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Wiederaufnahme des Bußgeldverfahrens: Neue Tatsachen oder Beweismittel

1. Tatsachen oder Beweismittel sind nicht neu, wenn sie vom Betroffenen benannt worden sind, aber vom Gericht nicht berücksichtigt bzw. erhoben werden können, weil der Betroffene dies durch sein unentschuldigtes Nichterscheinen in der Hauptverhandlung verhindert und daher ein Verwerfungsurteil ergeht.

2. Legt der Betroffene eine Bescheinigung des Arbeitgebers vor, wonach er sich zur Tatzeit im Dienst befunden habe, erfordert die erweiterte Darlegungslast im Wiederaufnahmeverfahren die Darlegung der Gründe, aus denen er sich deshalb nicht am Tatort aufgehalten habe kann.

(Leitsätze des Verfassers)

LG Trier, Beschl. v. 20.5.2020 – 1 Qs 34/20

I. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer hat gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt, durch den gegen ihn wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 160 EUR sowie ein Fahrverbot verhängt worden war. Schriftlich über seine Verteidiger hat der Verurteilte seine Fahrereigenschaft bestritten und vorgetragen, Fahrer sei Herr … gewesen. Ferner hätten sich im Auto die Zeugen … sowie die Ehefrau des Beschwerdeführers befunden, die das bestätigen könnten. Das AG hat daraufhin die Zeugen geladen. Zur Hauptverhandlung erschien lediglich der Verteidiger, der Betroffene nicht. Das AG hat den Einspruch des Betroffenen durch Urteil verworfen. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist erfolglos geblieben. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde gegen das Verwerfungsurteil als unbegründet verworfen. Nunmehr hat der Verurteilte beantragt, das gegen ihn geführte Bußgeldverfahren wiederaufzunehmen und ihn freizusprechen. Neben den Zeugenaussagen liege eine Bescheinigung seiner Arbeitgeberin vor, dass er gemäß Auswertung der Einloggdaten seines elektronischen Chips zur Tatzeit im Dienst gewesen sei. Das AG hat den Antrag als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben.

II. Entscheidung

Es fehle an „neuen Tatsachen oder Beweismitteln“. Im Fall des § 359 Nr. 5 StPO (i.V.m. § 85 Abs. 1 OWiG) sei aufgrund des Urteils oder des sonstigen Akteninhalts die Neuheit der Tatsachen bzw. Beweismittel zu prüfen. Tatsachen seien nicht deshalb neu, weil sie in dem Urteil nicht erwähnt sind. Ergeben sie sich aus den Akten, so spreche das dafür, dass sie dem Gericht bekannt waren (KK-StPO/Schmidt, 8. Aufl. 2019, StPO § 368 Rn 8). Die Entscheidung über die Frage der Neuheit setze einen Vergleich voraus zwischen dem, was Gegenstand des ursprünglichen Bußgeldverfahrens war, und dem, was nun für das Wiederaufnahmeverfahren an Tatsachen und Beweismitteln vorliegt. Entscheidender Zeitpunkt, ab dem sich Neuheit ergeben kann, sei der Erlass des Urteils, soweit es in Rechtskraft erwächst. Bei Beschlüssen ohne vorangegangene Hauptverhandlung sowie bei Strafbefehlen sei der Akteninhalt entscheidender Anknüpfungspunkt, wobei auch erkennbar unberücksichtigte Akteninhalte als neu anzusehen seien. Gleiches gelte für Bußgeldbescheide. Neu seien solche Tatsachen, die bei der Überzeugungsbildung des erkennenden Gerichts nicht berücksichtigt wurden. Der Grund der Nichtberücksichtigung sei dabei grundsätzlich unerheblich. Es komme daher nicht darauf an, ob das Gericht die Tatsachen aus dem Akteninhalt hätte kennen und berücksichtigen müssen oder ob der Angeklagte die Tatsache zwar kannte, aber (ggf. sogar absichtlich) nicht vorgebracht hat. Es genüge nicht, dass eine Auseinandersetzung mit Beweisergebnissen im Urteil nicht stattgefunden hat (BeckOK StPO/Singelnstein, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 359 Rn 24–28).

