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Speicherung von Rohmessdaten im Saarland

1. In Bußgeldverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten ist eine stark zunehmende Tendenz von spezialisierten ortsansässigen wie auch überörtlichen (Online-)Verteidigerbüros zu verzeichnen, Behörden und Gerichte zu „überfluten“ mit ausufernden Schriftsätzen und Anträgen (auf Beiziehung diverser Daten und Unterlagen, Akteneinsicht in solche Unterlagen, weitere Beweiserhebungen, Aussetzung der Hauptverhandlung etc.), Widersprüchen zur Verwertung von Beweismitteln (z.B. den Messfotos) sowie Vorlage von sog. Sachverständigengutachten, womit die Ordnungsgemäßheit von Messverfahren und Messungen in Frage gestellt werden soll, dies selbst bei geringfügigen Geldbußen.

2. Durch die Vorlage solcher Schriftsätze und Anträge – in zahlreichen Verfahren immer wieder uniform gleichlautend abgefasst, teils auch mit unzutreffenden oder irreführenden Zitaten aus der Rechtsprechung – sowohl gegenüber der Verwaltungsbehörde (oft verbunden mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG) wie auch gegenüber dem Gericht (vor und in der Hauptverhandlung) wird faktisch ein regulärer Geschäftsbetrieb erschwert, insbesondere im Hinblick darauf, dass die Verfahren mit angemessenem Aufwand in angemessener Zeit angesichts kurzer Verjährungsfrist von absolut 2 Jahren – ab Tattag – erledigt werden müssen.

3. Diese „Strategie“ steht in diametralem Kontrast zu Sinn und Zweck des sog. standardisierten Messverfahrens nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – gerade für den Bereich der massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten mit vergleichsweise geringfügigen Sanktionen – und würde dazu führen, müsste all diesen Anträgen ernsthaft nachgegangen werden, dass Verkehrsverstöße nicht mehr effektiv ermittelt und sanktioniert werden könnten, was eine erhebliche Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit zur Folge hätte.

4. Die derart erwarteten Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit von Verfahren und den vermeintlich erforderlichen Grundrechteschutz von Betroffenen erscheinen angesichts weltweit wohl höchsten Standards der Messgeräte und Messverfahren überspannt entgegen der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zum Strafverfahren): Müsste das Gericht allen Anträgen des Angeklagten auf weitere Sachaufklärung nachgehen, gewänne der Angeklagte einen Einfluss auf Dauer und Umfang des Verfahrens, der über das zu seiner Verteidigung Gebotene hinausginge und dazu führen könnte, dass die rechtsstaatlich geforderte Beschleunigung des Strafverfahrens ernstlich gefährdet wäre (BVerfG, Kammerbeschluss vom 6.8.2003 – 2 BvR 1071/03).

5. Hier könnte ein Einschreiten des Gesetzgebers für Klarheit sorgen, durch unmissverständliche Richtlinien festzuschreiben, welcher Daten und Dokumente es zur Ermittlung und Sanktionierung von Verkehrsverstößen bedarf, um einer uneinheitlichen Handhabung, wie sie in der Praxis vorkommt, entgegenzuwirken.

(Leitsätze des Gerichts)

AG St. Ingbert, Urt. v. 10.11.2020 – 23 OWi 62 Js 1144/19 – 2176/20

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung – gemessen mit dem Messgerät LEIVTEC XV 3 – verurteilt.

