehen vom Fahrverbot gerechtfertigt. Denn es entspreche obergerichtlicher Rechtsprechung, dass kein Augenblicksversagen anzunehmen ist, wenn ein ortskundiger Taxifahrer bei Dunkelheit mit unverminderter Geschwindigkeit eine bereits seit Längerem Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage überfährt, weil er diese überhaupt nicht wahrgenommen hat (OLG Hamm, NZV 2007, 259). Dafür, dass die Anordnung des Fahrverbots für den Betroffenen eine ganz außergewöhnliche Härte darstellen würde, gebe es nach den allein maßgeblichen Urteilsgründen keine Anhaltspunkte. Allein der Umstand, dass der Betroffene als „Uber“-Fahrer beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist, rechtfertige ein Absehen von der Auferlegung eines Fahrverbotes grundsätzlich nicht. Es sei Sache des Betroffenen, in substantiierter Weise Tatsachen vorzutragen, welche die Annahme einer Existenzgefährdung greifbar erscheinen lassen. Schließlich habe sich das AG mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, gem. § 4 Abs. 4 BKatV von einer Anordnung eines Fahrverbots abzusehen. Näherer Feststellungen, dass der durch das Fahrverbot angestrebte Erfolg auch mit einer erhöhten Geldbuße nicht zu erreichen gewesen wäre, habe es nicht bedurft. Der Einwand des Betroffenen in der Beschwerdebegründung, derzeitig frei von Eintragungen im Fahreignungsregister zu sein, weshalb eine erhöhte Geldbuße ausreichend gewesen wäre, verfange daher nicht.

III. Bedeutung für die Praxis

Hohe Anforderungen an die Verfahrensrüge

Zum Fahrverbot bietet die Entscheidung nichts Neues. Praxisrelevant sind aber die vom KG hervorgehobenen hohen Anforderungen, die das KG an einschlägige Verfahrensrügen stellt, wenn das Tatgericht nach Ansicht der Verteidigung einen für das Absehen vom Fahrverbot relevanten Umstand nicht aufgeklärt hat oder ein solcher Umstand im Urteil nicht erörtert wird. Eine Inbegriffsrüge ist wegen des Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung faktisch ausgeschlossen. Auch die Aufklärungsrüge verlangt eine eingehende Begründung und darf potenziell rügefeindliche Umstände nicht ausklammern. Das sind Folgen der strikten Begrenzung der Revisions-/Rechtsbeschwerdegerichte auf die Prüfung des Vorliegens von detailliert darzulegenden Verfahrensfehlern, die sich anhand des Verhandlungsprotokolls und des schriftlichen Urteils belegen lassen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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