Zwar sei bei Bußgeldbescheiden, die ohne Hauptverhandlung rechtskräftig werden, für die Frage der Neuheit grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheides maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt seien die benannten Beweismittel nicht bekannt gewesen. Vorliegend habe der Betroffene jedoch gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt, anschließend vor dem Einspruchstermin die Fahrereigenschaft bestritten und vom AG geladene Zeugen benannt. Die Zeugen seien zwar letztlich nicht gehört worden, dies jedoch nur deshalb nicht, da der Angeklagte unentschuldigt nicht erschienen ist. Für einen solchen Fall müsse für die Frage der Neuheit der Zeitpunkt der Verwerfung des Einspruchs maßgeblich sein. Anderenfalls könnten die Vorschriften über das zeitlich begrenzte Wiedereinsetzungsverfahren durch das zeitlich grundsätzlich unbegrenzte Wiederaufnahmeverfahren umgangen werden.

Damit bleibe für die Frage der Neuheit nur das Schreiben der Arbeitgeberin. Insoweit fehle es jedoch an der für ein Wiederaufnahmeverfahren erforderlichen Beweiseignung, denn der Umstand, dass der elektronische Chip des Verurteilten zur Tatzeit an der Arbeitsstelle eingeloggt war, bedeute nicht zwingend, dass der Verurteilte tatsächlich zur Tatzeit dort anwesend war. Zum einen bestehe die Möglichkeit, dass eine andere Person den Verurteilten mit dem Chip eingeloggt hat, um etwa eine unentschuldigte Abwesenheit zu vertuschen. Zum anderen könnte sich der Verurteilte auch nach dem Einloggen für eine gewisse Zeit wieder entfernt haben, ohne sich zwischendurch auszuloggen, oder regulär in dieser Zeit eine dienstliche Fahrt vorgenommen haben, denn auch in diesem Fall hätte sich der Verurteilte „im Dienst“ befunden. Eine Angabe über den Ort der Dienstausübung sei damit nicht verbunden. Bei einem Wachdienst sei es sogar üblich, dass die Arbeitgeber sich nicht ständig am Firmensitz aufhalten. Hier hätte der Betroffene näher darlegen müssen, warum aus dem Umstand, dass er sich im Dienst befand, gefolgert werden soll, dass er nicht am Tatort gewesen sein kann. Dies sei nicht geschehen.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Wiederaufnahme des Verfahrens wäre angesichts der Wertgrenze in § 85 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ohnehin nur wegen des angeordneten Fahrverbots zulässig gewesen. Auch ist die Wiederaufnahme zugunsten des Betroffenen wegen neuer Tatsachen oder neuer Beweismittel entgegen der Ansicht des LG nicht zeitlich unbegrenzt, sondern auf drei Jahre seit Rechtskraft der Bußgeldentscheidung beschränkt (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 OWiG). In der Sache ist dem LG beizupflichten. Da der Betroffene die Vernehmung der benannten und geladenen Zeugen durch sein eigenes Verhalten verhindert hat, ist hier der Zeitpunkt des Erlasses des Verwerfungsurteils maßgebend für die Frage der Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln. Anderenfalls könnte der Betroffene durch schlichtes unentschuldigtes Nichterscheinen eine Sachentscheidung nicht nur herauszögern oder gar verhindern (Stichwort: kurze Verjährungsfrist nach § 26 Abs. 3 StVG), sondern sich auch noch die Möglichkeit einer Wiederaufnahme schaffen, die faktisch einer nicht fristgebundenen Rechtsbeschwerde gleichkommen würde (vgl. LG Köln DAR 2017, 335 m. Anm. Engel). Dieses Rechtsinstitut dient zwar der materiellen Wahrheit, hat aber angesichts der formellen Rechts- oder Bestandskraft von Entscheidungen nur einen stark begrenzten Anwendungsbereich mit entsprechend engen Voraussetzungen. Bekannt und deshalb nicht neu sind daher Tatsachen und Beweismittel nicht nur, wenn sie in einer Entscheidung berücksichtigt wurden, sondern auch dann, wenn sie in einer vom Betroffenen durch sein Verhalten vereitelten Entscheidung hätten berücksichtigt werden können. Der Bewertung der mangelnden Beweiseignung der Arbeitgeberbescheinigung ist angesichts der erweiterten Darlegungslast (hierzu Amelung/Werning, in: Burhoff, Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil B Rn 1247) nichts hinzuzufügen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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