II. Entscheidung

Der Umstand, dass bei dem eingesetzten Messgerät sog. Rohmessdaten gelöscht/nicht gespeichert werden, führe nicht zu einem Verwertungsverbot betreffend Messung und Messdaten. Die Entscheidung des VerfGH Saarland (NJW 2019, 2456 m. krit. Anm. Krumm = NZV 2019, 414 m. krit. Anm. Krenberger = DAR 2019, 500 m. Anm. Gratz = zfs 2019, 527 = StRR 8/2019, 28/VRR 8/2019, 11 [jew. zust. DeutscherPeuker NZV 2019, 443 [abl.]; Mysegades NZV 2020, 119 [zust.]) betreffend eine Geschwindigkeitsmessung mit einem anderen Gerätetyp (Traffistar S 350), bei welchem Rohmessdaten gelöscht/nicht gespeichert werden, stehe nicht entgegen. Die vom erkennenden Gericht nach Urteil des VerfGH zunächst vertretene Auffassung (Beschl. v. 29.8.2019 – 25 OWi 1936/19, juris) werde nicht mehr aufrechterhalten. Diese Auffassung sei bedingt gewesen durch die nach dem Urteil weit verbreitete Rechtsunklarheit und Rechtsunsicherheit aufgrund im Urteil nicht klar differenzierter Verwendung der Begriffe „Verifizierung“ und „Plausibilisierung“ einer Messung. Nachdem aber nun das OLG Saarbrücken (Beschl. v. 30.8.2019 – Ss Bs 46/2019, 44/19 OWi, burhoff.de), in dem in der Sache nicht entschieden, sondern das Verfahren betreffend eine Messung mit dem Messgerät XV 3 der Fa. Leivtec eingestellt wurde, dem erkennenden Gericht letztlich aufgegeben habe, in künftigen Fällen zu überprüfen, ob ein nach dem Urteil des VerfGH folgendes Verwertungsverbot anzunehmen ist wegen Löschung/Nichtspeicherung solcher Daten, bedürfe es einer differenzierenden Betrachtung – entgegen Zweckrichtung des standardisierten Messverfahrens – und Auslegung des Urteils betreffend der Intention des Verwertungsverbots. Der VerfGH stelle in seinem Urteil die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens nicht in Frage, ergänze sie aber um ein aus der Verfassung des Saarlandes abgeleitetes Grundrecht auf wirksame Verteidigung, welches bei Nichtspeicherung sämtlicher den Messwert bildendender Daten verletzt sein könne. Die fehlende Datenspeicherung stelle nur dann keine Beschränkung der Verteidigung dar, wenn die Rohmessdaten ungeeignet wären, eine nachträgliche Plausibilisierung des Messergebnisses zu erlauben. Dies sei selbst dann nicht der Fall, wenn in Unkenntnis der Algorithmen nur über die Auswertung einer Mehrzahl von Messungen ein Modell entwickelt werden könne, das die Plausibilisierung auch der konkreten Messung erlaube. Dabei gehe es letztlich um den aufwändigen Versuch einer Rekonstruktion eines komplexen Geschehensablaufes und seiner physikalischen Erfassung, der zwar nicht positiv zu einer „höheren Richtigkeit“ einer Geschwindigkeitsmessung führe, wohl aber gewissermaßen falsifizierend Plausibilitätseinschätzungen erlaube. Bei dem hier verwendeten Messgerät Leivtec XV 3 seien zwei Arten der Plausibilisierung ohne Rückgriff auf sämtliche in die Messwertbildung eingehenden Daten möglich, nämlich durch Weg-Zeit-Berechnung (vgl. Leivtec XV 3, Geschwindigkeitsüberwachungsgerät, Beschreibung des Messverfahrens, Stand 3.3.2015, 13 ff.) sowie durch Photogrammetrie (vgl. Leivtec XV 3, a.a.O., 19 ff.). Beide Plausibilisierungsverfahren könnten – wie die Gerichtspraxis zeigt – durch Sachverständige ohne weiteren Aufwand und ohne Rückgriff auf nicht zur Verfügung stehende Algorithmen durchgeführt werden und bedürfen keiner Erstellung eines Modells, welches wohl auch nur besonders befähigte bzw. ausgebildete Sachverständige erstellen könnten. Der Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens sei daher auf diesem Hintergrund als zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich i.S.d. § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt worden. Hier führt das AG wie in den Leitsätzen dargestellt näher aus.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Dem Urteil ist deutlich die Frustration über den nervenden Verteidiger anzumerken und es wird versucht, aus einem Beschluss des OLG Saarbrücken einen Hebel zur Verurteilung zu ziehen (aktuelle Rechtsprechung zu den Grundlagen des standardisierten Messverfahrens bei Deutscher VRR 11/2020, 4). Zusätzlicher Arbeitsaufwand ist aber kein hinreichender Grund, um Verteidigungsrechte einzuschränken. Ob die im Urteil genannten Erkenntnismöglichkeiten bei diesem Messgerät technisch tatsächlich bestehen, ist ebenso irrelevant wie der Versuch, zu dem besagten Zweck zwischen Verifizierung und Plausibilisierung zu unterscheiden. Der VerfGH Saarland führt in seinem Urteil (a.a.O., Rn 115 ff.) selbst aus, eine abstrakte große Verlässlichkeit genüge ebenso wenig wie eine schlichte Weg-Zeit-Berechnung. Der zitierte Beschluss des OLG Saarbrücken baut zudem ausdrücklich auf dem VerfGH Saarland auf und verlangt die Feststellung, ob das Messgerät die Rohmessdaten speichert oder nicht: „Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, dass eine Verfassungsbeschwerde des Betroffenen zum Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte, wenn auch der Senat die Frage, ob auch das Geschwindigkeitsmessgerät Leivtec XV3 keine Rohmessdaten speichert, offen ließe…“. Den hier beschrittenen Weg gibt das OLG gerade nicht vor, sondern weist ausdrücklich auf die Bindungswirkung des Urteils des VerfGH Saarland hin. Das AG will sich hier mit einer fadenscheinigen Begründung aus der Bindung an das Urteil seines VerfGH schleichen. Das OVG Saarlouis ist da verfassungstreuer (zur Geschwindigkeitsmessung als Grundlage einer Fahrtenbuchauflage NJW 2020, 1537 = VRR 5/2020, 25 [Deutscher] gegen die Vorinstanz VG Saarlouis VRR 4/2020, 23 [Deutscher]).

2. Vgl. jetzt aber BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 ff. und dazu schon BayObLG VRR 1/2021, 14 [beide in dieser Ausgabe].

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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