Die Verfahrensgebühr entsteht nicht erst durch die Berufungsbegründung, sondern bereits durch die anwaltliche Prüfung und Beratung, ob und gegebenenfalls mit welchen Anträgen die – häufig aus Zeitgründen zunächst nur zur Fristwahrung eingelegte – Berufung begründet und weiter durchgeführt werden soll.
Leitsatz des Verfassers
AG Halle/Saale, Beschl. v. 16.6.2021 – 322 Ds 370 Js 16649/20
I. Sachverhalt
Das AG hat den ehemaligen Angeklagten am 10.2.2021 zu einer Geldstrafe verurteilt. Mit am selben Tag eingegangenem Schreiben vom 17.2.2021 legte der Verteidiger Berufung ein. Ergänzend bat er für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel einlegt oder ein eingelegtes Rechtsmittel zurücknimmt, um „einen kurzen Hinweis per Fax oder Mail, damit hier neu überdacht werden kann, wie mit dem diesseitigen Rechtsmittelverfahren wird.“ Am 26.2.2021 wurde dem Verteidiger durch mitgeteilt. dass von der Staatsanwaltschaft keine Rechtsmittelschrift eingegangen sei. Darauf ging am 28.2.2021 ein Schreiben des Verteidigers ein, in dem er mitteilte, das „wir nach der Mitteilung, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat, die Sache nochmals erörtert [haben], mit dem Ergebnis, dass ich nunmehr namens und in Vollmacht des Angeklagten und kraft besonderer Ermächtigung die Berufung zurück nehme.“
Der Rechtsanwalt hat die Festsetzung seiner in der Berufungsinstanz entstandenen Gebühren, u.a. die Verfahrensgebühr Nr. 4125 VV RVG und die Nr. 4141 VV RVG, beantragt. Das AG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen angeführt, dass die Verfahrensgebühr nicht entstanden sei, weil sowohl Einlegung als auch die Rücknahme des eingelegten Rechtsmittels noch zur 1. Instanz gehörten, wenn ein Rechtsmittel des Gegners nicht eingelegt war und der Rechtsanwalt nur vorbereitend tätig geworden sei. Zur nächsten Instanz gehöre etwa die Begründung des Rechtsmittels. Eine Begründung des Rechtsmittels sei nicht eingegangen. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Verteidigers hatte Erfolg. Das AG ist davon ausgegangen, dass es sich bei der vom Verteidiger beschriebenen Tätigkeit nicht mehr um eine Tätigkeit im 1. Rechtszug, sondern bereits um eine solche des Rechtsmittelzugs gehandelt hat.
II. Entscheidung
Fest stehe, so das AG, dass gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 die Einlegung von Rechtsmitteln bei dem Gericht desselben Rechtszuges durch den Verteidiger, der in dem Rechtszug tätig war, mit der Verfahrensgebühr des 1. Rechtszugs abgegolten ist. Auch die Beratung über die Aussichten eines noch nicht eingelegten Rechtsmittels durch den Verurteilten oder anderer Verfahrensbeteiligter zähle noch zu dem 1. Rechtszug. Welche Handlungen des Verteidigers die Verfahrensgebühr hingegen nach Rechtsmitteleinlegung auslösen, lasse sich anhand der Bedeutung der Verfahrensgebühr ermitteln. Danach werde mit der Verfahrensgebühr jedes Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information abgegolten (Vorbem. 4 Abs. 2 VV RVG). Ausschlaggebend sei daher, ob der Verteidiger entsprechende Handlungen durchgeführt habe. Die Gebühr erfasse damit nicht nur Rechtsmittelbegründungen, sondern bereits die anwaltliche Prüfung und Beratung, ob und gegebenenfalls mit welchen Anträgen das Rechtsmittelverfahren weiter durchgeführt werden solle (KG AGS 2009, 389 = RVGreport 2009, 346 = VRR 2009, 277 = StRR 2009, 399). Sei die Verfahrensgebühr dadurch entstanden, entfalle sie nicht dadurch, dass nach dem Ergebnis der Besprechung das Rechtsmittel zurückgenommen werde (KG, a.a.O.). Auch Gespräche mit der Staatsanwaltschaft und/oder mit dem Gericht mit dem Ziel der Rücknahme der Berufung oder der Einleitung von Verständigungsgesprächen lösten die Verfahrensgebühr aus (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, VV 4124 Rn 8).
