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VRR-Kompakt 2022_04

Hinweispflicht: Fristablauf in der Unfallversicherung

Ein Mandat, das einem Rechtsanwalt „wegen Verkehrsunfall“ erteilt wird, erstreckt sich nicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber einem privaten Unfallversicherer auch wenn dieser mit dem Haftpflichtversicherer des Unfallgegners identisch ist. Hat ein Unfallversicherer den Mandanten mehrfach verständlich über eine Ausschlussfrist belehrt und hat der Mandant den Hinweis verstanden, besteht keine Pflicht des Anwalts, diesen Hinweis zu wiederholen.

OLG Schleswig, Urt. v. 10.2.2022 – 11 U 73/21

Verkehrsunfall mit sicherungsübereignetem Pkw: Haftungsverteilung

Macht der Sicherungsnehmer Ansprüche der Sicherungseigentümerin geltend, findet keine Haftungsverteilung nach § 17 StVG statt, weil diese nicht Halterin des Fahrzeugs ist und sich auch durch Abtretung oder Prozessstandschaft daran nichts ändert. Eine Haftungsverteilung nach den Rechtsinstituten der gestörten Gesamtschuld, Drittschadensliquidation oder der Anwendung des § 242 BGB ist nicht möglich. Ansprüche, die unmittelbar aus der Besitzbeeinträchtigung herrühren, wie z.B. Nutzungsausfall, unterfallen als eigenständige Schadenspositionen des Halters der Haftungsverteilung nach § 17 Abs. 2 StVG. Eine Haftungsverteilung kommt bei Sicherungsübereignung nach der Rechtsprechung des BGH vom 27.10.2020 – XI ZR 429/19 – möglicherweise über das Rechtsinstitut der Teilgläubigerschaft in Betracht. Dies setzt allerdings voraus, dass das Sicherungseigentum als dingliches Recht angesehen werden kann. Dies ist nur der Fall, wenn die Sicherungsübereignung auflösend bedingt erfolgt ist. Ein lediglich schuldrechtlich vereinbarter Rückübereignungsanspruch bei Vertragsende reicht dafür nicht aus.

OLG Frankfurt, Urt. v. 27.1.2022 – 22 U 49/21

Unfallregulierung: Vorschaden

Wird das Fahrzeug in einem vorgeschädigten Bereich erneut, deckungsgleich beschädigt und ist die Unfallursächlichkeit der geltend gemachten Schäden deshalb streitig, muss der Geschädigte darlegen und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit i.S.v. § 287 ZPO nachweisen, dass der geltend gemachte Schaden nach Art und Umfang insgesamt oder ein abgrenzbarer Teil hiervon auf das streitgegenständliche Unfallereignis zurückzuführen ist. Der Geschädigte muss grundsätzlich darlegen und ggf. nachweisen, welche eingrenzbaren Vorschäden an dem Fahrzeug vorhanden waren und durch welche konkreten Reparaturmaßnahmen diese zeitlich vor dem streitgegenständlichen Unfall fachgerecht beseitigt worden sind. Bei der Bemessung der klägerischen Substantiierungslast zu Art und Ausmaß des Vorschadens und zu Umfang und Güte der Vorschadensreparatur dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden; der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG darf nicht verletzt werden. Das Verschweigen von Vorschäden führt nicht zu einem Anspruchsausschluss nach § 242 BGB. Die Versagung nachweislich bestehender Ansprüche ist in dem gesetzlichen Regime des materiellen Bürgerlichen Rechts quasi als Nebenstrafe nicht vorgesehen.

OLG Hamm, Urt. v. 25.1.2022 – 9 U 46/21

Ein- und Aussteigen: Sorgfaltspflicht

Die Sorgfaltspflichten beim Ein- und Aussteigen richten sich In einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 und 2) nach § 1 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO. Kommt es beim Aussteigen eines Taxi-Fahrgastes zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, das die zulässige Geschwindigkeit erheblich überschreitet, tritt die Betriebsgefahr des vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht zurück.

LG Saarbrücken, Urt. v. 11.2.2022 – 13 S 135/21

Sachverständigengutachten: Ersatz von Sachverständigenkosten

Leitet sich das Grundhonorar des Schadengutachters aus der Schadenshöhe ab, ist der von dem Schadengutachter ermittelte Schadensaufwand nur dann maßgeblich, wenn er zutreffend ermittelt wurde. Hat der Schadengutachter den Schadensaufwand ohne Verschulden des Geschädigten unzutreffend ermittelt, lässt dies den Anspruch des Geschädigten auf Ersatz der Sachverständigenkosten regelmäßig nicht entfallen.

LG Saarbrücken, Urt. v. 11.2.2022 – 13 S 31/21

Einspruch gegen Versäumnisurteil: elektronisches Dokument

Seit dem 1.1.2022 ist die Erhebung eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil nur per Fax nicht mehr wirksam. Ein auf diese Weise eingereichter Einspruch ist nach § 341 ZPO zu verwerfen.

LG Köln, Urt. v. 22.2.2022 – 14 O 395/21

Fahrverbot: Zeitablauf

Der Warnungs- und Besinnungsfunktion des § 44 StGB bedarf es auch noch knapp zwei Jahre nach der Tatbegehung, wenn der Täter sein Fahrzeug in besonders schwerwiegender Weise im Straßenverkehr missbraucht hat.

OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 RVs 2/22

Geschwindigkeitsüberschreitung: Toleranzabzug beim Nachfahren

Bei der Geschwindigkeitsermittlung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tacho kann ein zu geringer Abstand durch eine die Mindestanforderungen weit übertreffende Länge der Messstrecke und durch einen großzügigen Toleranzabzug kompensiert werden.

KG, Beschl. v. 26.1.2022 – 3 Ws (B) 1/22

Geschwindigkeitsüberschreitung: Vorsatz

Der Umstand, dass einem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt ist, steht der Annahme von Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nicht voraus. Es genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren.

OLG Hamm, Beschl. v. 7.2.2022 – 5 RBs 12/22

Rotlichtverstoß: Verkehrsbedingter Halt nach Überfahren der Haltlinie

Geht das Fahren über die Haltlinie bei grünem Licht und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander über, weil es zwischen beiden Verkehrsvorgängen zu einem verkehrsbedingten Halt (z.B. infolge eines Fahrzeugstaus) vor der Lichtzeichenanlage kommt, so darf der Kraftfahrzeugführer nicht in den geschützten Bereich einfahren, wenn er diesen erst nach Rotlichtbeginn erreicht. Denn für ihn gilt ab dem Zeitpunkt des Umschaltens der Lichtzeichenanlage auf Rot das Haltgebot vor der Kreuzung, auch wenn er zuvor bei Grün die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat (vgl. BGH NStZ 1999, 512). Um dem Einzelfall bei dieser besonderen Verkehrssituation gerecht zu werden, bedarf es, auch unter Berücksichtigung der indiziellen Wirkung des Regelbeispiels des BKatV nach §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 3 Anlage 1 lfd. Nr. 132.1, der sorgfältigen Prüfung, ob der Kraftfahrzeugführer mit dem Einfahren in den Kreuzungsbereich bei Rotlicht seine Pflichten „grob“ i.S.d. § 25 Abs. 2 Satz 1 StVG verletzt hat (vgl. BGH a.a.O.).

KG, Beschl. v. 24.1.2022 – 3 Ws (B) 354/21

Rotlichtverstoß: Absehen vom Fahrverbot

Beim Rotlichtverstoß kann ein sof. Mietzieheffekt, der ggf. zum Absehen vom Fahrverbot führt, dann vorliegen, wenn der Betroffene zuerst ordnungsgemäß an der Lichtzeichenanlage anhält und erst anschließend infolge einer auf einem Wahrnehmungsfehler über die Lichtzeichenanlage und einer Unachtsamkeit, indem er sich durch die vor ihm fahrenden Fahrzeuge in die Kreuzung hineinziehen lässt, trotz fortdauernden Rotlichts in die Kreuzung einfährt.

OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.1.2022 – 3 Ss-OWi 41/22

Bezugnahme auf Lichtbild: In Messfoto eingeblendete Daten

Eine Bezugnahme auf ein Messfoto nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO im tatrichterlichen Urteil führt jedenfalls dann nicht dazu, dass auf der Abbildung eingeblendete Textfelder zum Inhalt der Urteilsurkunde werden, wenn dort eine größere Anzahl unterschiedlicher Daten abgedruckt ist.

BayObLG, Beschl. v. 31.1.2022 – 202 ObOWi 106/22

Berufungsverwerfung: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung macht eine Verhandlungsunfähigkeit auch dann nicht glaubhaft, wenn auf ihr der ICD10-Code Z 29.0 (Notwendigkeit der Isolierung als prophylaktische Maßnahme) eingetragen wurde. Es ist Sache des Gerichts, darüber zu entscheiden, wie es einem von dem Angeklagten ausgehenden Ansteckungsrisiko, dem durch die ärztlich für erforderlich gehaltene Isolierung vorgebeugt werden soll, begegnet.

OLG Hamm, Beschl. v. 22.2.2022 – 5 Ws 28/22

Wiedereinsetzung: Unterrichtung des Verteidigers von der Zustellung

Ein Angeklagter darf sich grundsätzlich und bei fehlenden gegenteiligen Anhaltspunkten darauf verlassen, dass ein Verteidiger von Entscheidungen gegen ihn unterrichtet wird und dieser die notwendigen Schritte dagegen einleiten wird.

LG Köln, Beschl. v. 10.3.2022 – 109 Qs 15/21

Entziehung der Fahrerlaubnis: Einmaliger Cannabiskonsum

Einmaliger Cannabiskonsum ist fahrerlaubnisrechtlich ohne Bedeutung, selbst wenn im Konsumzeitpunkt Zusatztatsachen i.S.d. Nr. 9.2.2. der Anlage 4 zur FeV vorlagen. Bei Vorliegen einer einfachen Aufmerksamkeitsstörung ist die Aufforderung, ein ärztliches Gutachten zur Fahreignung vorzulegen, grundsätzlich nur zulässig, wenn Verstöße gegen Verkehrsvorschriften bekannt geworden oder fahreignungsrelevante Ausfallerscheinungen aufgetreten sind. Diese zusätzlichen Tatsachen sind im Rahmen der Ermessensausübung zu würdigen.

VG München, Beschl. v. 24.1.2022 – M 19 S 21.5836

Vorprozessuale anwaltliche Zahlungsaufforderung: Geschäftsgebühr

Ob eine vorprozessuale anwaltliche Zahlungsaufforderung eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auslöst oder als der Vorbereitung der Klage dienende Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG zum Rechtszug gehört und daher mit der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG abgegolten ist, ist eine Frage der Art und des Umfangs des im Einzelfall erteilten Mandats.

BGH, Urt. v. 24.2.2022 – VII ZR 320/21

Sachverständigenkosten: Erstattungsfähigkeit

Private Ermittlungen sind in der Regel nicht notwendig. Der Betroffene/Angeklagte muss vielmehr die Möglichkeiten, gegebenenfalls Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen, grundsätzlich ausschöpfen, bevor private Sachverständigengutachten eingeholt werden. Eine Erstattungsfähigkeit kommt demgegenüber ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen/Angeklagten aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind, so dass insbesondere die Einholung eines Privatgutachtens im Interesse einer effektiven Verteidigung als angemessen und geboten erscheinen durfte. Die Kosten für ein privat eingeholtes Sachverständigengutachten sind nicht nach den Grundsätzen des JVEG zu erstatten. Diese können allerdings als Richtlinie herangezogen werden, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist. Durch ein anthropologisches Sachverständigengutachten wird kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet betroffen.

LG Oldenburg, Beschl. v. 28.3.2022 – 5 Qs 108/20

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