Davon zu unterscheiden sei der von der Bezirksrevisorin in ihrer Stellungnahme herangezogene Fall, den das LG Hannover zu entscheiden hatte (LG Hannover JurBüro 2014, 190 = Nds.Rpfl 2014, 216). In jenem Fall hat der Verteidiger die Berufung ausdrücklich vorsorglich eingelegt, um im Falle eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft vorbereitet zu sein und die Frist zu wahren. Ausdrücklich wurde dort bereits mitgeteilt, dass bei dem Ausbleiben eines solchen Rechtsmittels die Berufung zurückgenommen werden sollte. In diesem Fall hätten die entsprechenden Gespräche zwischen dem Verteidiger und dem dort Angeklagten bereits vor der Rechtsmitteleinlegung stattgefunden mit der Bedingung, dass im Falle, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel einlegt, der Verteidiger von vornherein beauftragt wurde, die Berufung zurückzunehmen. Insofern hätten die entscheidenden Gespräche bereits vor Berufungseinlegung stattgefunden und gehören damit mit zu den Gebühren des 1. Rechtszugs. Nachdem die Staatsanwaltschaft dort kein Rechtsmittel eingelegt hatte, waren weitere Gespräche zwischen dem Verteidiger und dem dort Angeklagten nicht mehr erforderlich, sodass eine Verfahrensgebühr nicht entstehen konnte.
Abweichend davon habe der Verteidiger des hier Angeklagten bereits in der Berufungsschrift zwar mitgeteilt, dass er lediglich einen Hinweis erbat, ob ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft eingegangen ist. Darin liege aber noch nicht die Bedingung, das Rechtsmittel im Falle des Ausbleibens eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft zurückzunehmen. Ausdrücklich werde mitgeteilt, dass in dem Fall neu überdacht werden könne, wie mit dem Rechtsmittelverfahren werde. Darin liege gerade nicht die Ankündigung, das Rechtsmittel zurückzunehmen. Denkbar wäre auch, die Berufung lediglich auf das Strafmaß zu beschränken. Explizit erklärt der Verteidiger in dem Schreiben vom 28.2.2021 darüber hinaus, dass er die Sache mit dem Angeklagten nochmals erörtert habe, mit dem Ergebnis, dass die Berufung zurückgenommen werden solle. Hier behaupte der Verteidiger explizit die Erörterung der Sache mit dem Angeklagten nach Berufungseinlegung, womit alleine dieses Gespräch die Verfahrensgebühr auslöse. Ob dieses Gespräch tatsächlich stattgefunden habe, habe das Gericht mangels anderweitiger Hinweise nicht zu prüfen (KG, a.a.O., zumindest dem Sinn nach; explizit LG Hannover, a.a.O.).
III. Bedeutung für die Praxis
1. Der Entscheidung, die auch für das Revisions- und das Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung ist, ist zuzustimmen. Es führt jede nach der Einlegung des Rechtsmittels erbrachte Tätigkeit zur Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren. Das hat das AG zutreffend erkannt (zur Nr. 4124 s. auch die Kommentierung bei Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4124 VV Rn 1 ff.; vgl. noch LG Osnabrück RVGreport 2019, 339). Die Gebühr entfällt auch nicht wieder, wenn das Rechtsmittel als aussichtslos zurückgenommen wird (KG, a.a.O. und auch NStZ 2006, 239). Auch ist für das Entstehen der Verfahrensgebühr nicht die Zustellung des schriftlich begründeten Urteils erforderlich (OLG Hamm AGS 2006, 547 für das Revisionsverfahren). Die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels können ggf. auch schon vorher überprüft werden. Ob die Frage bei einem Sachverhalt, wie er der vom AG angeführten Entscheidung des LG Hannover zugrunde gelegen hat, anders zu entscheiden ist, kann dahinstehen. Die Beantwortung der Frage hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.
2. Die vom AG Halle entschiedene Frage ist zu unterscheiden von der Einlegung des Rechtsmittels durch die StA. Nach der wohl h.M. in der obergerichtlichen Rechtsprechung kann dann die Verfahrensgebühr erst nach der Begründung des Rechtsmittels durch die Staatsanwaltschaft entstehen. Alle vorher erbrachten Tätigkeiten seien als nicht sinnvoll nicht vergütungsfähig (zutreffend a.A. Burhoff/Volpert/Burhoff, a.a.O., Nr. 4124 VV Rn 27 ff. m.w.N.).
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg